Der Islamismus in Nordnigeria und die Kampagne für die Befreiung der entführten Schülerinnen

Tragödie mit Ansage

Die Entführung der nigerianischen Schülerinnen durch die islamistische Terrortruppe Boko Haram sorgt weltweit für Empörung. Sie zeigt ein tiefsitzendes Problem Nordnigerias mit islamistischen Strukturen auf.

Die von Boko Haram entführten Schulmädchen sollen, einem Anfang der Woche veröffentlichten Video zufolge, zum Islam konvertiert worden sein. In dem Propagandaclip spricht der Führer der Terrororganisation, Abubakar Shekau, mit einem Sturmgewehr über der Schulter davon, die jungen Frauen »befreit« zu haben. Denn: »Diese Mädchen sind Muslimas geworden.« Ingesamt drei Mal wiederholt er sich, dann lacht er in die Kamera. Bilder von mehr als 50 Mädchen in dunkelblauem Tschador werden gezeigt. Sie rezitieren die Sure al-Fatiha, die ersten Verse des Koran. Die Familien der Mädchen haben das Video zu dem Zeitpunkt wohl noch nicht gesehen, in Nigeria wurde es noch nicht ausgestrahlt. Dem Rest der Welt dient es als ein weiterer Beweis, dass die Befreiung der mehr als 200 Geiseln in weiter Ferne liegt und man Boko Haram als islamistische Terrorgruppe ernst nehmen muss.
In der Nacht des 14. April erschienen Männer in Militärkleidung in der Mädchenschule der Stadt Chibok im Bundesstaat Borno im nordöstlichen Nigeria. Sie erzählten den knapp 300 Schülerinnen, die sich dort für ein Abschlussexamen aufhielten, ein Angriff von Boko Haram auf die Schule stehe bevor, sie müssten den Männern zu ihrem eigenen Schutz folgen. Das berichten diejenigen Schülerinnen, die später fliehen können. Sie wurden von den Männern an einem bisher unbekannten Ort gebracht, wohl erst dort wurde ihnen die zynische Wahrheit klar. In einer ersten Videobotschaft kurz nach dem Verschwinden der Schülerinnen bekannte sich Abubakar Shekau zu der Entführung und kündigte an, die Mädchen »auf dem Markt zu verkaufen« und zu verheiraten. »Frauen sind Sklaven«, sagte er da. »Ich will meinen muslimischen Brüdern versichern, dass Allah sagt, dass Sklaven im Islam erlaubt sind« – eine Referenz auf eine alte Tradition, im Jihad gefangene Frauen zu versklaven. Ein Aufschrei geht daraufhin durch Nigeria und um die Welt. Doch so schrecklich die Entführung ist, eine Überraschung war sie nicht.
»Die Entführung ist eine Tragödie, doch wir haben nur darauf gewartet, dass so etwas passiert«, sagt Leo Igwe. Die Bedrohung durch Boko Haram sei schon lange akut. Igwe ist ein nigeria­nischer Menschenrechtler und zurzeit Doktorant an der Universität in Bayreuth. Er schreibt seit Jahren über die Gruppe und kritisiert die Berichterstattung über die Entführung. Auch weist er gewagte Interpretationen über Boko Haram zurück, wie sie etwa die US-amerikanische Historikerin Jean Herskovits in der jüngsten Ausgabe des Spiegel vorbringt. Da sagt sie, es gebe keinen Beweis, dass hinter Boko Haram »eine durchorganisierte Truppe mit einer schlüssigen Theorie« stecke. Bei Boko Haram handele sich vielmehr um nichts als ein »Franchiseunternehmen« für Gangster. Mit solchen Argumentationen würde völlig falsch eingeschätzt, wie die Lage und eine angemessene Reaktion auf die Entführung aussähen, sagt Igwe.

Die Entstehung der Gruppe hat auch nicht allein sozioökonomische Ursachen. Im Jahr 2012 lag das Pro-Kopf-Einkommen in Nigeria bei gerade einmal 2 722 US-Dollar, die Tendenz ist ebenso steigend wie die Ungleichheit der Verteilung. Im Norden des Landes leben die meisten Menschen von weniger als einem US-Dollar am Tag. Doch im ebenso armen Burkina Faso oder im benachbarten Benin gibt es kein Phänomen wie Boko Haram. »Ich stimme nicht damit überein, dass Armut und Vernachlässigung durch die Regierung zu dem Problem islamistischen Terrors geführt hat. Wir können nicht nur auf Armut schauen, sondern müssen die Rolle der Religion selbst, des Islam, in den Blick nehmen«, ist Igwe überzeugt. In Nigeria sei der bewaffnete Islamismus schon seit Jahren ein Mittel, um sich politischen Raum zu erkämpfen.
»Es gibt einen Nährboden, aus dem heraus Boko Haram agiert. Bevor wir Staat und Religion nicht trennen, kann der Staat religiöse Verbrechen nicht bestrafen, und wir werden eine Boko Haram nach der anderen erleben. Schon in den Neunzigern gab es militante religiöse Gruppen, die Menschen wegen der kleinsten Auseinandersetzung enthaupteten. Boko Haram ist nur die neueste Erscheinung«, sagt Igwe. Die Sharia gilt nicht nur im Förderalstaat Borno, wo die Mädchen entführt wurden, sondern uneingeschränkt noch in weiteren acht Staaten der Föderation. Angesichts der derzeitigen Krise ist die Regierung auch deshalb so machtlos, weil die religiösen Strukturen ein konsequentes Vorgehen gegen religiöse Straftaten erschweren. Boko Haram lehnt allen westlichen Einfluss auf die nigerianische Gesellschaft ab und kämpft für die Einführung der Sharia im ganzen Land. Es ist es auch nicht verwunderlich, dass es junge Schuldmädchen waren, die Boko Haram als Geiseln nahm. »Die Entführung der Schulmädchen ist eine radikale Demonstration der Wahrnehmung von Frauen und demonstriert die Ablehnung säkularer Ideale wie Gleichheit der Geschlechter, Würde und Menschenrechte«, sagt Igwe. Gebildete Frauen seien der größte Feind einer solchen Weltanschauung, das habe der Fall Malala Yousafzi – der 15jährigen Schülerin, die pakistanische Taliban zu erschießen versuchten – eindringlich verdeutlicht.

