MC Leonardo im Gespräch über die Zukunft der brasilianischen Protestbewegung

»Der Riese ist nicht erwacht«

In Rio de Janeiro fand noch vor kurzem die größte Demonstration der Stadtgeschichte statt, nun wird die Stadt von den gut zwei Millionen Besuchern des katholischen Weltjugendtags okkupiert. Auf den an Lichtmasten festgemachten Transparenten stehen frohe Botschaften statt politischer Forderungen. Ist der »brasilianische Frühling« etwa schon vorbei? Oder wird die Protestbewegung wiederauferstehen, vielleicht sogar vor den Augen von Papst Franziskus? Der Musiker MC Leonardo beteiligt sich ungern an solchen Spekulationen. Viel wichtiger ist es dem Mitbegründer des »Vereins von Funk-Profis und -Liebhabern« (Apafunk), der seine bassige Stimme sowohl auf Jams als auch auf Kundgebungen dröhnen lässt, kritisch Rückschau zu halten. Baile Funk ist eine Form des HipHop, der in den neunziger Jahren vor allem in den Favelas populär wurde. Jungle World sprach mit MC Leonardo, der in Rocinha, einer der größten Favelas der Stadt, lebt, über das Verhältnis der Protestbewegung zu den Forderungen der Bewohner der bairros.

