Der Film »Nymphomaniac Volume I«

Provozierend depressiv

Lars von Triers »Nymphomaniac Volume I« ist eine Milieustudie auf dem Feld von Schuld und Sühne.

Lange ist es dunkel, dann brüllt uns Rammstein an: »Ich fühl dich« – und so weiter. Ohne Keyboard wär’s okay, aber Rammstein gelten ja nicht umsonst als Mädchenband, höhö. Wir sind drin in vielen Klischees – und harren ihrer Widerlegung. Lars von Triers neuer Film »Nymphomaniac« hat angefangen.
Es ist der erste Teil, am 3. April folgt der zweite, der Regisseur hat weitere angekündigt. Das bisher insgesamt vier Stunden lange Werk ist gegliedert in übersichtliche Kapitel. Kindheit, Jugend, erste Liebe. Die Darstellung ist ziemlich explicit. Stellan Skarsgård, Shia LaBeouf, Charlotte Gainsbourg, Stacy Martin heißen die Stars. Für die Pornoszenen wurden entsprechende Darsteller gecastet. Das Starensemble rannte nackt durchs Set. Die Geschlechtsorgane wurden später herausgeschnitten, die von den Profis reinkopiert. Deren Restkörper wiederum auch wieder gelöscht und die Hollywoodgrößen eingefügt. So werden die Produktionsbedingungen im Medium Kino gleich mit verhandelt: Es gibt kein Copyright am eigenen Bild; der Fließband-Meister, der Regisseur, verfährt nach Belieben mit dem Material. Manche Figuren tragen nur Buchstaben als Namen. Das nackte Wesen hat kein Recht auf Integrität. Ein Film wie Frankenstein; Drehbuch: Kafka, Houellebecq, Hustler-Redaktion.
Aber wer weiß, was überhaupt davon übrigbleibt, in der FSK-16-Kinofassung gibt es wahrscheinlich Sex ohne Ficken. Unsereins zeigt man ja die Hardcore-Berlinale-Live-Version, die immerhin als DVD erhältlich sein soll.
Nun, während Rammstein ungeschnitten weiterraunen, sieht man einen etwas ergrauten Herren namens Seligman (Skarsgård) die zusammengeschlagene Mittvierzigerin Joe (Gainsbourg) im regendusteren Hinterhof aufsammeln. Total beengt, Mauern bewachen Mauern. Bei Seligman zu Haus: undefinierbares Grau-Braun. Das triste Ambiente wird ihr Leben umso bunter zur Geltung bringen. Klaustrophobe Kulissen sind: winzige Zimmer, Zugabteile, Abstellräume.
Joe ist, man hat es in der heutigen Zeit der Pornoportal-Streaming-Abmahnungen beinahe schon gedacht: sexsüchtig. Diese recht moderne Krankheit, die in Filmen von 50plus-Mittelstands-Regisseuren vor allem junge, dünne, schöne Frauen überfällt, generiert Gesprächsbedarf.
Der einsame Seligman wird zum Ohrenzeugen von Joes Schandtaten. Nun fühlt sie sich schuldig. Ich habe gesündigt und bin daher ein schlechter Mensch. Bestrafe mich.
Anders als der junge Mann in »Shades of Grey«, der triviale Fürst der Dunkelheit, ist Seligman der Zuhörer im Autorenkino, der verständnisvoll Zuhörende, der Absolution Erteilende. Hier arbeitet der Katholizismus an seiner Abwicklung. In einer Welt ohne mentale Sicherheiten wird der säkulare Beichtvater sagen: »Joe, so viel hast du gar nicht verkehrt gemacht. Du bist kein schlechtes Wesen.«
Soweit die Theorie. Damit der Film was zu biseten hat, werden Joes Erzählungen als Vollkontaktsport nachgespielt. Baby, Kind, heranwachsende Frau. Los geht’s eigentlich ganz gut. Papa (Christian Slater) ist super. Er ist Arzt und hat entsprechende Fachliteratur zum Aufbau der einschlägigen Organe im Arbeitszimmer, Joes Lieblingsplatz. Mama (Connie Nielsen) hingegen verkörpert die böse Elternhälfte, hat keinen richtigen Namen, dafür Kopfschmerzen und Depressionen. Joe hält es nicht mehr aus, das nächste Kapitel naht. Sie lässt sich von Jerôme entjungfern; ein Meilenstein, was Liebesszenen im Kino angeht. Joe: »Er stieß vorn dreimal brutal zu, dann fünf mal in den Arsch.«
