Lampedusa zwischen Flüchtlingskatastrophe und Tourismus

»One Love« auf der Festungsmauer

Auf Lampedusa treffen im Sommer zwei Welten aufeinander. Zwischen den Dramen der Boat People und der Normalität der Urlauber liegen oft nur ein paar Meter.

Lampedusas bester Sommer endete in Leichensäcken. Ein Grauen in Olivgrün und Dunkelblau, aufgebahrt an der Hafenmole. Ein Satz voller Verzweiflung brachte es auf den Punkt. »Sie hören nicht auf, neue Leichen zu bringen«, so sprach die Bürgermeisterin in ein Mikrophon, und in den internationalen Medien hallte er den ganzen Tag lang hundertfach wider. Giusi Nicolini hat recht: Es hört nicht auf mit den Leichen auf dieser Insel. Im Gegenteil. Es wird immer schlimmer.
Bis vor kurzem waren die Boote, in denen die Migranten von der anderen Seite des Mittelmeers kamen, so etwas wie das Symbol Lampedusas. Seit Donnerstag vergangener Woche sind es die Leichensäcke. Wenige Meter nur lagen zwischen ihnen und den Anlegestegen für die Urlauberboote. So ist das hier: Die Welt der Boat People, wo der Tod immer präsent ist und jeden Moment Wirklichkeit werden kann, und die der Touristen in ihrem mediterranen Idyll, sie kommen sich nicht nur nahe – sie überschneiden sich. Es war eine seltsame Form der Koexistenz in diesem Sommer. Natürlich kamen da Boote aus Libyen an, manchmal jeden Tag, manchmal fast zwei Wochen lang nicht. Die Rettungsschiffe fuhren zusammen mit der Küstenwache heraus, und meist brachten sie die Schiffbrüchigen zumindest sicher in den Hafen. Auf der Insel wehte ein neuer Wind: Ein offenes Geheimnis war es, dass die Bewohner über den Zaun des »Willkommenszentrums« kletterten, um sich draußen die Wartezeit zu vertreiben. Nachmittage am Strand, Abende auf der Amüsiermeile der Hauptstraße Via Roma, wenn auch passiv, sprich: ohne Geld.
Es gab Szenen wie diese: Cala Guitgia, die türkise Bucht nahe des Dorfs, eine halbe Stunde Fußweg vom »Willkommenszentrum« entfernt. Ein Mann um die 50 steht von seinem Strandlaken auf, drückt seiner Frau das Mobiltelefon in die Hand und hockt sich ein paar Meter weiter zu den Afrikanern in den Sand. Er zeigt auf die Gruppe, auf sich, auf die Kamera. Die Frau drückt auf den Auslöser. Schade, meint der Mann, dass sie nicht miteinander kommunizieren könnten. Er spricht kein Englisch, die Somalis kein Italienisch. Wie er zu den Migranten steht? Kurzes Nachdenken. Sympathie, sagt er, habe er für sie, und legt sich wieder hin.
Spätsommer, Mitte September fast schon, und noch immer platzt Lampedusa, das kleine Stück Fels zwischen Nordafrika und Sizilien, aus allen Nähten. Alle paar Stunden setzt eine Maschine auf der Landebahn auf, die sich ganz im Süden quer über die Insel zieht. Am Wochenende sind es noch deutlich mehr Touristen, die aus allen Ecken Italiens hier landen. »Wir kommen, weil es hier schön ist«, sagt ein junges Paar aus Mailand. Und die Flüchtlinge? Klar, jeder in Italien weiß, was sich hier abspielt. Aber auf die Wahl des Urlaubsorts hat das keinen Einfluss.

Lampedusa ist kein Ballermann. Lampedusa hat Stil. Trash-Läden gibt es kaum, in den Schaufenstern hängen geschmackvolle Mode- und Geschenkartikel mit dem allgegenwärtigen Wappentier der Insel, der Schildkröte. Das neue archivo storico zeigt Filme über die Geschichte der Insel und Naturfotografien. Wer Lampedusa nur als Schauplatz der Tragödien kennt, kann überrascht sein von dieser Kulisse, die durchaus geeignet ist für einen unbesorgten Urlaub: tagsüber mit dem Boot raus zu den Grotten, Schnorcheln, Tauchen, Schildkröten und Delphine beobachten, abends in leichten weißen Textilien zum Schaulaufen auf die Via Roma.
