Marx-Lesekreise

Lesen, bis der Kommunismus kommt

Seit Erscheinen der Erstausgabe von Karl Marx’ »Kapital« scheint niemand das Werk für sich allein gelesen zu haben. Eine kleine Geschichte der Lesekreise rund um das Grundbuch der Linken.

Wenn ich nicht mehr weiterweiß, gründ’ ich einen Arbeitskreis.« Oder eben einen Lesekreis. Die alte Maxime linker Zirkel, universitärer Asten und Gewerkschaftsgruppen hat im Laufe der Geschichte wenig an Aktualität eingebüßt. Nur ist es seit der Wiedervereinigung nicht mehr en vogue, die eigene Politgruppe »Arbeitskreis« zu nennen – das erinnert zu stark an die Achtundsechziger-Bewegung. Stattdessen spricht man wahlweise von »Meetings« oder »Initiativen« für oder gegen alles Mögliche. Lesekreise sind ebenfalls ein wenig aus der Mode gekommen. Heute schlägt man sich lieber allein durch. Doch wenn es einen Prototyp des Lesekreises gibt, dann im Zusammenhang mit dem Hauptwerk von Karl Marx, »Das Kapital«.

Seit es vor rund 150 Jahren erschien, haben sich zahllose Lesekreise um es bemüht. Das liegt daran, dass man Marx’ Werk ganz einfach nicht alleine lesen kann. Zumindest nicht ohne große Mühen. Ohne ein beträchtliches Wissen in Ökonomie und Philosophie, ohne beträchtliche Fremdsprachenkenntnisse ist es beinahe aussichtslos. Denn Marx schreibt sperrig.

»Wenn jemand behauptet, er habe ›Das Kapital‹ einfach mal so durchgelesen und verstanden, bin ich skeptisch«, sagt Ingo Stützle schmunzelnd. Er ist einer der heutigen Organisatoren von Lesekreisen zum »Kapital«. Er nennt sich selbst »Teamer«, das heißt, er moderiert die Lesekreise und steht bei der Lektüre hilfreich zur Seite. Und der 37jährige kommt dabei äußerst sympathisch rüber. Kein Vergleich zu den Leitern der Lesekreise in den achtziger und neunziger Jahren. Denn eines muss man wissen – ein »Kapital«-Lesekreis funktioniert anders als einer zur romantischen Literatur.

Vor allem bis 1989 galt die Marx-Lektüre beinahe als Vorstufe zum Klassenkampf. In Westdeutschland gelang es daher kaum, sich Marx’ Text eigenständig zu nähern. Die DDR war zu nahe, die Auseinandersetzung zwischen den Systemen tobte auch in den Lesekreisen. Für eine krtisch-theoretische Beschäftigung mit Marx musste man sich eher eine studentische oder gewerkschaftliche Gruppe suchen. In der Karl-Liebknecht-Schule der DKP war die Lektüre des »Kapitals« immer verbunden mit der Suche nach dem revolutionären Subjekt. Als die Arbeiterklasse jedoch immer weniger von marxistischer Theorie wissen wollte, gingen auch die Lehrer der Parteischule auf die Suche – und landeten wieder beim Proletariat.

Ein wenig DDR- und Sowjet-Romantik schwang in allen Seminaren bis in die neunziger Jahre mit. Und eine tiefe Verehrung für Marx, die ein wenig an Bibellesekreise erinnerte. Etwas undogmatischer ging es an den Universitäten zu. Doch auch dort tobte eine akademische Fehde über den Marxismus.

Während, verglichen mit heutigen Verhältnissen, viele Asten bis 1989 links dominiert waren, ging es mit der Aneignung der kritischen Theorie nach der Wende immer mehr bergab. Bis dato versuchte der Marxistische Studentenbund MSB Spartakus die Deutungshoheit über Marx zu verteidigen. In den Jahren nach 1989 verschwand Marx nach und nach fast vollständig aus den deutschen Hörsälen. In der untergehenden DDR konnte man sich die Marx-Engels-Werkausgabe (MEW) entweder günstig besorgen oder direkt aus dem Altpapier fischen.

»Ende der Neunziger war es an der FU Berlin zum ersten Mal nach fast 30 Jahren so, dass die Lesekreise zum ›Kapital‹ komplett einzuschlafen drohten«, erzählt Stützle. Es habe einfach niemanden mehr gegeben, der die Leitung von Lesekreisen hätte übernehmen können. »Die Jahrzehnte zuvor galt immer das Prinzip, dass sich aus den Lesekreisen zum ›Kapital‹ neue Teamer herauskristallisierten, die dann im nächsten Semester die Kurse angeboten haben. Und da kam dann auf einmal niemand mehr nach«, erinnert er sich. Die Beschäftigung mit Marx schien endgültig versiegt zu sein. Doch die Geschichte der Marx-Lesekreise folgt ihren eigenen Zyklen. Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert waren sie von Arbeiterbildungsvereinen angeboten worden, 1933 wurden die Nachfolger dieser Vereine endgültig zerschlagen und aufgelöst. Aber der Kapitalismus hat einen entscheidenden Vorteil, den Marx selbst bereits erkannte: Er ist krisenanfällig.

