Der Kampf gegen die Unterernährung in Guatemala

Null Hunger ist das Ziel

Mangel- und Unterernährung sind in Guatemala ein gravierendes Problem. Deshalb hat die Regierung das Programm »Hambre Cero« (Null Hunger) entwickelt, im Rahmen dessen Lebensmittel an die Ärmsten verteilt werden. Im Süden des Landes, wo sich der »Dürrekorridor« befindet, ist die Lage besonders dramatisch. Die private Stiftung Esperanza de Vida engagiert sich dort für unterernährte Kinder und macht die Menschen mit alternativen Anbaumethoden vertraut.

Dunkle Wolken hängen über der Müllkippe von Zacapa. Der Geruch von verbranntem Plastik setzt sich beißend in der Nase fest. Die Frauen und Kinder, die jede neue Ladung Müll nach Verwertbarem durchstöbern, scheint das kaum zu stören. Vor allem Glas, Blech und Pappe werden gesammelt, fast alles andere geht in Flammen auf. Müll­entsorgung auf guatemaltekisch. Obwohl mehrfach angekündigt wurde, die Anlage zu schließen, geht diese Praxis weiter.
Für Adolfina ist das die Rettung, denn sie lebt von dem Müll. »Ungefähr seit 20 Jahren sammele ich hier alles Verwertbare aus dem Abfall der Stadt, in Zacapa gibt es kaum Arbeit. Was soll ich tun?« fragt die ausgemergelte Frau mit der Baseballmütze auf den zum Pferdeschwanz zusammengebundenen langen Haaren. Sie ist zurückhaltend, denn es ist ihr peinlich, Fremden zu gestehen, wovon sie und ihre fünf Kinder leben müssen. Liz ist die Älteste und muss Verantwortung für die Jüngeren übernehmen. Die 12jährige träumt davon, einmal Lehrerin zu werden. Den eigenen Vater hat sie nicht wirklich kennengelernt, da er sich schon vor zehn Jahren aus dem Staub gemacht hat, in die USA. Eine Erfahrung, die mehrere Frauen von der Müllkippe mit Adolfina teilen.
Das ist kaum verwunderlich, denn Zacapa ist ein trostloser Ort. In dem Verwaltungsdistrikt im Süden Guatemalas, nahe der Grenze zu Honduras, werden Melonen und andere Südfrüchte für den Export in die USA produziert, aber die Region ist bettelarm. »Ich bin hier selbst als Kind armer Bauern aufgewachsen. Landwirtschaft ohne Bewässerung ist ausgesprochen schwierig deshalb brauchen viele Familien dringend Hilfe«, erzählt Carlos Vargas, der Gründer der Hilfsorganisation Esperanza de Vida (Hoffnung des Lebens). Die sorgt dreimal pro Woche für ein nahrhaftes und reichhaltiges Essen an der Müllkippe von Zacapa. »Das ist für uns sehr wichtig«, sagt Vertulia Alvárez, die gemeinsam mit ihrem Mann und ihren vier Kindern an und von der Deponie lebt. Rund 350 Quetzales, umgerechnet 33 Euro, verdient die Familie pro Woche mit dem Sammeln von Blech, Pappe, Glas und Ähnlichem. Mehr als die wichtigsten Grundnahrungsmittel sind dafür kaum zu haben, deshalb ist jede Hilfe bei der Familie willkommen. Das weiß auch Carlos Vargas, aber der stämmige Mann mit den zurückgekämmten blonden Haaren verlangt von den rund 30 Familien, die derzeit von der Deponie leben, eine Gegenleistung. »Sie müssen ihre Kinder in die Schule schicken«, sagt der 61jährige mit fester Stimme.
Er selbst konnte nur die erste und die zweite Grundschulklasse besuchen, dann war Schluss: »Ich musste auf unser Feld, mein Vater brauchte meine Hilfe.« Schon damals war es schwierig, von der kleinen Parzelle zu leben, und längst nicht immer gab es etwas zu Essen im Hause Vargas. Nur in den Tälern des Verwaltungsdistrikts Zacapa gibt es genug Wasser für die Landwirtschaft. »Weiter oben in den Bergen vertrocknet die Saat oft auf den Feldern«, sagt Vargas. Das ist eines der größten Probleme der Region.

