Das Buch »Die Autonauten auf der Kosmobahn«, von Julio Cortázar und Carol Dunlop

Magie auf dem Rastplatz

Julio Cortázar und Carol Dunlop unternehmen in »Die Autonauten auf der Kosmobahn« eine Expedition ins Niemandsland von »Parkingland«.

Wir widmen diese Expedition allen Bekloppten dieser Welt und insbesondere jenem englischen Gentleman, der im 18. Jahrhundert die Strecke London–Edinburgh rückwärts gehend zurücklegte und dabei Wiedertäuferhymnen sang.«
Im Mai 1982 fahren Julio Cortázar und seine Ehefrau Carol Dunlop mit einem VW-Bus, den sie Fafnir getauft haben, von Paris nach Marseille. Eine Abenteuerreise zweier forschender Schriftsteller auf der Autobahn im Angesicht des Todes. Am Ende des Jahres stirbt Dunlop an einer langjährigen Krebserkrankung, Cortázar ein Jahr später; eine Dunkelheit, die langsam heraufzieht: »Während draußen das Wetter unverändert schön blieb, zog sich im Haus ganz langsam der Gewittersturm zusammen. Gegenstände, die uns bislang freundlich gesinnt waren, begannen sich nach und nach unseren geringsten alltäglichen Gesten zu widersetzen.«
Nach den Gegenständen widersetzen sich auch die Körper: »Zwei Tage später bemächtigten sich die dunklen Kräfte des Bärchens, und tage- und nächtelang schien es, als würden sie das Spiel gewinnen. Doch die Dämonen wussten nicht, dass Bärchen selbst in der Dunkelheit noch das Licht einfangen und im Notfall sogar seine Intensität zu verdoppeln wissen, vor allem wenn der Wolf sie aus dem Schatten einer unüberschreitbaren Grenze auf die gute Seite hinüberzieht.« Auf dieser guten Seite liegt auch die Autobahn von Paris nach Marseille, auf die sich das Bärchen, Carol Dunlop, und der Wolf, Julio Cortázar, in Begleitung ihres Drachen Fafnir am 23. Mai 1983 um 14.47 Uhr begeben und die sie erst am 23. Juni um 10.38 Uhr wieder verlassen. Ihr Leben wird für einen Monat zum wissenschaftlich-literarischen Experiment in der Tradition des Surrealismus. Die Autobahn verwandelt sich in »Parkingland«, einen weißen Fleck auf der Landkarte, den die zwei gut ausgerüsteten Forschungsreisenden durch ihre Beobachtungen mit Farbe füllen wollen. In Paris werden zunächst Regeln festgelegt: »1. Die Strecke Paris–Marseille zurücklegen, ohne ein einziges Mal die Autobahn zu verlassen. 2. Alle Rastplätze erforschen, und zwar jeweils zwei pro Tag, wobei auf dem zweiten immer und ohne Ausnahme die Nacht zu verbringen ist. 3. Auf jedem Rastplatz wissenschaftliche Erhebungen durchführen und die entsprechenden Beobachtungen aufzeichnen. 4. In Anlehnung an die Reiseberichte der großen Forscher der Vergangenheit ein Buch über die Expedition schreiben.«
Aus der Expedition entsteht 1983 tatsächlich ein Buch, das Vermächtnis und die letzte Veröffentlichung des 1914 in Brüssel geborenen argentinischen Schriftstellers, »Die Auto­nauten auf der Kosmobahn. Eine zeitlose Reise Paris–Marseille«, das nun anlässlich des 100. Geburtstags Cortázars neu aufgelegt wurde. Eine wilde Mischung aus Tagebuch, Erzählungen, Zeichnungen, Bordbuch, Krimi, Fotos und Reflexionen über dies und das – was Cortázar und Dunlop eben auf der Autobahn begegnet. Ein intermediales Spiel zur Erkundung neuer Wahrnehmungsräume und der Annäherung von Kunst und Leben.
Freunde besuchen die beiden auf der Autobahn und versorgen das Paar mit frischen Lebensmitteln, ebenso tauchen aber auch die ­literarischen Gestalten Calac und Polanco auf den Rastplätzen auf, Fiktion und Realität überschneiden sich. Calac und Polanco mäandern schon lange durch das literarische Werk Cortázars, in »Die Autonauten auf der Kosmobahn« übernehmen sie die Rolle der besserwisserischen, philosophierenden und unerwünschten Besucher. Ein solches Verwirrspiel um Realität und Fiktion ist typisch für das Werk Cortázars, der seit seinen ersten Veröffentlichungen in den späten vierziger Jahren versucht, die Grenzen zwischen Literatur und Leser aufzulösen. Etwa mit seinem 1963 veröffentlichten Hauptwerk »Rayuela – Himmel und Hölle«, dessen Lektüre wie das im deutschen Untertitel genannte Kinderspiel funktioniert: ein Springen zwischen den Seiten, vor und zurück im Buch – wenn man sich als Leser denn darauf einlassen will.
