Das Detroit-Projekt in Bochum

Das Ende einer Ära

Was soll nur aus Bochum werden? Das Detroit-Projekt, ein einjähriges internationales Stadt- und Kunstfestival, sucht Antworten auf diese Frage.

This is not Detroit«! Mit diesem Slogan will die Stadt Bochum der zum Jahresende beschlossenen Schließung des Opel-Werks trotzen und verhindern, dass die Ruhrgebietsstadt ein ähnliches Schicksal erfährt wie die Metropole im Norden der USA: Insolvenz, Leerstand und Verelendung – der postfordistische Albtraum. Doch taugt Detroit tatsächlich als Schreckensszenario? Zumindest der Blick zurück lässt Zweifel aufkommen: »Kick out the Jams« statt »Tief im Westen«, Martin Scorsese statt Peter Zadek, Motown statt »Starlight Express« und Pistons statt VfL. Und der Detroit-Techno entwickelte sich nicht zufällig während des Niedergangs der Autoindustrie. Keine schlechten Aussichten eigentlich.
»Die Stadt braucht eine neue Erzählung«, sagt Sabine Reich, Dramaturgin am Bochumer Schauspielhaus. Gemeinsam mit der Institution »Urbane Künste Ruhr«, Nachfolger der europä­ischen Kulturhauptstadt »Ruhr 2010«, hat das Stadttheater ein Programm entwickelt, das die Sorgen und Hoffnungen der Stadt und ihrer Bürger widerspiegeln soll. Bochum soll sich dabei zeigen »als eine Stadt der Kultur, deren Bürger sich von den gegenwärtigen industriellen Umwälzungen nicht entmutigen lassen, sondern vielmehr gewillt sind, sich für die Zukunft ihrer Stadt einzusetzen und aktiv zu engagieren«.
Mehr als 20 Kunstaktionen, Ausstellungen, Konzerte und Lesungen werden bis zum 5. Juli stattfinden. Knapp 1,5 Millionen Euro stehen dafür zur Verfügung. Besonders markant ist eine Projektion des Künstlers Tim Etchells, die seit Ende April auf dem Förderturmgerüst des Bergbaumuseums zu sehen ist: »How Love Could Be« steht dort in fetten, knallroten Lettern. Nach Sonnenuntergang durchbricht der Schriftzug das dunkle Grau der Stadt. Es ist ein Zitat aus »Bad Girl« von The Miracles, einer frühen Motown-Single aus dem Jahr 1959. Doch wie könnte die Liebe in Bochum aussehen?
In den siebziger Jahren hat der damalige Intendant des Schauspielhauses, Peter Zadek, die Opel-Arbeiter gratis zu Proben eingeladen, für die Vorstellungen gab es Ermäßigungen. Die Epoche war stark von Agitprop geprägt, Studenten versuchten Arbeiter zu agitieren, Intellektuelle verschrieben sich der Arbeiterkunst. Serien- und Filmproduktionen wie Rainer Werner Fassbinders »Acht Stunden sind kein Tag« und »Liebe Mutter, mir geht es gut« von Christian Ziewer versuchten, die Lebenswirklichkeiten der Arbeiter darzustellen, zu verändern und Milieugrenzen zu überwinden.
Doch das Proletariat ist dem Ruhrgebiet vor vielen Jahren abhanden gekommen. Die Zeiten der großen Konzerne, bei denen Generationen von Familien gearbeitet haben, sind vorbei: Krupp Rheinhausen, Hoesch Dortmund – die Liste ließe sich beliebig erweitern. Dass Opel Bochum verlässt, ist nur ein weiteres Kapitel im Niedergang der ehemaligen Industrieregion. Von den einstmals über 20 000 Arbeitern sind heute nur noch ungefähr 4 000 übrig geblieben. Die Fördertürme, Hochöfen und Walzwerke haben ihre Arbeit eingestellt. Der Philosoph André Gorz nannte bereits im Jahr 1980 die »Idee« vom Proletariat »so obsolet wie das Proletariat selber, da anstelle des produktiven Gesamtarbeiters eine Nicht-Klasse von Nicht-Arbeitern entsteht, die im Schoße der gegenwärtigen Gesellschaft eine Nicht-Gesellschaft ankündigt«. Findige Kulturmanager und Städteplaner griffen die Entwicklung vor mehr als drei Jahrzehnten auf und schufen etwas, das sich fortan »Industriekultur« nennen sollte: Theater, Oper und Musik in den ehemaligen Stätten der Schwerindustrie. Und die Bevölkerung, vor allem der Teil, der niemals den Kohle­staub unter Tage eingeatmet hat und noch nie bei mehr als 400 Grad glühenden Stahl in Form bringen musste, nahm das Angebot dankend an.
Daran wollen die Macher des Detroit-Projekts aber nicht anknüpfen. »Die Industriekultur bietet ja vor allem den Blick zurück, auf eine industrielle Tradition, verbunden mit Gegenwartskunst«, sagt Sabine Reich. Das Entscheidende sei, nicht an dem Punkt stehen zu bleiben, denn sonst werde auch das Ruhrgebiet und mit ihm die Industriekultur irgendwann nur noch »als Relikt aus alten Zeiten wahrgenommen«.
»Die Fragen, die die Schließung des Opel-Werks in Bochum auslösen, sind relevant für alle postindustriellen Städte, die nach einer neuen Beziehung zwischen Arbeit und Stadt suchen«, sagt Paul Domela, der als Kurator am Detroit-Projekt beteiligt ist. Der GM-Standort Ellesmere Port/Liverpool ist ebenfalls bedroht, ähnlich wie Zaragoza in Spanien und Gliwice in Polen. Und glaubt man den Machern des Detroit-Projekts, dann war es nicht immer einfach, die Künstler und Arbeiter der verschiedenen Standorte zusammenzubringen. Auch, weil sie sich zunächst als Konkurrenten fühlten. Der Arbeitssoziologe Klaus Dörre spricht diesbezüglich von einer »Ethnisierung sozialer Konflikte« und einer »Nationalisierung der Arbeiterbewegung«. Ein Problem, das auch das Detroit-Projekt thematisiert.