Eine Organisation wie Boko Haram findet reichlich Nährboden in jenem Teil Nigerias, in dem eher in Moscheen als in Schulen investiert wird. Im Föderalstaat Katsina wurden im vergangenen Jahr 34 neue Gotteshäuser gebaut, statt das Geld in Bildung und Infrastruktur zu stecken. In der Kommune Borgu wurde ein Lokalpolitiker suspendiert, nachdem er umgerechnet 60 000 Euro an Steuergeldern für den jährlichen Hadsch, die Pilgerfahrt nach Mekka, ausgegeben hatte. Zwar gibt es Stimmen wie die des islamischen al-Ahzar-Instituts aus Kairo, die das Vorgehen von Boko Haram als mit den Lehren des Koran nicht vereinbar verurteilen. Aber es ist gerade die religiöse Gesetzesgrundlage in Nordnigeria, die es erschwert, die Terroristen zur Rechenschaft zu ziehen.
Igwe fordert: »Säkulare, Feministinnen und Menschenrechtler müssen Wege finden, der Indoktrinierung und Dogmatisierung junger Muslime entgegenzutreten.« Mit der Kampagne #BringBackOurGirls hat sich eine solche Art Widerstand gegen die frauen- und modernitätsfeindliche Stimmung in Nigeria formiert. Die Kampagne wurde von Frauenrechtsgruppen in Nigeria, unter anderem der Föderation Muslimischer Frauen Nigeria (FOMWAN) und der christlichen Frauengruppe Nigerias (CAN), aus dem Boden gestampft. Nachdem eine Aktivistin während einer Demonstration festgenommen worden war, unter dem Vorwand, sie habe keinen direkten Bezug zu den Entführten, verbreitete sich die Kampagne weltweit. Vor allem über soziale Medien verbreiten Menschen auf der ganzen Welt ihre Solidarität mit den Geiseln und ihren Familien und bringen damit oft auch ihre Ablehnung für die Unterdrückung der Frau unter dem Gesetz der Sharia zum Ausdruck.

Der nigerianische-amerikanische Schriftsteller Teju Cole jedoch ist von dieser Art der Kampagne nicht überzeugt, und er ist nicht allein. Boko Haram habe alleine in den vergangenen 24 Stunden mehr Menschen getötet, als die entführten Mädchen an der Zahl seien. Solche grausamen Realitäten würden ignoriert, sie seien nicht unter einem Hashtag zusammenzufassen, schreibt er auf Twitter.
Auch Igwe übt Kritik: »Ich glaube nicht, dass die Hashtag-Kampagne #BringBackOurGirls erfolgreich sein wird, solange nicht das Bewusstsein, das sie geschaffen hat, zu einem Versuch führt, die Mädchen zu befreien.« Er befürwortet eine Intervention und hält die sogenannte internationale Gemeinschaft zum Handeln an. Nigeria, das sei eindeutig, brauche Hilfe, um mit diesem Problem fertig zu werden. »Es ist einfach, hier in unseren bequemen Zimmer zu sitzen, weit weg von Nigeria, und gegen eine westliche Intervention zu argumentieren, mit der Begründung, es würde Amerikas militärische Expansion in Afrika vorantreiben«, verteidigt er seine Haltung. Großbritannien, die USA, Frankreich und China haben mittlerweile Teams in Nigerias Haupstadt Abuja entsendet, um bei der Suche zu helfen, Israel hat angeboten, sich dem anzuschließen. Ob ihr Eingreifen jedoch zu einer Rettung der Mädchen beitragen kann, ist fraglich.
Ähnlich wie Igwe argumentiert auch der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka. Vorige Woche bezeichnete er in einer Rede vor der Royal African Society in London das Phänomen des »Boko-Haramismus« als Resultat jahrzehntelanger politischer Taktiken. Religion und Politik seien in den vergangenen 20 Jahren zu einem »giftigen Gebräu« vermischt worden, der »Boko-Haramismus« habe mit der »Kultur der Straflosigkeit aus religiösen Gründen« begonnen. Zu lange seien Gewaltakte im Namen der Religion juristisch nicht verfolgt worden. Mittlerweile sei der Aufstand der Islamisten für Nigeria eine unlösbare Aufgabe. Weder Armee noch Regierung seien in der Lage, mit ihm umzugehen. Das liege nun in der Verantwortung der globalen Gemeinschaft.