Die bergige Zone wird corredor seco, »Dürrekorridor« genannt. Sie erstreckt sich über mehrere Verwaltungsdistrikte: Zacapa, El Progreso, Chiquimula und Izabal. Rund 90 000 Familien kämpfen nach Angaben der Regierung mit der wiederkehrenden Dürre, es sind die Kinder, die am meisten darunter leiden.
Niemand weiß das besser als Vargas. Ihn nennen die Leute in der Region oft »Messias« oder »Missionar«, weil er seit mehr als 20 Jahren halbverhungerte Kinder aus den Bergen holt und sie vor dem Hungertod rettet. »Vor ein paar Monaten habe ich ein behindertes 15jähriges Mädchen heruntergebracht, das noch nicht mal acht Kilogramm wog«, erzählt Vargas. Das Mädchen habe überlebt, aber sie sei in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung um Jahre zurückgeblieben. Das ist die weniger bekannte Folge des Hungers, gegen sie kämpft Vargas, an der Müllkippe von Zacapa, von der heute nur noch rund 30 statt etliche hundert Familien leben, sowie in Pueblo Modelo, der Siedlung für Opfer von Naturkatastrophen, und in den Bergen der Region.
Die Dörfer in den Bergen liegen oft drei, vier Fahrtstunden von Llano Verde entfernt, dem kleinen Dorf, wo Esperanza de Vida seine Zentrale hat. Dort befindet sich das erst vor ein paar Monaten eingeweihte moderne Krankenhaus, wo Edwin Manolo Oliva als Kinderarzt arbeitet. Er gehört zum Team im Krankenhaus, das seit der Eröffnung mehrere hundert Kinder verarztet und vor dem Hungertod bewahrt hat. Jedes Kind, das von den drei Teams, die in den Bergen im Einsatz sind, nach unten ins Tal von Llano Verde gebracht wird, erhält ein spezielles Aufbauprogramm, um wieder zu Kräften zu kommen. So wie die einjährige Kenia, die derzeit über eine Sonde ernährt wird. Sie ist in ihrer Entwicklung hinter Gleichaltrigen zurückgeblieben, genauso wie die zweijährige Angela.
»Das ist oft so. Fehl- oder Mangelernährung führen dazu, dass Kinder zurückbleiben«, sagt Kinderarzt Edwin Manolo. Das ist auch in den Schulen des Landes zu beobachten, wie Lehrer und Bildungsexperten wie Rolando Alvarado, Rektor der Universität Rafael Landívar, berichten. »30 bis 50 Prozent der Kinder in Guatemala sind fehl- oder mangelernährt – sie haben Schwierigkeiten, den Stoff zu behalten, sind lethargisch und schwach«, erklärt Alvarado die Folge des Hungers. Folgerichtig haben Kinder aus armen Haushalten einen handfesten Nachteil. Das weiß auch Vargas, der auf dem weitläufigen Areal nahe Llano Verde mehr als 300 Kinder versorgen und unterrichten lässt. »Im Krankenhaus sind es derzeit rund 80, im Heim für behinderte Kinder etwa 30, im Frauenhaus um die 120 und im Waisenhaus um die 100.«

