Der Ölpreis steigt, doch die russische Wirtschaft stagniert

Gebremste Talfahrt

Russische Medien berichten, mit der Wirtschaft im Land gehe es wieder bergauf. In Wirklichkeit folgt auf die Rezession der vergangenen Jahre derzeit eine Stagnation.

Aus den Fenstern des Moskauer World Trade Centers hat man einen guten Blick auf die Skyline der Stadt. Die beeindruckenden Wolkenkratzer der Moskwa City wurden allesamt im Verlauf der vergangenen neun Jahre errichtet. Jeder neue Wolkenkratzer ist auch gleich der neue höchste Wolkenkratzer Europas. Die Architektur erinnert an die britische Hauptstadt, es gibt aber einen großen Unterschied zwischen der City of London und der Moskwa City: In letzterer steht die Hälfte der Räume in den megalomanen Wolkenkratzern leer. Der Leerstand ist so akut, dass sich im 43. Stockwerk des 239 Meter hohen Imperia Towers das High Level Hostel befindet. Das ist kein Luxushotel, sondern ein stinknormales Hostel, in dem man sich für umgerechnet 17 Euro die Nacht ein großes Zimmer mit fünf schnarchenden Backpackern teilen kann. Damit steht die Moskwa City symbolisch für die russische Wirtschaft: nach außen imposant, aber innen herrscht gähnende Leere.
Bei einem Vortrag vor internationalen Journalisten im World Trade Center will der Moskauer Minister für internationale Beziehungen und wirtschaftliche Zusammenarbeit, Sergej Tscheremin, aber nicht über die Probleme der Stadt und des Landes reden. »Die Verschuldung der Stadt ist niedriger als die Berlins, und Moskau ist nach New York und Tokio der drittgrößte Wirtschaftsstandort der Welt«, sagt er. Woher diese Platzierung stammt, wird nicht deutlich. Dem US-amerikanischen Think Tank Brookings Institution zufolge liegt Moskau auf Rang zehn hinter Chicago.
Doch wer Tscheremin zuhört, könnte meinen, der Wirtschaft in Russland gehe es besser als je zuvor. Außerdem bereitet sich das Land auf die Austragung der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer 2018 vor, bei der man einem internationalen Publikum die Erfolge des Landes präsentieren will. Tscheremin erwähnt sogar, dass allein Moskau weit mehr erwirtschafte als die chronisch klamme Ukraine. Dass dies etwas mit den russischen Truppen zu tun haben könnte, die im Nachbarland Krieg führen, erwähnt er nicht. Man will ja kein Spielverderber sein, wenn es darum geht, sich vor inter­nationalen Journalisten und Investoren in ein gutes Licht zu rücken. Auf der von der Moskauer Stadtregierung veranstalteten Pressevorstellung fallen allgemein nicht viele kritische Worte. Moskau und Russland geht es wirtschaftlich gut, lautet die Botschaft, die in die Welt getragen werden soll.
In Wirklichkeit fand in den vergangenen Monaten ein harter Machtkampf um die russische Wirtschaftspolitik statt. Auf der einen Seite stehen die Befürworter eines keynesianischen Ansatzes, die fordern, der Staat solle die Wirtschaft mit Ausgaben stärken und Investitionen fördern. Auf der anderen Seite stehen die Marktgläubigen, die sich eine zu große Einmischung des Staates in die Wirtschaft verbitten. Mit der Ernennung des 34jährigen Managers Maxim Oreschkin zum russischen Wirtschaftsminister Ende November haben die Marktgläubigen den Machtkampf vorerst gewonnen. Es werden keine großen Konjunkturprogramme aufgelegt werden. 
Oreschkins Vorgänger Aleksej Uljukajew musste gehen, weil er zwei Millionen US-Dollar Schmiergeld angenommen haben soll. Da Korruption unter russischen Politikern aber so weit ­verbreitet ist wie Lederhosen beim Münchner Oktoberfest, darf davon ausgegangen werden, dass er aus politischen Gründen ausscheiden musste.
Während Präsident Wladimir Putin die russische Zivilgesellschaft in die Mangel nimmt – weswegen Russland vielen Rechten in Europa als Vorbild ­einer illiberalen Demokratie gilt –, überlässt er den Wirtschaftsliberalen die Verantwortung für die russische Ökonomie. Da Inflation vermieden werden soll wird nur langsam von dem Instrument der Leitzinssenkung Gebrauch gemacht, um die Investitionen zu erhöhen. Aufgrund der Sanktionen kam es in Russland zwar zu einem kleinen Boom des heimischen Agrarsektors, doch die Exportindustrie darbt trotz der schwachen Währung vor sich hin. Die geringen Auslandsinvestitionen deuten auf strukturelle Probleme und eine geringe Wettbewerbsfähigkeit der russischen Industrie hin und sind nicht nur das Ergebnis der Wirtschaftssanktionen gegen die Russische Föderation.
Eine drohende Inflation, die sich aus einer Leitzinssenkung ergeben könnte, soll um jeden Preis verhindert werden. Seit dem Zerfall der Sowjetunion kam es im Land bereits dreimal zu einer Hyperinflation, die Ersparnisse wertlos machte. Am schlimmsten war es in den Jahren 1991 bis 1996, als die russische Wirtschaftsleistung um 40 Prozent sank. Das waren auch die Jahre, in denen in Russland Grundlagen für eine Demokratie gelegt wurden, die wieder im Keim erstickt wurde. Viele Russinnen und Russen verbinden diese Jahre mit Kriminalität, unrechtmäßigen Privatisierungen und Hunger. Hierin liegt auch einer der Hauptgründe für die Beliebtheit Putins, der 1999 zunächst Ministerpräsident wurde. Er inszeniert sich als Garant wirtschaftlicher Stabi­lität. Neben der Kontrolle von Medien und Wirtschaft, dem repressiven Staatsapparat und den Betrügereien bei den Wahlen ist dieses Stabilitätsversprechen eine der Säulen von Putins Macht.
Dank steigender Ölpreise wird die russische Wirtschaft 2017 wieder wachsen, was nach Jahren der Rezession von regierungstreuen Medien als großer Erfolg verbucht wird. Allein im Jahr 2015 schrumpfte die russische Wirtschaft um 3,7 Prozent. Im Jahr 2016 waren es nochmal 0,5 bis 0,6 Prozent. Die Vorfreude auf 2017 hat wenig mit einer beeindruckenden Performance der russischen Wirtschaft zu tun, sondern vielmehr damit, dass die beiden vergangenen Jahre für die Menschen in der Russischen Föderation mit Schocks begangen. 2015 fing mit einem Absturz des Rubels an. 2016 begann mit einem extrem niedrigen Ölpreis von rund 35 US-Dollar pro Barrel.
Zwar teilte der russische Finanzminister, Anton Siluanow, mit, dass der Anteil des Gas- und Ölsektors am russischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) zwischen 2014 und 2016 von 9,6 auf 5,8 Prozent abgenommen habe, dennoch bleibt Russland von diesem Sektor abhängig. Die russische Exportwirtschaft ist wenig konkurrenzfähig und fürchtet zudem einen Anstieg des Rubelkurses, der Exporte ins Ausland verteuern würde. 
So sind die derzeitigen Freudenmeldungen aus Moskau eher ein Zeichen von Entspannung als von großen Hoffnungen in die Zukunft. Wirtschaftsminister Oreschkin sagte am Freitag vergangener Woche auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, dass er mit ­einem Wachstum von zwei Prozent für das Jahr 2017 rechne. Er betonte aber auch, dass dies nur eintreten werde, wenn der Ölpreis weiter steigt.