Anschließend wendet sich der junge Schrauber wieder seinem Mofa zu, das kommt weniger schnell in Fahrt. Joe zeigt ihm, wie man den Benzinhahn öffnet. Mit energetischen Flüssigkeiten kennt sie sich von nun an aus.
»Mea vulva, mea maxima vulva«: Joe legt mit ihren maximal versauten Freundinnen ein Ordensgelübde ab. Später soll es die maxima culpa sein, herrje. Das Bedauern, wenn man älter wird. Erst loslegen, dann Schuldkomplexe. Rückblende: Mit der Freundin sieht man Joe im Zug. Sie spielen, wer mehr Typen flachlegen kann (»Können Sie mir den Weg zur Toilette zeigen?«), um einen Sack Schokoladenbonbons. Da sitzt der Geschäftsmann, auf dem Weg zu seiner Frau. Die beiden wollen ein Kind, schon lange, heute ist Eisprung – der Mann spart sich seit Wochen auf für diesen Moment. Da staunt selbst Joe, was da alles rauskommt (Lachen im Publikum).
Von dieser Qualität sind die Geschichten, die Joe preisgibt; Seligman ist eine Autoritätsperson, die mit ihrem Wissen und ihrer philosophischen wie alltagstauglichen Bildung offensichtlich im Leben von Joe gefehlt hat. »Ich fühle mich schuldig«, jammert sie. »Vielleicht warten die beiden deshalb noch heute auf ein Kind.«
Nein, bestimmt nicht, weiß Seligman. Wer so lange wartet, sitzt sich die Spermien kaputt. »Sie haben alles richtig gemacht, wahrscheinlich haben Sie sogar dafür gesorgt, dass die beiden glücklich eine Familie gegründet haben.«
Sexsucht ist eine Welt ohne Gott, mit streng begrenztem Inhalt. Am Anfang ist Begeisterung, dann Paranoia. Kann die nicht mal Urlaub machen oder wenigstens mal Shoppen oder Eisessen gehen? Nein, kann sie nicht. Das interessiert die nicht so. Wo die Religion nicht mehr für Ordnung sorgt, herrschen Pornographie und Gewalt und Krise. Sie ist, was sie konsumiert: sexuelle Leere. Marquis de Sade, der Reigen, Vorsokratiker, Bibel und Bach bereichern die Unterhaltung zwischen Joe und Seligman – sie aus der Praxis, er gebildet. Die Analyse des Suchtverhaltens erfolgt mit den Größen der Geistesgeschichte. Klassischer Bildungsroman, für Youporn-Nutzer. Öfters mal ein Buch lesen! Vielleicht muss Unterricht heute so aussehen.
Um eine traurige Note ist dieses Werk ebenfalls nie verlegen, denn wo Leere ist, ist ja auch existenzielle Tiefe. Eine lange Sequenz handelt vom Sterben des Vaters. Joe sagt, jetzt hat sie keine Gefühle mehr, die sind alle kaputt. Nach dieser Performance von Christian Slater als delirierendem Palliativpatienten geht es zumindest Teilen des Publikums auch nicht anders. Chapeau klatsch: Von Trier kann sein Ensemble nicht nur nach Belieben auseinandernehmen, er kann es auch einfach machen lassen. Und fotografiert es bestens bis in die Einzelteile.
Ein schöner Film – und auch wieder nicht. Am deprimierendsten von allem ist: Selbst Europas führender Autorenfilmer kann sich ein autonomes Subjekt nur als junge sexsüchtige Frau vorstellen. Auch wenn es ihr Spaß zu machen scheint: Angesichts diverser Prostitutionsdebatten wirkt das gerade etwas einfältig. Das Sex-Aas als role model des Überlebens ohne Glauben. Weil, alte Weisheit: Der Mensch ist ein animal being.
Lars von Trier? Lars von Tier! Die Kinderschreck-Rocker begleiten einen auch wieder zum Ausgang. Die Crew druckt Aussagen gern mal aufs T-Shirt oder auf die Papptüte. Das kann natürlich sein: Vielleicht geht’s ja nicht anders. Echt nicht?

»Nymphomaniac Volume I«. Regie: Lars von Trier. Darsteller: Stacy Martin, Charlotte Gainsbourg, Shia LaBoeuf, Stellan Skarsgård. Kinostart: 20. Februar.