Und so kehrte Marx auch nach dem geschwundenen Interesse infolge des Zusammenbruchs der DDR mit Beginn des neuen Jahrtausends allmählich wieder in die Lesekreise zurück. Die Proteste gegen den WTO-Gipfel in Seattle 1999 und die großen Demonstrationen gegen den G8-Gipfel in Genua 2001 waren die ersten Reaktionen auf die Erfahrung, dass die Globalisierung ihr Freiheitsversprechen nicht eingelöst hatte. Der Kapitalismus wurde zum ersten Mal seit langem wieder auf breiter Basis in Frage gestellt. »Doch erst die Weltwirtschaftskrise 2008 hat zu dem Bewusstsein geführt, dass der Kapitalismus eben nicht das Ende der Geschichte ist, geschweige denn für immer wächst und mehr Wohlstand bringt«, sagt Stützle.

Dem Dietz-Verlag aus Berlin dürfte das Jahr 2008 denn auch in guter Erinnerung geblieben sein. Seit den vierziger Jahren waren hier die Werke von Marx und Engels erschienen. Die »Blauen Bände« der MEW sind auch vielen bekannt, die mit der darin entwickelten Kritik nicht einverstanden sind. Nach 1989 brachte der Dietz-Verlag weiterhin die MEW heraus, doch lange Jahre produzierte man in einer kleinen Auflage – zumeist Ladenhüter.

Das änderte sich 2008. »Das Kapital« war in jenem Jahr tatsächlich eine Zeitlang ausverkauft und musste nachgedruckt werden. »Seit 1946 ist ›Das Kapital‹ in einer Auflage von einer Million Stück gedruckt und verkauft worden«, berichtete damals Jörn Schütrumpf, Geschäftsführer des Dietz-Verlages. Der Verkauf sei immer in Zyklen verlaufen. »Verkauft sich Marx gut, geht es der Gesellschaft schlecht«, resümierte Schütrumpf. »Wenn er sich verkauft, dann weiß man, dass man vom Elend der anderen profitiert.« Die Nachfrage nach Lesekreisen stieg in dieser Zeit ebenfalls.

»Es gab einen großen Zulauf zu den Lesekreisen, zumal diese sich nun wirklich undogmatisch und ohne ideologische Grabenkämpfe trafen«, erinnert sich Stützle, der die Lesekreise nach seinem Studium nun im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung anbietet. »In erster Linie kommen Studenten oder Akademiker. Viele eint das Interesse, endlich mal selbst zu lesen, was Marx alles zugeschrieben wird. Eine politische Bewegung erwächst daraus nicht, aber einige politisieren sich auch über die Lektüre des ›Kapitals‹«, sagt Stützle. Über die Jahre sammelten sich bei Ingo Stützle und anderen »Teamern« unglaublich viele Folien und Papiere, die die Lektüre des »Kapitals« erleichtern sollen. »Die Hilfestellungen, Einführungen, Erläuterungen zum ›Kapital‹ sind so alt wie das Buch selbst«, so Stützle. Zusammen mit vier weiteren »Teamern« entwickelte er die Idee, die eigenen Folien, Notizen und Skizzen in einem eigenen Buch zusammenzufassen. »Polylux Marx« war geboren. Eine Fo­liensammlung, die die Lektüre des »Kapitals« erleichtern und den »Teamern« bei ihrer Arbeit helfen soll. Herausgekommen ist eine Sammlung, die nichts mehr gemein hat mit den grauen Einführungen aus dem Dietz-Verlag zu Zeiten der DDR.

Keine Spur von »Seine Ideen beseelen die Arbeiterklasse weltweit«, stattdessen hübsch designte Folien, die man mittels Power Point an die Wand werfen kann. Völlig entgegen dem ökonomischen Gesetz G-W-G’ kann man den kompletten Foliensatz kostenlos als PDF herunterladen. Da braucht man die gedruckte Fassung eigentlich nur noch als zusätzlichen Regalmeter. Die große Zeit der »Kapital«-Lesekreise war nach 2008 bald wieder vorbei. Der blöde Kapitalismus hat sich zu schnell berappelt und damit schwand auch das Interesse an Marx.

Zwar machte die linke Studentenorganisation »Die Linke/SDS« den Versuch, in mehr als 30 Städten Lesekreise zu etablieren, nach der anfänglichen Euphorie verschwanden viele davon jedoch bald wieder. Und doch blieb als Krisennachwirkung ein größeres Interesse zurück als in den Jahren nach der Wende. »Heute fangen rund 100 Leute in Berlin pro Jahr mit einem ›Kapital‹-Lesekreis bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung an. Rund die Hälfte bleiben dabei. Und 20 bis 30 von ihnen machen im darauffolgenden Jahr mit dem zweiten Band weiter«, erzählt Stützle. Allen Unkenrufen zum Trotz scheint Marx nicht totzukriegen zu sein. Und so wird es wohl »Kapi­tal«-Lesekreise bis zum Ende des Kapitalismus geben.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lesen sie noch heute.