In diesem Sommer gab es dort ein neues Element. Zwischen den schlendernden Paaren und Familien tauchten die bunten Trainingshosen der Boat Peole auf, glänzend in Rot, Grün und Schwarz, was die Kleiderkisten im »Willkommenszentrum« so hergaben. Meistens saßen sie auf den Bänken der Fußgängerzone unter den Laternen, stumme Beobachter des bunten Treibens. Tauschten leise ein paar Worte aus, dann zogen sie weiter. Vielleicht würde sich ja jemand finden, um mit seinem Ausweis ihre Dollars in Euro zu tauschen oder eine SIM-Karte zu kaufen.
Später, wenn die Touristen ihre Kinder ins Bett gebracht hatten, trat vor dem Club 13.5 eine Coverband auf. Ihr jamaikanischer Sänger, Raymond Wright, ist in Europa bekannt als Teil des Kölner Soundsystems Pow Pow Movement. Die Randfiguren der Inselnacht nannten ihn nur »Rastaman«. Gegen Ende seiner zweistündigen Show griff Rastaman, der auch einen Wohnsitz in Italien hat, jedes Mal zu ein paar Bob-Marley-Standards. »One love«, »No Woman No Cry«, »Buffalo Soldier« – diese Liga. Manchmal tanzten dann die Trainingsanzüge zwischen all den Urlaubern, wie einst Bob Marley mit rhythmisch hochgezogenen Oberschenkeln.
Gegen ein Uhr nachts beendet Rastaman auf der Via Roma seine Show. Etwa einen Kilometer Luftlinie entfernt durchbricht zu dieser Zeit ein Scheinwerfer das Schwarz der Nacht. Der Wind trägt die letzten Klänge von »One Love« herüber auf die Klippen, dann verschwinden sie im Rattern des Hubschraubermotors. Soeben ist drüben im Hafen ein Rettungsschiff der Küstenwache aufgebrochen, mit Blaulicht nimmt es Kurs nach Süden, Richtung Libyen. Weit draußen gibt ein zweites Blaulicht Signale. Im Morgengrauen wird es mit knapp 100 Schiffsbrüchigen zurückkehren.
Ein paar Meter weiter erinnert ein Monument namens »La Porta dell’Europa« an die Bootsflüchtlinge, die am südlichsten Punkt Europas den Kontinent ihrer Hoffnungen betreten. Tagsüber fotografieren sich davor die Urlauber. Just hier lief vor zwei Jahren ein libysches Schiff mit 500 Migranten auf Grund, keine 100 Meter vor der Küste. Passagiere sprangen in Panik ins Wasser, die angerückten Helfer im Hafen waren völlig unvorbereitet. Auf den unwegbaren Felsen spielten sich dramatische Szenen ab: Dehydrierte Boat People stolperten durch die Nacht, viele verletzt, ohne eine Ahnung zu haben, wo sie sich befanden. Drei Leichen wurden später unter dem Wrack geborgen.

2011 war das, im Jahr, als der Tourismus auf der Insel einbrach. In Tunesien, 130 Kilometer südlich, begann der sogenannte Arabische Frühling und setzte sich dann in Libyen, dessen Küste etwa doppelt so weit entfernt ist, blutig fort. Die Ankünfte der Bootsflüchtlinge auf Lampedusa waren ein Spiegelbild: die erste Welle aus Tunesien, die zweite aus Libyen, insgesamt waren es mehr als 50 000. Mehrere, die in Libyen aufbrachen, erzählten, sie seien von den Schergen Muammar al-Gaddafis mit vorgehaltener Waffe auf die Boote gebracht worden. Die Überfahrt, die gegenwärtig rund 1 000 Euro kostet, war damals gratis.
In diesem Jahr erholte sich der Tourismus auf der Insel, und nicht nur das: Er liegt sogar 30 Prozent über den Werten von 2010. Dabei schickten sich die Zahlen der Migranten bereits im September an, die 10 000 vom vorigen Jahr zu überspringen. Wer sollte besser über den neuen Boom dieser Insel erzählen können als die Bürgermeisterin, zumal Giusi Nicolini, eine ehemalige Kommunistin, die heute der Demokratischen Partei nahesteht, auch auf Lampedusa aufgewachsen ist? Um sie zu treffen, muss man runter aus dem Dorf ans Wasser, und das heißt: die Symbole austauschen. Weg von dem Schildkröten-Kult der Via Roma, hin zu den Booten.
