Volkmar Siguschs Buch »Sexualitäten«

Sex ohne Ich

Er gilt als der große Mann der Sexualforschung: Volkmar Sigusch begründete die deutsche Sexualmedizin, seine wissenschaftliche Arbeit brachte ihm den Ruf ein, einer der bedeutendsten Sexualforscher weltweit zu sein. In seinem jüngsten Buch entwirft er eine Kritische Theorie der Sexualität, die einen Schönheitsfehler hat: Sie ist keine.

Ziemlich genau 105 Jahre nachdem Iwan Bloch in seinem Buch »Das Sexualleben unserer Zeit« den Begriff der Sexualwissenschaft eingeführt hat und 107 Jahre nach Erscheinen der »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« von Sigmund Freud, verspricht Volkmar Siguschs »Sexualitäten« neue Einsichten. Seine »Kritische Theorie in 99 Fragmenten«, so der Untertitel, möchte weder psycho- noch soziologisieren, sondern auf der »Subjekthaftigkeit des Sexuellen« bestehen. »Das Subjekt ist aus weiten Bereichen der Philosophie verschwunden, das Individuum objektiv belanglos«, schreibt Sigusch im Vorwort, »doch die Sexualwissenschaft muss an allem festhalten, Subjekt, Individuum, Wunsch und Befriedigung, will sie nicht ins Leere fallen und es der Sexologie gleichtun, deren geistige Beweglichkeit schon lange der der Warenhauskataloge entspricht.« An der Unterscheidung zwischen dem »rätselhaft Sexuellen« und den »allgemeinen Sexualformen und dem kommerzialisierten Sex« hält Sigusch fest; als gesellschaftliche Form unterliege die Sexualität der Kritik, »weil Lust und Macht, Begierde und Gewalt, Liebe und Tausch, sexueller Vollzug und allgemeine Verstofflichung ineinanderliegen, wenn Individuum und Gesellschaft nicht nur im Kopf der Theoretiker zusammengebrannt sind, sondern tatsächlich«.
Sein Versuch, diesen Anspruch einzulösen, beginnt mit einer Kapitalismuskritik, die erstaunt feststellt, dass wirklich alles käuflich geworden sei; die zwar auf Marx rekurriert, aber ein das Kapital überschreitendes Moment nicht mehr gelten lässt. Folglich landet er bei Niklas Luhmann und einer Gesellschaftskritik, die heute so wohlfeil ist – alle sind gegen den Kapitalismus, aber niemand will ihn abschaffen –, dass Sigusch nur zwischen Klage und Resignation schwanken kann. Diese Form der Kritik, die eigentlich keine mehr sein will, weil man die jeder Kritik vorausgesetzte Intention im vorauseilenden Gehorsam kassiert, ist ubiquitär geworden. Das hat sogar etwas Gutes, Irrtum wird unmöglich. Was nicht ganz richtig ist, kann ebenso wenig ganz falsch sein. So verfährt auch Sigusch. Sein »Begriff der Gesellschaft« ist eine Aufzählung von Theorien und Theoretikern, die seiner Meinung nach das gesellschaftliche Verhängnis in seinen immer schlimmeren Erscheinungsformen beschreiben. Schlimmer könne es nicht mehr werden. »Jetzt kann sich nur noch der Kapitalismus selbst überwinden«, schreibt er – als sei das neu und nicht schon bei Marx, den er allerdings durch die Brille des Achtundsechziger-Marxismus wahrnimmt, nachzulesen. Warum also eine weitere Kritische Theorie? Von der Frankfurter Tradition der Sexualforschung, deren Interventionen einst halfen, das Leben der Angehörigen sexueller Minderheiten zu erleichtern, scheint nicht viel übrig geblieben zu sein.
Sigusch prägte einst das Schlagwort von den »Neosexualitäten«, eine deskriptive Formel, um die Vielfalt der permissiven Gesellschaft zu beschreiben. Er leitet sie von dem Schlagwort »Neoliberalismus« ab – mit all den Folgen für eine Kritische Theorie der »Sexualitäten«, die das auch schon für die Kritik des Kapitalismus hatte: Es handelte sich eigentlich um eine Kritik am Auslaufen staatlicher Regulierungen, nicht am Kapitalismus selbst. Für Sigusch bilden dementsprechend auch die Regulierungen der »Sexualitäten« – nur manchmal geht ihm ein autoritärer Singular durch – das Zentrum seiner Überlegungen: Neben Kapitalismus, Rassismus und Sexismus fügt er den »Objektiven«, wie er die Grundbedingungen gesellschaftlicher Verfasstheit nennt, noch die »Hylomatie« hinzu, einen Prozess, in dem »die Verstofflichung von Menschen mit der Entstofflichung von Dingen und die Entstofflichung von Menschen mit der Verstofflichung von Dingen einhergeht«. Dieses Theorem, das eine eigene Erörterung wert wäre, verschüttet Sigusch selbst unter einer Vielzahl von Aufzählungen, Ansichten und Samples.
