Axel Berger kritisiert Thomas Pikettys Analysen der sozialen Ungleichheit

Harmloser als sein Ruf

Thomas Pikettys »Kapital im 21. Jahrhundert« ist die neueste Fundgrube für alle, die sich nach mehr Verteilungsgerechtigkeit sehnen. Mehr soll es aber nicht sein.

Er ist der neue Superstar am Ökonomenhimmel: Thomas Piketty. Seine monumentale Studie über das »Kapital im 21. Jahrhundert« wird gefeiert und verkauft wie kein anderes wissenschaftliches Werk in den vergangenen Jahrzehnten und stellt selbst den Hype um David Graebers Buch »Schulden« vor gut zwei Jahren in den Schatten. Der zeitweise Spitzenplatz in den Amazon-Verkaufs­charts und sich überschlagende Kritiken sind der Lohn dafür, dass Piketty in Dutzenden von Statistiken den Nachweis erbringt, dass die Reichen nicht nur immer reicher würden, sondern auch ihren Vermögensanteil im Verhältnis zum Rest der Gesellschaft beständig zu steigern wüssten. Für den Nobelpreisträger Paul Krugman ist das Buch ein »bahnbrechendes Meisterwerk«, das »die Art und Weise, wie wir über Wohlstand und Armut denken, völlig neu ausrichten« werde, wie er in seiner Besprechung der Studie in der New York Times schrieb. Und diese Sichtweise steht stellvertretend für einen Großteil der Rezipienten. Selbst vom Männermagazin Esquire wurde das neue »Kapital« zum »wichtigsten Buch des 21.Jahrhunderts« erklärt.
Dass sich zuletzt auch die Gegner Pikettys und seiner »neue(n) Bibel der Umverteilungspolitiker« (Manager-Magazin) formiert haben, dürfte die Zuwendung seiner Unterstützer nur noch steigern. Chris Giles hatte in der Financial Times vergangene Woche dem Ökonomen mit dem »Rockstar-Status« »gravierende Fehler« bei der Bearbeitung der Statistiken vorgeworfen und damit Pikettys Thesen in Frage gestellt, selbst aber wiederum mit dubiosen Zahlen argumentiert und damit im Netz wütende Kommentare hervorgerufen. Etwas weniger öffentlichkeitswirksam hatte bereits vorher der Präsident des konservativen Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn, in der FAZ davor gewarnt, dass Piketty »wie Marx« bereits vor ihm lediglich »eine Sehnsucht der Bevölkerung bedient«, von der Sinn natürlich nichts wissen wollte: die Sehnsucht nach weniger so­zialer Ungleichheit.
Zweifellos also hat der an der Paris School of Economics lehrende 42jährige mit seiner Studie den Zeitgeist getroffen. Die Charakterisierung Pikettys durch Pulitzer-Preisträger Sam Tanenhaus als »intellektuelle Overnight-Sensation«, die »die Moden und Gefühle des Augenblicks« zu reflektieren in der Lage sei, ist so falsch nicht. Denn die wachsende Ungleichheit, die Piketty für die vergangenen beiden Jahrhunderte und für knapp 30 Länder statistisch erstmals wirklich für so lange Zeiträume und mit äußerster Akribie belegt, ist spätestens seit Ausbruch der Finanzkrise zum Dauerthema geworden. Anfang des Jahres hatte selbst der Internationale Währungsfonds (IWF), ansonsten kaum für seine Kapitalismuskritik bekannt, vor einer Zunahme der Ungleichheit in der Welt gewarnt. Und in einer Studie der US-Hilfsorganisation Oxfam waren unlängst aktuelle Zahlen dazu veröffentlicht worden: 85 Prozent des globalen Vermögens befänden sich in den Händen des reichsten einen Prozents, die reichsten 85 Personen besäßen alleine gar so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung zusammengenommen. In der Parole der »Occupy-Wall-Street«-Bewegung schlug sich dieses Verhältnis nieder: »We are the 99 %!«

Piketty liefert auch dafür die Zahlen. 95 Prozent des Einkommenszuwachses zwischen 2010 und 2012 seien in die Taschen des einen Prozent der Vermögenden geflossen, konstatiert er. Besonders in den USA sei die soziale Ungleichheit »höher als in jeder anderen Gesellschaft – und das seit Menschengedenken und überall auf der Welt«, heißt es weiter. Dass es sich hier allerdings beileibe um keine Momentaufnahme handelt, ist der Kern seiner Argumentation. Piketty bringt das »Gesetz der kapitalistischen Reichtumsverteilung« auf die einfache Formel, dass die Rendite auf Privatvermögen im Normalfall größer sei als das Wirtschaftswachstum und damit das »Einkommen aus Arbeit nicht mit dem Einkommen aus bereits angehäuftem Vermögen Schritt halten« könne. Oder kurz: r > g. Während sich die Zuwächse der Bruttoinlandsprodukte in den vergangenen Jahrhunderten durchschnittlich zwischen ein und eineinhalb Prozent bewegten, hätten die Erträge auf Anlagen in Aktien, Anleihen und Immobilien sich im Schnitt auf viereinhalb bis fünf Prozent pro Jahr belaufen. Vor allem seit in den siebziger Jahren die Goldbindung des Dollar aufgehoben und die Finanzmärkte liberalisiert wurden, habe sich die Dynamik der Vermögensbildung noch beschleunigt. Denn für Finanzprodukte habe die Rendite »eher bei sechs oder sieben Prozent« gelegen, teilte Piketty der SZ gegenüber zusammenfassend mit.
Dass all dies eine »Tendenz hin zu einer Oli­garchie« begründe, die den entzauberten bürgerlichen Mythen von Chancengleichheit und Leistungsprinzip diametral entgegensteht, ist der Grund der Empörung, den Piketty mit seiner Studie empirisch unterfüttert. Wie gering die soziale Mobilität auch in den westlichen Industriestaaten ist, hatte zuletzt der britische Historiker Gregory Clark anhand einer breit angelegten Analyse von Familiennamen der Oberschicht gezeigt. Das Ergebnis: Vor allem die Vererbung immer größerer Vermögen begründe eine fast feudal anmutende Stabilität der Oberschicht. »Die Vergangenheit frisst die Zukunft auf«, kommentiert Piketty diese neue Ständeordnung, die ihn an das frühe 19. Jahrhundert erinnere und die – ein Gedanke, der auch die Bewegungen der Platzbesetzungen rund um den Globus bestimmt – auch die Demokratie gefährde.