Gegenüber, neben dem sandigen Fußballplatz der Insel, türmen sich auf mehr als 1 000 Quadratmetern die Schiffswracks der vergangenen Jahre: aufgerissene Rümpfe, löchrige Decks und Relings, die in grotesken Winkeln in alle Richtungen weisen. Gähnende Krater, wo einst Motorenräume waren, an Bord arabische Schriftzeichen und die Zeugnisse der großen, gefährlichen Überfahrt: Wasserflaschen, Schuhe, schimmlige Klamotten und Decken. Zwischen den Wracks liegen stapelweise herausgebrochene Planken. Es ist ein Schiffsfriedhof in pittoreskem Himmelblau und Weiß, Trümmer in Postkartenfarben.
Giusi Nicolini, 50, ist eine elegante Erscheinung. Sie spricht gerne davon, die Bootsflüchtlinge zu einem Teil der Inselgemeinschaft zu machen, und dass man sie genauso willkommen heißen müsse wie die Urlauber. Giusi, wie sie jeder hier nennt, warnt seit ihrem Antreten vehement vor den tödlichen Folgen der Festung Europa. Ändern will sie auch die Rhetorik und nicht wie viele Politiker und Medien von einer »Invasion« der Bootsflüchtlinge sprechen. Was durchaus auch damit zusammenhängt, dass Urlauber nicht auf eine Insel wollten, die sie sich »wie ein großes Lager« vorstellten.
Zwei Faktoren sieht die Bürgermeisterin hinter dem Touristenboom: Zunächst wählte die Website Trip Advisor den Strand der nahen Isola dei Conigli (Kanincheninsel) zum schönsten der Welt. Und dann kam im Juli der Papst zu Besuch, legte vom Boot aus einen Kranz zum Gedenken an die toten Boat People aufs Meer und hielt hier, auf dem Sportplatz am Gemeindehaus, eine Ansprache vor 10 000 Menschen. Franziskus’ Besuch, das sagen viele auf der Insel, brachte Lampedusa den Tourismus zurück.
Dazu stieß er auch eine Debatte an: Viel deutlicher als die meisten Politiker prangerte der Papst die Tragödie an Europas Außengrenze an. In den Medien blieb das Thema den ganzen Sommer präsent. Auf der Insel war sein Einfluss so groß, dass die Lampedusani eine Weile seinem Beispiel folgten und von »Migranten« redeten statt von »Klandestinen«. Inzwischen sind sie zum alten Sprachgebrauch zurückgekehrt, doch überall auf der Insel hängen noch diese Poster: »Grazie Papa Fran­cesco: Lampedusa Ti Ama«.
Zum katholischen Kernland gehört Lampedusa ohne Zweifel. Andererseits erinnert die Architektur der Insel, die Flachdächer und Bögen der ocker- und roséfarbenen Häuser, an den nahen Maghreb. Und auf den Aushängen der Restaurants ist nur ein Gericht ähnlich häufig vertreten wie Pizza: Couscous. Giusi Nicolini zieht aus dieser Lage ihren eigenen Schluss. Natürlich weiß sie, dass Lampedusa sich »einem politischen Problem« gegenüber sieht, das man alleine nicht lösen könne. Und doch gehöre es zur Seele ihrer Insel, Menschen aus Seenot zu retten und Erste Hilfe zu leisten.
Gelbliches Licht leuchtet in dieser Nacht den Alten Hafen aus. Zwei Ambulanzwagen stehen beim Anleger bereit, samt fahrbarer Betten. Vom Meer her streift ein Scheinwerfer über die Hafeneinfahrt. Kurz nach zwei ist es, als der Kreuzer der Guardia Costiera festmacht. Am Bug stehen dicht gedrängt gut 200 Passagiere, im T-Shirt, Hemd oder mit nacktem Oberkörper. Die Stille ist allumfassend, kein Geräusch kommt von Bord. Erschöpfung und Strapazen haben ihren Weg in die Gesichter gefunden. Niemand bricht in Jubel aus darüber, nun endlich europäischen Boden zu betreten.