In der Tradition des Magischen Realismus, ­einer dem Surrealismus nahestehenden Kunstströmung, sieht Cortázar sein Schreiben, und auf kaum ein anderes Buch scheint diese Bezeichnung besser zu passen als auf die »Autonauten«. Die beiden Forscher dringen in das unbekannte »Parkingland« ein, beschreiben die Eigenschaften der Flora und Fauna, geographische Besonderheiten, die Eigenheiten der Einwohner, abgerundet durch Fotos – Beweise der Realität der Reise, der Rastplätze, des Campingbusdrachen Fafnir. Doch gerade Fotos stehen im Werk Cortázars eher für das Gegenteil einer solchen Zeugenschaft. Cortázars Erzählung »Der Teufelsgeifer« etwa diente Michel­angelo Antonioni als Vorlage für seinen Film »Blow-Up«, in dem es gerade Fotos sind, die mehr und mehr Fragen über das Verhältnis von Wirklichkeit, Wahrnehmung, Imagination und Halluzination aufwerfen. Magischer Realismus eben, wobei offen bleibt, ob die Magie in die Realität eindringt oder die Realität in die Magie.
In das Spiel mit Fakt und Fiktion im »Auto­nauten«-Buch dringt jedoch plötzlich eine ganz konkrete Realität ein: »Das einzige Problem ist, daß die Ameisen wie die Nazis nie allein auftreten, sondern in überwältigenden Massen, und der Zauber des Individuellen löst sich im Horror der tumben Masse auf.« Sind es hier noch Ameisennazis, die den Bus angreifen, so kommen Cortázar und Dunlop beim Anblick des Stacheldrahtzaunes eines Rastplatzes plötzlich noch weiter gehende Assoziationen: »Parkingland ist schön; es gehört uns, wir sind hier frei und wir lieben es. Aber seine Grenze ist der Spiegel anderer Grenzen, die durch die Geschichte zu etwas Grauenvollem gemacht wurden; es ist, als sähe man das Bild von Treblinka, von Auschwitz.« Im Zaun, der das Spielfeld umgibt, spiegeln sich andere Grenzen; unvermittelt wird der Spielcharakter unterbrochen und auf Realitäten jenseits des Experiments verwiesen. Zwar drängt sich sofort die Frage der Angemessenheit eines solchen Vergleiches auf, doch will Cortázar vermutlich die entgegengesetzte Frage stellen: jene nach der Angemessenheit solcher verspielten Literaturexperimente angesichts der Realität von Auschwitz. »Man darf die Gesellschaft nie unterschätzen, wie sehr man sie auch verachten mag«, heißt es an anderer Stelle im Buch. Cortázar hat sich im Zweifel immer für die Politik und gegen die Literatur entschieden, unterstützte Menschenrechts- und Alphabetisierungskampagnen in Südamerika, die Kubanische Revolution und die Sandinistas in Nicaragua. Im Nachwort zu den »Autonauten« führt er aus: »Kaum war unsere Expedition zu Ende, kehrten wir in unser militantes Leben zurück und reisten einmal mehr nach Nicaragua, wo es so viel zu tun gab und gibt.«
Doch trotz aller Militanz auf der einen und Verspieltheit auf der anderen Seite ist »Die Auto­nauten auf der Kosmobahn« ein melancho­lisches Buch über eine große Liebe und die Unfassbarkeit des Todes. Die Zärtlichkeit, mit der sich das Bärchen und der Wolf gegenseitig beschreiben im Kontrast zur Traurigkeit des Nachwortes, das Cortázar allein auf der Welt zurückgelassen verfasst hat, lassen den Schmerz erahnen, der die beiden auf ihrer Reise begleitet hat. Mit dem Wissen um die Krebserkrankungen beider liest sich das Buch wie ihr Versuch, das Wissen um den Tod in Paris zurückzulassen und im Niemandsland der Autobahn, einem Raum, der nicht zum Leben, sondern rein funktional gedacht ist, einen Ort zu finden, der Tod und Krankheit nicht kennt, sondern nur das Spiel, die Zweisamkeit und die Liebe. Diese Hoffnung wird von Carol Dunlop formuliert: »So groß die Dunkelheit auch sein mag, es gibt keine Finsternis, die mich zur Umkehr zwingen könnte. Wir werden die Autobahn nicht verlassen, Geliebter, weder in Marseille noch sonstwo. Es gibt keinen anderen Rückweg als die Spirale.«
Dass es immer auch ein Jenseits der Autobahnen gibt, den Zwang zur Rückkehr in die Realität, zeigen jedoch die Stacheldrahtzäune. Cortázar schließt sein Nachwort mit einem Ende und einem Weiter: »Ich weiß wohl, Bärchen, dass du dasselbe getan hättest, wenn ich vor dir hätte gehen müssen, und dass deine Hand zusammen mit meiner diese letzten Worte schreibt, in denen der Schmerz nicht stärker ist als das Leben, das du mich leben gelehrt hast, wie wir es vielleicht bei diesem Abenteuer zeigen konnten, das hier ein Ende findet, aber dennoch weitergeht, in unserem Drachen weitergeht, für immer auf unserer Autobahn weitergeht.«

Julio Cortázar/Carol Dunlop: Die Autonauten auf der Kosmobahn. Eine zeitlose Reise Paris–Marseille. Aus dem Spanischen von Wilfried Böhringer, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2014, 358 Seiten, 22,95 Euro