In der Vergangenheit liegt allerdings auch die Hoffnung Pikettys begründet. Denn die Tendenz zur immer höheren Vermögenskonzentration – auch hier präsentiert er eine beeindruckende Masse an Zahlenmaterial – war weder ungebrochen noch gesetzmäßig: In der Epoche zwischen 1910 und 1950 und teilweise bis in die siebziger Jahre hinein habe eine Umkehrung des Verhältnisses von Rendite und Wirtschaftswachstum stattgefunden, aus der Piketty seine politische Hoffnung bezieht. Weniger die Vermögensvernichtungen durch die beiden Weltkriege, deren Ausmaße den größten Anteil an dieser Gegentendenz ausmachten, haben es Piketty dabei natürlich angetan, sondern die politischen Maßnahmen, die seit den Zwanzigern, vor allem aber im New Deal in den USA der Dreißiger und in den westlichen Nachkriegsgesellschaften ergriffen wurden. Im Zentrum seiner Argumentation steht die zunehmende Besteuerung von hohen Einkommen und Vermögen zum Aufbau von Sozialsystemen und öffentlicher Infrastruktur, die Piketty zufolge für ein halbes Jahrhundert einmalig ein wenig mehr Egalität hat schaffen können, seit den siebziger Jahren aber überall drastisch reduziert wurde.
Wenn auch »keine Naturgewalt, die das Gewicht des Kapitals verringern würde«, existiere, so doch immerhin die Staatsgewalt, der Pikettys hoffnungsvoller Blick allein gilt. Neben einigen kleineren Reformideen ist es eine globale Ver­mögens­besteuerung, die je nach Vermögenshöhe zwischen 0,1 und zehn Prozent jährlich liegen solle und auf die sich alle Staaten zu einigen hätten, mit der Piketty die Ungleichheit reduzieren und die Verschuldung der Staaten abbauen will. Eine nicht nur angesichts des gegenwärtigen Wettbewerbs der Standorte um das global fluktuierende Kapital und die besten Rentabilitätsbedingungen unrealistisch anmutende, sondern auch erstaunlich dröge Forderung für einen, der schon verschiedentlich als »Marx des 21. Jahrhunderts« bezeichnet wurde.

Ein solcher will der Franzose allerdings auch gar nicht sein. Auch wenn seine Studien Marx’ Annahme von einer relativen Verelendung der Proletarisierten gegenüber den Kapitalbesitzern zu bestätigen scheinen, will Piketty unter keinen Umständen an den Grundlagen der kapitalistischen Akkumulation, von Eigentum, monetär vermitteltem Warentausch und Ausbeutung der Arbeitskraft, rütteln. »I don’t care for Marx«, hat Piketty gegenüber der Zeitschrift New Republic klargestellt. »Ich bewundere den Kapitalismus, ich bewundere das Privateigentum und ich bewun­dere die Marktwirtschaft«, wurde Piketty in einem gerade erschienenen Interview mit der FAZ noch deutlicher. Dort mag man sich auch darüber gefreut haben, dass der »Starökonom« auch geflissentlich bestätigte, »niemals Sympathie für den Kommunismus« gehegt zu haben. Bereits Anfang Mai hatte Nils Minkmar, Feuilletonchef des Blatts, das »geradezu obsessive« Bemühen Pikettys, »pragmatisch und im Sinne des Common Sense zu formulieren«, erfreut zur Kenntnis genommen.
Angst muss man auf den Kommandohöhen des Kapitals vor dem Mann also nicht haben. Auch darin ist er ein Ausdruck der »Moden und Gefühle des Augenblicks«, in denen sich von Rio bis Athen und von Kairo bis Washington über den Protest hinaus keine Bewegung zur Aufhebung der »ganzen alten Scheiße« (Marx) hat bilden können. Immerhin aber belegt er selbst, dass jenseits des medialen Hypes die Hoffnung auf eine Umverteilung innerhalb des Kapitalismus derzeit genauso wenig auf der Tagesordnung der Politik steht wie die »Expropriation der Expropriateure« (Marx) auf der Tagesordnung der Proletarier aller Länder.