Als Erstes trägt ein Sanitäter einen kleinen Jungen von zwei Jahren die Brücke hinunter. Dann folgt seine Mutter, roter Umhang, helles Kopftuch, die auf einem der fahrbaren Betten zum Krankenwagen gebracht wird. Helfer, die sich mit weißem Mundschutz vor Seuchen schützen wollen, zählen die Migranten, die mit staksigen Schritten die Brücke verlassen. »34, 35, 36.« Ansonsten ist die Szenerie wortlos, etwas wie Andacht hängt darüber. Einige Frauen kommen barfuß, andere tragen Babys, eines ist in Goldfolie eingewickelt. »77, 78, 79, 80.« Der erste Bus bricht zum »Willkommenszentrum« auf. Dort wird es in dieser Nacht voll.

Geduldig warten die geretteten Boat People auf die Rückkehr des Busses. Ein Nigerianer wird am nächsten Abend erzählen, er sei »glücklich und sehr aufgeregt« gewesen, als er seinen Fuß auf den Boden Europas gesetzt habe. Dass damit auch die Zeit der Warteschlangen angebrochen ist, kann noch niemand wissen. Ältere Inselbewohnerinnen schauen mit betretenen Minen zu und murmeln etwas über bambini, die Kleinkinder. Wortlos beobachtet ein tätowiertes Touristenpaar um die 30 die Szenerie. Die Frau kämpft mit den Tränen. Als sich der Bus wieder füllt, tritt eine andere Urlauberin an die Scheibe und formt mit Daumen und Zeigefingern ein Herz.
Am nächsten Nachmittag sieht man Raymond Wright mit seiner geliehenen Vespa über die Insel brausen. Er hat ein paar Mittagsbiere getrunken und will sich gleich mit einer Runde Joggen in Form für seinen abendlichen Auftritt bringen. Vorher schaut er in Cala Guitgia vorbei, auf der Suche nach ein paar bunten Trainingshosen auf den Felsen am Rand des Strandes. »Ich suche die Migranten«, sagt er. »Ich will ihnen Geld geben, sie brauchen wirklich Hilfe.« In der Nacht wird Rastaman wieder auf der Bühne stehen, der singende Mittelpunkt der feiernden Via Roma. Die, die er nun sucht, werden dann wieder für ein paar Minuten teilnehmen am fröhlichen Treiben.
Eine neue Spätsommernacht auf Lampedusa hat begonnen. Wie immer in diesen Tagen haben sich ein paar Nigerianer und Eritreer auf den Bänken des Kirchplatzes versammelt. Aus den umliegenden Häusern hängen violette Fahnen von den Fenstern im ersten Stock. »Maria voll der Gnade/Der Herr sei mit Dir/Mutter Gottes, bitte für uns Sünder/Jetzt und in der Stunde unseres Todes.« Aus einer Bar an der Ecke tönt eine andere Litanei. »Rock me Amadeus« erklingt da, dann folgt »Der Kommissar«.
Derweil erzählen die Nigerianer auf ihrer Bank, dass sie eigentlich in Libyen arbeiten wollten. Doch das Land, unter Gaddafi schon schlimm, sei inzwischen für schwarze Menschen nicht mehr auszuhalten, sagt Monday. Der lange Mittdreißiger, der in seinem grünen Trainingsanzug aussieht wie ein Mitglied der »Super Eagles«, des nigerianischen Fussballteams, war mehr als vier Jahre in Libyen. Keiner hier, der nicht über Misshandlungen durch die Polizei berichtet und auf der anderen Seite des Mittelmeeres nicht bedroht oder beraubt wurde. In der Bar dringt man weiter in die Achtziger vor. Sabrina Salerno trällert »Boys, Boys, Boys«.
Es war ein bizarrer Sommer auf Lampedusa. Urlaub auf den Mauern der Festung Europa, Bootsausflüge und Schiffbruch, Schildkröten und Fran­cesco. Die Trainingshosen zwischen all den Strandkleidern, jede Nacht. Dinge, die nicht zusammenpassen. Die Illusion, es könnte anders sein, lief am Donnerstag morgen auf Grund. Ein paar hundert Meter nur vor der Kanincheninsel, dem schönsten Strand der Welt.