Was folgt, ist ein Rundgang durch die Leidenschaften unserer Zeit. Jede sexuelle Vorliebe ist zur Identität geworden, eine Unterscheidung zwischen sexueller Praxis und individuellem Begehren – oder gar Triebschicksal! – wird ganz im Sinne der queer theory von Sigusch nicht mehr gemacht. Seine Dezentrierungsversuche landen nicht bei der negativen Dialektik, sondern in der Starre des postmodernen Positivismus.
Hätte Sigusch nicht gleich am Anfang eingeschränkt, als »weißer Mann aus Mitteleuropa« sei er davon überzeugt, »dass ›unsere‹ Sexualität als kulturell-gesellschaftliche Form nur in Europa und Nordamerika existiert«, könnte man dennoch dem Eindruck erliegen, es ginge dem verdienten Sexualwissenschaftler tatsächlich um eine »Kritische Sexualtheorie«. Trotz des poststrukturalistischen Sprachgebrauchs entwickelt Sigusch in einigen seiner Beschreibungen eine Konkretion, die sich über ihren theoretischen Kontext erhebt, etwa in den Abschnitten über Aids oder die Psychosexualität. Sie werden abgelöst von wenig durchdacht wirkenden Aneinanderreihungen von Zitaten und eigenen Theoremen. Wer sich allerdings auf der einen Seite darüber echauffieren kann, dass Straßenkinder in Bogotá als Müll bezeichnet und auch so behandelt werden, aber auf der anderen Seite seine eurozentristische Sicht auf die Sexualität nicht korrigieren will, dementiert sich selbst.
Die Verfolgung von Homo- und Transsexuellen in Kolumbien, wo es zu regelmäßigen Kampagnen kommt, oder anderswo ist ihm keine tiefere Reflexion wert, auch wenn er sich in guter Gesellschaft befinden würde, sie als Erbe des Kolonialismus zu bezeichnen. Wenn diese Selbstbeschränkung, über die »eigene« Kultur nicht hinauszudenken, einhergeht mit dem ständigen Geraune über die Globalisierung und der Klage über die Totalität der Verwertung, ist es geradezu lächerlich, noch die »Kulturen« einzuführen, die davon unberührt sein sollen. Dass es »Kulturen« in dieser angeblich globalisierten und vollkommen vom Finanzkapital verwalteten Welt gebe, die noch relevante kollektive Differenzen repräsentierten – dieser linke Selbstwiderspruch, der es ermöglicht, unter dem Deckmantel einer westlichen Selbstkritik die Verhältnisse im Rest der Welt der Gleichgültigkeit anheimzugeben, macht auch Siguschs Arbeit so vorhersehbar wie langweilig.
Gerade in der Sexualität, die in ihren Ausformungen doch immer die eine, nämlich je individuelle ist, ist der Kulturalismus schließlich am wenigsten überzeugend, scheint doch gerade in ihr noch Universalität auf – deshalb muss sie an dieser Stelle auch ganz besonders hartnäckig geleugnet werden. Die »Sexualitäten« scheinen im Gegensatz zu jenem Sexus, der weder Zeit noch Ort noch Kultur kennt, zu jenen westlichen Errungenschaften zu gehören, die sich auch ein kritischer Sexualwissenschaftler nicht nehmen lässt. Eine Kritische Theorie der Sexualität hätte sich mehr von ihrem Gegenstand leiten als von theoretischen Voraussetzungen einnehmen zu lassen und es so vermieden, sich von der Bewusstlosigkeit des aktuellen akademischen Mainstreams sogar um das schon einmal Gewusste zu bringen.

Volkmar Sigusch: Sexualitäten. Eine Kritische Theorie in 99 Fragmenten. Campus-Verlag, Frankfurt a. M. 2013, 626 Seiten, 39,90 Euro