Die Stiftung ist langsam zu einem Dorf am Rande des Dorfes gewachsen. Dort wird nicht nur kuriert, therapiert und unterstützt, sondern auch produziert. »Die Menschen müssen versorgt werden deshalb gehören Fischteiche, wo wir zwei Millionen Pfund Tilapia im Jahr ernten, genauso dazu wie Gewächshäuser, Hühnerställe, Obstplantagen und Viehweiden«, sagt Carlos Vargas, der den Betrieb nach und nach ausgeweitet hat und die Stiftung wie ein Unternehmen führt. Das hat er in den USA gelernt, denn dahin ist er wie so viele seiner Landsleute ausgewandert – mit gerade 16 Jahren. Da entschlossen sich seine Eltern, die kleine Parzelle zu verkaufen, um das Ticket in den Norden für ihren Ältesten bezahlen zu können und ihm etwas Startkapital zur Verfügung zu stellen. »100 US-Dollar waren es«, erinnert sich Vargas mit leiser Stimme. Der nach außen sehr bestimmt und manchmal ruppig auftretende Mann, auf den bei Esperanza de Vida alle hören, hat auch eine andere Seite. In den USA hat er sein eigenes Unternehmen aufgebaut und gutes Geld verdient. »Damals habe ich nur an mich und meine Familie gedacht und was dann folgte, war ein Signal.« Carlos Vargas wurde krank, litt an Lähmungen, kehrte nach Guatemala zurück und wurde wieder gesund.
Seine Heilung interpretierte er als Zeichen und widmet sich fortan den Armen. Eine pathetische Geschichte, die Vargas mit vielen rührenden Details ausschmückt. Seit nunmehr 23 Jahren ist der Patriarch der engagierteste Kämpfer gegen den Hunger im Süden Guatemalas.
Mehr als 300 Menschen arbeiten mittlerweile für seine Stiftung, die Häuser für Opfer von Naturkatstrophen baut. Eine von ihnen ist Eufrenia Ramírez Méndez, die in Pueblo Modelo lebt, einem Dorf vor den Toren von Zacapa, das auf einem von der Stadt zur Verfügung gestellten Areal für Opfer von Naturkatastrophen entstanden ist. Solche Katastrophen gibt es in der Region immer wieder, Schlammlawinen, Überschwemmungen, Tropenstürme. Efrenias Haus wurde vor sieben Jahren von einem Sturm weggefegt, weshalb sie nach Pueblo Modelo kam. Hier hat die 50jährige nun ein solides Haus für sich und ihre vier Kinder, von denen drei studieren. »Ich habe Glück gehabt, auch wenn es hier an Arbeit fehlt«, sagt sie, während sie die frisch gewaschene Wäsche auf die Leine hängt, die sie nachher gebügelt an ihre Auftraggeber ausliefern muss. Das solide Haus hat Esperanza de Vida gebaut und auch die Schule des Dorfes, in dem rund 3 000 Menschen leben, wurde von Mariano Galves, dem Architekten der Organisation, entworfen. »Der Regierung fehlt das Geld für die Investitionen, aber sie stellt die Lehrer«, sagt Vargas fast entschuldigend. Etwas hilflos zieht er die Schulter hoch, weil er weiß, dass er der Regierung die Arbeit abnimmt. Was tun, wenn sie ineffizient und korrupt ist, soll das in etwa heißen. Der guatemaltekischen Gesellschaft fehle soziale Verantwortung, meint Vargas, und auch vom Programm »Hambre Cero«, einer Initiative von Präsident Otto Pérez Molina zur Bekämpfung des Hungers, hält er nicht viel. »Das Programm ist schön und gut, weil immerhin eingestanden wird, dass in Guatemala gehungert wird. Aber Alimentierung ist keine konkrete Alternative«, kritisiert Vargas. »Man muss den Leuten Perspektiven aufzeigen.«
Die schlichte Verteilung von Nahrungsmitteln ist für ihn keine Lösung, so drängt er die regionalen Verantwortlichen dazu, mehr zu tun und geht mit gutem Beispiel voran. Die Stiftung bietet Projekte an, baut Schulen und Häuser, legt Gärten an und bringt den Leuten bei, wie man Gemüse vor der eigenen Haustür zieht und so weniger abhängig wird von den traditionellen Anbauprodukten Bohnen und Mais. Die Stiftung verfügt auch über Samenbanken, um den Bauern besseres Saatgut und Beratung für alternative Anbauprodukte anzubieten.

Vargas finanziert seine Arbeit aus dem, was in Llano Verde angebaut und produziert wird, sowie durch die Besucher aus den USA. »Die kommen zu uns, um zu helfen und sie zahlen dafür«, erklärt Vargas das Konzept. 600 US-Dollar, doppelt so viel wie aufgewendet wird, kostet eine Woche bei Hope of Life, so der englische Name der Stiftung. Vargas bietet den zahlenden Besuchern Projekte an, um Armen in der Region zu helfen: Die Freiwilligen können sich beim Hausbau in Pueblo Modelo, beim Mittagstisch auf der Müllkippe, bei der Pflege von Kindern und Alten in Llano Verde engagieren. Sie entscheiden, wo sie eingesetzt werden wollen, und Vargas liefert Anschauungsmaterial, Programme und vor allem Fotos, Fotos und noch mehr Fotos. Das funktioniert. Im vergangenen Jahr kamen rund 8 000 Leute aus dem Ausland, um bei Esperanza de Vida eine Woche oder länger zu arbeiten. So wächst die Stiftung, die mittlerweile zu einem unverzichtbaren Partner für die Regierung geworden ist. Die zahlt Zuschüsse für die Nothilfe­arbeit für Kinder, aber deutlich weniger, als diese kostet. »In Guatemala müssen wir lernen, mehr soziale Verantwortung zu übernehmen«, mahnt Vargas. Doch genau das ist selten in einem Land, in dem sich der Besitz der fruchtbaren Äcker in den Händen weniger Familien konzentriert und wo Investitionen in den Armutsregionen eher rar sind.
Letzteres könnte sich zumindest im corredor seco alsbald ändern. Mitte März stellte das Agrarministerium ein Weiterbildungsprojekt für rund 30 000 Familien in der Region vor. Neues, besseres und gegen die Trockenheit resistentes Saatgut will die Regierung gemeinsam mit einer UN-Organisation den Familien liefern und ihnen beibringen, wie sich wassersparend effektiver und ertragreicher anbauen lässt. Dafür hat sich Carlos Vargas lange eingesetzt.