Marta Keil, Kuratorin des Festivals »Konfrontacje Teatralne« im polnischen Gliwice, glaubt nicht an ein »starres Konzept wie Nationalität« sondern an die »vielfältigen Potentiale des Lokalen«. Wobei es immer schwerer fällt, diese Potentiale zu bestimmen und zu entfalten: »Die ständige, enthusiastische Rede von den angeblich steilen Erfolgen der Wandlungsprozesse des Landes stehen im deutlichen Gegensatz zu den orthodoxen, konservativen und regressiven Einstellungen, die Entscheidungsträger ebenso wie die Medien in der Debatte über zeitgenössische Kunst an den Tag legen«, so Keil. Politische Korrekturen, wo man hinschaut. Eine Diagnose, die auf Deutschland, Bochum und das Ruhrgebiet (noch) nicht zutrifft. Auch wenn derzeit an vielen Punkten versucht wird, das Rad zurückzudrehen: Kulturausgaben werden gekürzt, Freiräume privatisiert, emanzipatorische Errungenschaften in Frage gestellt und die Solidarität aufgekündigt. Sozialdemokratische Kultur- und Stadtpolitik, wie sie in Bochum seit vielen Jahrzehnten exemplarisch betrieben wird, ist dabei ebenso wenig ein Beispiel für Emanzipation und Innovation. Im Gegenteil: Wer an die öffentlichen Gelder will, muss etwas zu bieten haben oder sich zumindest andienen.
Die Macher des »Rundlauf Bochum«, einem freien Kunstfestival, hatten diese Tatsachen im Hinterkopf, als sie ihr Konzept entwickelten. »Wir wollen uns nicht reproduzieren und so wenige Erwartungen wie möglich erfüllen«, sagt Veranstalter Guy Dermosessian. Die Künstler haben es sich zur Aufgabe gemacht, in den leerstehenden Gebäuden der Stadt zu spielen. Die Orte des Geschehens sind die Straßen, alte Bunker, ehemalige Kneipen und stillgelegte Fabriken der Gegend. 40 000 Euro ist das Projekt der Stadt wert.
Einer dieser Orte ist eine Wohngemeinschaft im Bochumer Norden, in der sogenannten Speckschweiz, einem Stadtteil, in dem die Mieten noch bezahlbar sind, die Nachbarn noch miteinander reden und die Straßen nicht nur den Autos gehören. Neben Dermosessian leben dort auch Samira Yildirim und Julia Nitschke, die das Festival mitgestalten. »Wir wollen, dass die Anwohner und Anwohnerinnen des Stadtteils, aber auch Interessierte von außerhalb ihr eigenes Umfeld gestalten und zeigen, wie sie leben wollen«, sagt Yildirim.
Dabei wäre die fünfte Auflage des Festivals beinahe gescheitert. Wegen fehlender Freigaben durch das städtische Bauordnungsamt konnte es Anfang Mai nur als eine öffentliche Probe stattfinden – die Programmpunkte wurden jedoch allesamt beibehalten. Um aber die Fördergelder der Stadt zu behalten, ist nun für die Pfingsttage das reguläre Festival angesetzt worden. Mit zum Teil ähnlichen, zum Teil neuen Programmpunkten – aber ohne zusätzliche finanzielle Mittel. Eine geplante Videoinstallation von Denise Winter musste abgesagt werden.
»Wir haben uns ab November um Förderung bemüht, im Februar mündliche Zusagen gehabt«, sagt Dermosessian. Verbindliche Zusagen gab es erst Anfang April. Zu diesem Zeitpunkt wurden auch die Anträge beim Bauordnungsamt eingereicht, einschließlich eines Brandschutzgutachtens – ohne Antwort. Ein Tag nachdem die Macher dann beschlossen hatten, das Festival abzusagen, kam plötzlich die Zusage der Stadt. »Wir haben uns dann entschlossen, das Festival als öffentliche Probe zu deklarieren«, so Dermosessian. Dem zwanglosen Charakter der Veranstaltung tat das gut.
Der Kreis schließt sich. Die Idee des Rundlaufs ist dabei nicht ganz neu. Peter Zadek hat bereits in den siebziger Jahren versucht, sich aus den Mauern des Schauspielhauses hinauszubegeben und leerstehende Gebäude und Hallen zu nutzen. »Hamlet in der Haldenstraße« hieß die Aufführung mit Eva Matthes und Ulrich Wildgruber. 1977 fand sie in einer ehemaligen Fabrikhalle statt. Und auch damals gab es reichlich Probleme: Das Bauordnungsamt zögerte mit der Erteilung der Genehmigung und die Sozialdemokraten drohten damit, den Etat für das Schauspielhaus zu kürzen. Die Anwohner hingegen haben das Angebot angenommen. Zadeks Nachfolger haben die Idee später nicht fortgeführt.
»Die Zukunft liegt darin, kleinteilige Modelle zu entwickeln, in denen sich die unterschied­lichen Milieus zusammen finden«, sagt Sabine Reich. Die Stadt braucht demnach nicht eine neue Erzählung, sondern viele kleine. Der Motown-Klassiker von Martha & The Vandellas aus dem Jahr 1964 könnte Vorbild sein: »Dancing in the Street!«