In den vergangenen Wochen war viel von einem »brasilianischen Frühling« die Rede. Ist der auch in den Favelas angekommen?
Nein, der Frühling ist nicht bei uns angekommen. Die großen Demonstrationen waren eine gänzlich atypische Situation für Brasilien und hatten zunächst auch nicht viel mit der Entwicklung hier zu tun. Die Kontaktaufnahme verlief schwierig, da viele politische Aktivisten in den Favelas entweder vom Staat kooptiert oder kriminalisiert werden. Außerdem ist die politische Kultur eine andere. In der Favela hechelt oft jeder für sich seinen Rechten hinterher, anstatt Rechte, die uns allen zustehen, gemeinsam zu verteidigen.
Die Proteste auf der Straße haben nachgelassen. Folgt dem viel beschworenen »politischen ­Erwachen« der Bevölkerung jetzt schon wieder eine Zeit der Stagnation?
Am Tag der größten Proteste waren in Brasilien gut zwei Millionen Menschen auf der Straße, doch insgesamt leben 200 Millionen hier. Der sogenannte Riese ist nicht erwacht, er ist eher aus einem Koma hochgeschreckt und ringt jetzt benommen nach Orientierung. Von einem Aufwachen würde ich nur sprechen, wenn das Kasino dichtgemacht wird, in das nicht transnationale Unternehmen, sondern vor allem brasilianische Politiker das Land verwandelt haben. Nur dann haben alternative Wachstumsprogramme eine Chance, an deren Planung auch die lokale Bevölkerung direkt beteiligt ist. Nur dann werden auch Bewohner der Favelas aufwachen und aktiv werden.
Dennoch behaupten viele Beobachter der jüngsten Demonstrationen, dass es sich nicht um reine Events der Mittelschicht gehandelt habe, wie bei großen Protesten in den achtziger und neunziger Jahren. In sozialen Netzwerken organisierten sich zum Beispiel Bewohner der Favelas Complexo do Alemão, Maré, Rocinha und Vidigal, um gemeinsam an Kundgebungen und Demonstrationen teilzunehmen.
Aber Präsenz und Teilhabe sind verschiedene Sachen. Vielfach waren auf den Demonstrationen beispielsweise Transparente zu sehen, auf denen aufgerufen wurde, eine komplizierte Verfassungsreform abzubrechen. Ein Thema, das so speziell und kompliziert war, dass auch viele Senatoren nicht blicken, worum es ging. Und daneben steht unvermittelt nun jemand aus der Rocinha, der auf seinem Schild die Ausbesserung eines Schlaglochs fordert. Beide Forderungen sind wichtig, doch sie berühren sich nicht. Die Verfassungsreform wurde inzwischen gecancelt, das Schlagloch gibt es immer noch.
Schlaglöcher ausbessern ist ein ebenso populäres wie selten erfülltes Wahlkampfversprechen. Auf der Straße, fand ich, war diesmal jedoch schon die Hoffnung zu spüren, dass sich einige Dinge wirklich verändern lassen.
Nein, so prätentiös ist niemand. Fakt ist, dass eine wirkliche Veränderung in Brasilien nur durch eine breite Mobilisierung der brasilianischen Bevölkerung zustande kommen wird, und Fakt ist auch, dass viele Menschen es hassen, zu demonstrieren, und Proteste verabscheuen. Ich war in den vergangenen Jahren Redner auf vielen Kundgebungen. Oft sind wir von Passanten beleidigt worden, unsere Anklage der Polizeigewalt in den Favelas ist als Verfolgungswahn verlacht worden. Es gibt ein gewaltiges Stigma, auch ­wegen der anhaltenden Kriminalisierung von Protesten, wie zum Beispiel der Landlosenbewegung. Unlängst wurden streikende Feuerwehrleute in Rio de Janeiro als Terroristen deklariert und in ein Hochsicherheitsgefängnis gesteckt. Wir reden hier von Lohnkämpfen.
Von solchen Streiks wurde im Gegensatz zu den großen Demonstrationen in den Medien jedoch nicht berichtet.
Ja, und das obwohl in Rio de Janeiro alle Medien des Landes präsent sind und der größte Medienkonzern, Rede Globo, hier seinen Sitz hat. Die arbeiten zum einen an der Kriminalisierung mit, tun soziale Konflikt in den Favelas als Episoden des zu bekämpfenden Drogenhandels ab. Andere Themen und Forderungen, wie die Redemo­kratisierung der Kultur und der Kommunikation, die Abschaffung der Militärpolizei, das Recht auf Bildung, werden einfach unterschlagen. Noch schlimmer als eine nicht informierte Bevölkerung ist eine falsch informierte Bevölkerung. Wir wären ohne Rede Globo wirklich besser dran.
Die kommerziellen Unternehmen, die in Brasilien Radio und Fernsehen kontrollieren, werden so schnell nicht verschwinden. Was ist die Alternative?
Da kommt der Funk ins Spiel. Ich nutze die Kultur, nutze die Musik, um über Meinungsfreiheit zu sprechen. Ich nutze die Mittel, die ich am besten beherrsche, um den Staat stärker in die Verantwortung zu nehmen. Ich will, dass sie nicht mehr nur die Polizei in die Favela schicken, sondern das Gesundheitsamt, die Umweltbehörde, das Baudezernat, das Bildungsministerium – mit der gleichen Wucht, mit der sie uns bisher bewaffnete Gesetzeshüter geschickt haben.
Also Stadtentwicklung statt Polizeieinsätze?
Moment, wir reden hier nicht von einzelnen Polizeieinsätzen. Die polizeilichen Befriedungseinheiten (UPP) sind Ausdruck eines spezifischen Projekts, nicht einer neuen Sicherheitspolitik, sondern gerade einer neuen Art von Stadtentwicklungspolitik. Wenn das Interesse wirklich die Sicherheit der Gesamtbevölkerung wäre, dann müssten die UPP im Norden Rios operieren, wo die meisten Menschen wohnen, und nicht im schicken Süden. Und wenn wirklich tiefgreifende Veränderungen gewollt sind, dann führt kein Weg an einer Legalisierung der Drogen vorbei. Denn deren klan­destiner Handel läuft auch bei Präsenz der UPP weiter. Er ist nur weniger sichtbar. Da auch die Polizei weiß, dass sie den Handel nicht unterbinden kann, konzentriert sie sich jetzt auf die ­Entwaffnung der Bevölkerung. Aber die Waffen sind nicht das dringendste Problem der Favelas. An der Ecke vor meinem Haus stehen seit mehr als 20 Jahren junge Männer mit Maschinengewehren. Der Unterschied ist, dass sie früher Bermudas trugen und heute Uniformen tragen. Der Unterschied ist, dass ich sie früher kannte und sie mich respektierten.
Früher war alles besser?
Nein, ich bin nicht für eine Rückkehr der Narkostrukturen. Die Herrschaft der Drogenhändler ging einher mit der Abwesenheit vieler staatlicher Institutionen. Ich bin nicht gegen den Staat, aber ich bin gegen das Konzept der UPP, das staatliche Präsenz mit Polizeipräsenz verwechselt. Ich bin auch nicht grundsätzlich gegen die Polizei. Aber ich will, dass die Ordnungshüter auf die gleiche Weise in der Rocinha patrouillieren, wie sie es im noblen Leblon tun. Stattdessen rollen die mit Totenköpfen bemalten Panzerwagen durch die Favelas. Das Problem ist, dass bei einem Großteil der Bevölkerung diese Art Befriedung und der anschließenden bewaffneten Kontrolle Beifall findet.
Du hast vorhin schon den Funk als ein kulturelles Medium erwähnt, diese gesellschaftlichen Kompromisse zu kritisieren. Inzwischen ist es in Rio jedoch nahezu unmöglich, im ­öffentlichen Raum einen Baile Funk, eine Funk-Party, zu organisieren, oder?
Es gibt auf der Straße keine Baile Funks in Rio mehr, nur noch in Clubs oder Konzerthallen. Das Erste, was die Polizei jeweils nach der Besetzung der Favelas tat, war den Besitzer des Soundsystems ausfindig zu machen, um das gesamte Equipment zu konfiszieren, da dieses angeblich mit Spenden der Drogenhändler finanziert worden sei. Und selbst wenn dem so wäre! Es gibt weiterhin Drogen und Waffen in den befriedeten ­Favelas. Das einzige, was es nicht mehr gibt, ist der Funk. Und warum? Weil es unser stärkstes kulturelles Kommunikationsmittel ist. Deshalb versuchen sie es zu zähmen oder zu zensieren.
Mit Apafunk habt ihr es zumindest geschafft, euch im öffentlichen Radio Nacional FM einen festen Sendeplatz zu erkämpfen. Ihr legt dort mehrmals wöchentlich auf, moderiert selbst die Show.
Ja, das ist ein kleiner Erfolg, aber trotzdem ist das, was wir hier gerade erleben, der absolute Tiefpunkt in der Geschichte des Funk. Ich bin heute 38 Jahre alt, bin auf und mit den Bailes groß ­geworden. Der Funk, die Leute in meinem Viertel, die Konzerte auf der Straße haben mich zu einem Künstler gemacht. So etwas ist heute unmöglich, dieser Raum für Jugendliche, sich zu entfalten, ist nicht mehr da. Die langfristigen Folgen dieser kulturellen Repression werden verheerend sein.