Die britische Musikerin FKA twigs

Feenfalsett im Altbau

Feinster Pop zum Rotwein: Die britische Musikerin FKA twigs alias Tahliah Barnett hat die Kritik umgehauen. Thomas Ewald versucht ein nüchternes Fazit.

Walgesänge, Hirschschreie, Panflöten und Hammerschläge: Es gibt wenige Musikrichtungen, die eine solche Mischung vertragen, ohne dass das Ergebnis eine künstliche Plastikspiritualität wäre, die einem das Ohr vollschmiert. Aber TripHop ist eine dieser glücklichen Stilarten. Dank des meist am HipHop orientierten 96-Beats-per-Minute-Schemas und den zum Bersten gefüllten Bass­lines tropft es beim TripHop dick, fast geleeartig aus den Boxen. Das gibt dem »Bristol Sound«, benannt nach der Herkunftsstadt des in den End­achtzigern entstandenen Musikgenres, ein so sattes Klanggerüst, dass es jede Cheesiness einfach schluckt. Da verwundert es auch nicht, dass plötzlich eine Fee auftaucht, die als Epigonin von Beth Gibbons, der einstigen Frontfrau von Portishead, 20 Jahre nach dem Durchbruch des TripHop gestandene Musikkritiker in verliebte Teens verwandelt.
Das puppengleiche Wesen nennt sich FKA twigs. Die Stücke der 26jährigen Engländerin wurden auf dem Cover der Spex jüngst als »Musik zur Zeit« bezeichnet. Und da die Gegenwart eine komplizierte ist und niemand – bis auf den frisch ernannten CDU-Generalsekretär und Experten für die moderne Zeit, Peter Tauber – so richtig weiß, was sie, die Jetztzeit, ausmacht, kann man sich schon mal auf ein sperriges Werk einstellen. Doch Fehlanzeige: Das Album von FKA twigs mit dem Titel »LP1«, einem Ausdruck, der an eine Produktionseinheit erinnert, lässt sich gut an. Die Beats auf »LP1« sind manchmal zwar ein wenig asymmetrisch, mit leicht stolpernden Tonspuren, aber im Großen und Ganzen ist das feinster Pop für Altbauwohnungen, in denen zum Kiffen eine Kerze angezündet und der Rotwein im Glas geschwenkt wird. Damit schließt Tahliah Barnett, so der bürgerliche Name der als Ausnahmetalent gefeierten Künstlerin, an die Songs von Tricky, Massive Attack und Portishead an.
Doch was stört, ist diese Messdienerinnenstimme. Barnett hat sich entschieden, fast all ihre klugen, obskuren, düsteren, traurigen Texte im höchsten Falsett vorzutragen. Wenn man das mit In-Ear-Kopfhörern hört, kann das sehr unangenehm werden – als würde ein Nagel das Trommelfell anstupsen, ganz sachte zwar, aber immerhin mit einer Penetranz, die ein mehrmaliges Durchhören des Albums fast unmöglich macht. Da helfen auch die unglaublich sauber und gut produzierten Beats nicht, die allesamt von bereits bekannten Könnern stammen. Sie können das Feenfalsett einfach nicht schlucken.
Das ist zwar schade, aber nicht weiter schlimm, schließlich handelt es sich um ein Debütalbum, es ist ja noch Luft nach oben. In manchen Stücken, wie zum Beispiel in der als Appetizer ausgekoppelten Single »Two Weeks«, gelingt FKA twigs eine Mischung aus spielerischen, dem Rap entlehnten Versverschluckern und langgezogenen Gesangspassagen, die richtig gut tut. Und auch auf den ­bereits erschienenen Extended Playern mit den Titeln »EP1« und »EP2« finden sich einige Sahnestücke.
Doch wieso wird eine junge, in Interviews sehr schüchtern und zurückgezogen wirkende Sängerin, die aus einem englischen Kaff nach London floh und bis vor Kurzem als Kellnerin arbeitete und benachteiligten Jugendlichen das Musizieren beibrachte, von erfah­renen Kritikern als perfekte Künstlerin gefeiert? Da entsteht eine Fallhöhe, die für eine so zerbrechliche Person – ihren Spitznamen »twigs« bekam Tahliah Barnett, weil sie durch ihr ständiges Knacken mit den Fingern auffiel – nicht gut sein kann.
Wenn eine Platte auf dem vergleichsweise jungen Label Young Turks und in Zusammenarbeit mit den altehrwürdigen XL Recordings erscheint – die in den Neunzigern Prodigy veröffentlichten und vor einigen Jahren für Gil Scott Herons Comeback verantwortlich waren –, dann geht man wohl davon aus, dass da Großes auf die Platte gepresst wurde. Und mit »man« ist hier die Kritikerschar gemeint. Sei es die Szene-Website Pitchfork, das kompetente Kulturmagazin Dazed, das geschätzte Magazin des Berliner Musikversands HHV oder eben die Spex: Sie alle werden zu Fangirls und -boys, die vor FKA twigs niederknien.
Aber wenn man – in diesem Fall ist der Autor gemeint – selbst nach mehrmaligem Hören den Soul vermisst? Also genau das, was »Glory Box« von Portishead, »Teardrop« von Massive Attack oder »Hell Is Round The Corner« von Tricky auszeichnet. Das sollte dem Autor jetzt bitte nicht als Rückwärtsgewandtheit und ewiggestrige Engstirnigkeit ausgelegt werden. Die erwähnten Stücke und Künstler sind eben eine Art Goldstandard. So ist ja auch FKA twigs keine Vertreterin des »intelligent R & B«, sondern immer noch eine Gesandte des TripHop – wenn auch in neuem Gewand. Und daher – und um einige Menschen, die jetzt »Buh« rufen wollen, zu beruhigen – können auch aktuelle Acts genannt werden, wie SZA oder JMSN, die es durchaus verstehen, dank ihrer Stimmen mehr Soul in ihre Lieder zu legen als FKA twigs. Doch da ist der Hype nicht so groß.
Vielleicht liegt es daran, dass die Gegenwart der Musikkritik dem Superlativ erlegen ist. Nachdem die Begriffe »mega«, »ultra« und »über« in den Neunzigern so oft benutzt wurden, dass sie bis in alle Ewigkeit als Worthülsen ihr Dasein auf Retropartys fristen werden, sind Steigerungen kaum möglich. Da sich am »megasten« nicht nur schrecklich liest, sondern auch einfach keinen Sinn ergibt, scheint der Superlativ ein Gefühl geworden zu sein: Es gibt in der Beurteilung keine Skala und kein Maß mehr, sondern nur noch zwei Punkte auf dem Koordinatensystem. Und so endet dieser Text mit etwas ganz Verrücktem: Einem Fazit, das der Platte »LP1« Mittelmaß bescheinigt und auf der Werteskala Platz nach oben und unten lässt. Ich bin auf das nächste Werk der Tahliah Barnett gespannt.

FKA twigs: LP1. (Young Turks/Indigo)