Dank steigender Ölpreise wird die russische Wirtschaft im Jahr 2017 wieder wachsen, was nach Jahren der Rezession von regierungs­treuen Medien als großer Erfolg verbucht wird.

Obwohl russische Politiker wie der Außenminister Sergej Lawrow sich in Lobeshymnen auf den neuen US-Präsidenten Donald Trump üben und von einer neuen Achse Washington-Moskau träumen, kann die Russische Föderation ihren Weltgeltungsanspruch ökonomisch nicht rechtfertigen. Laut dem Dezemberbericht zum weltweiten BIP des Internationalen Währungsfonds liegt Russland mit 1,33 Billionen US-Dollar im Jahr 2015 auf Platz 13 und damit noch hinter Australien. Russland hat ein deutlich niedrigeres BIP als die EU-Staaten Deutschland, das Vereinigte Königreich, Frankreich sowie Italien und liegt nur knapp vor dem krisengebeutelten Spanien.
Ohne die militärische Stärke des Landes, die auch eingesetzt wird, um schutzlose Nachbran zu drangsalieren, und ohne die großzügigen Überweisungen an rechtspopulistische Parteien in Europa wäre Russland kein global player mehr. Russland ist die zweitgrößte Militärmacht und der zweitgrößte Hersteller von Waffen weltweit ist, das allein rechtfertigt noch eine globale Führungsrolle des Landes. Deswegen ist Putin auch in der Lage, syrische Städte dem Erdboden gleich zu machen, aber nicht dazu, die eigene Wirtschaft wieder in Gang zu bekommen. Die Armen bleiben arm und die korrupte Oligarchie bereichert sich weiterhin auf Kosten der Allgemeinheit. Viele Russinnen und Russen sind damit recht zufrieden. Immerhin wird es nicht schlechter.

Anmerkung: Die Recherchereise fand auf ­Einladung der Moskauer Stadtregierung statt.