Die Widerstandskämpferin Milena Jesenská

Das tiefe Schweigen

An Milena Jesenská, die nicht nur Briefpartnerin Franz Kafkas, sondern auch Widerstandskämpferin gegen das nationalsozialistische Deutschland und ­Kritikerin des Stalinismus war, erinnert Birgit Schmidt.

Ihr Todestag im Mai vor 70 Jahren wurde nicht begangen, ihrer Ermordung im Konzentrationslager Ravensbrück wurde nicht gedacht. Vielleicht liegt das daran, dass die Historiographie Frauen, die im Zusammenhang mit berühmten Männern in Erscheinung getreten sind, zu Recht nicht mehr herausheben möchte. Aber die Tschechin Milena Jesenská war weit mehr als eine der Freundinnen von Franz Kafka, dessen Briefe an sie als »Briefe an Milena« in die Literaturgeschichte eingegangen sind.
Milena Jesenská war, um mit ihren letzten Lebensjahren zu beginnen, eine Widerstandskämpferin gegen die deutsche Besatzung ihres Landes und ihrer Stadt Prag. Sie hat Bedrohte versteckt und ihnen zur Flucht verholfen; in Israel wird sie als Gerechte unter den Völkern verehrt. Irgendwann fiel sie mit ihrer Tätigkeit auf oder wurde denunziert – es folgte die Verhaftung, dann die Verschleppung nach Ravensbrück und der Tod im Lager. Aber Jesenská war auch mehr als eine Kämpferin: Sie war eine herausragende Journalistin und eine der ersten linken Intellektuellen und Kommunistinnen in der Tschechoslowakei, die die Hintergründe der politischen Prozesse in der Sowjetunion früh durchschaute und sich beizeiten gegen die Stalinisierung der Kommunistischen Parteien und der osteuropäischen Länder wandte. In Ravensbrück dann wurde sie mit einer der schmerzlichsten Tatsache konfrontiert, die die Anhänger der kommunistischen Weltbewegung zu reflektieren gezwungen waren und die bisweilen noch heute bestritten wird: mit der Auslieferung deutscher Kommunisten und Kommunistinnen an die Gestapo durch die Sowjetunion im Winter 1940/41 infolge des Paktes zwischen Hitler und Stalin.

Boheme und Kommunismus

All das war noch nicht abzusehen, als die noch sehr junge Jesenská zu Beginn der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit Franz Kafka korrespondierte. Damals war sie verheiratet mit dem Dichter und Bohemien Ernst Polak und lebte mit diesem in Wien. Sie lebten schlecht, das Geld war solchermaßen knapp, dass Jesenská sich gar als Gepäckträgerin auf dem Wiener Hauptbahnhof verdingen musste.
Aus einer Übersetzungsarbeit – sie arbeitete an Kafkas Erzählung »Der Heizer«, die später Teil des Romanfragments »Der Verschollene« wurde – enwickelte sich 1920 die Beziehung zu dem 13 Jahre Älteren. Es war eine vorwiegend briefliche Beziehung, wie der ängstliche Kafka sie im Umgang mit Frauen bevorzugte, und 1921 war sie bereits wieder beendet. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte Jesenská aus ihren finanziellen Nöten heraus bereits begonnen, für tschechische Zeitungen zu schreiben. Und 1925, bevor sie endgültig nach Prag zurückkehrte, lebte sie mehrere Monate bei ihrer Freundin, der Individualpsychologin und Frauenrechtlerin Alice Rühle-Gerstel und deren Mann, dem Rätekommunisten und Reformpädagogen Otto Rühle, in Dresden und unterstützte deren reformpädagogische Arbeit durch Publikationen in dem von beiden herausge­gebenen Periodikum Das proletarische Kind.
Die folgenden Jahre waren gute Jahre. Jesenská, mittlerweile auch eingeschriebenes Mitglied der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, genoss ihren Erfolg als Autorin. Sie heiratete und brachte im Jahr 1928 eine Tochter zur Welt, doch aus einem Unfall und einem sich daran anschließenden Behandlungsfehler resultierte eine Morphiumsucht, die sie erst Ende der dreißiger Jahre überwand.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich von den Kommunisten bereits wieder gelöst. »Schon 1937«, schreibt ihre spätere Freundin Margarete Buber-Neumann, »hatte sie alle Spuren ihrer kommunistischen Vergangenheit überwunden und sich von jeder Art Wunschdenken befreit. Sie erkannte die Bedrohung der Freiheit, ganz gleich, von welcher Seite sie kam, und hatte den Mut, mit gleichem Nachdruck die nationalsozialistische ebenso wie die sowjetrussische Diktatur zu verurteilen. Das brachte sie in entscheidenden Widerspruch zu einem großen Teil der Prager Intelligenz, die, betont antifaschistisch, vor der sowjetrussischen Wirklichkeit die Augen verschloss.«
1933 war die Tschechoslowakei, war insbesondere Prag zur ersten Anlaufstelle derjenigen Deutschen geworden, die sich vor dem nationalsozialistischen Regime ins nahe Ausland geflüchtet hatten. Es war damals noch möglich gewesen, sich als Wanderer oder Skifahrer getarnt über die Grenze zu schmuggeln. Deutsch war eine der beiden Landessprachen der Tschechoslowakei, und die tschechoslowakische Regierung war den Flüchtlingen, sofern diese nicht gegen die Auflagen verstießen, die es ihnen verboten zu arbeiten oder sich politisch zu betätigen, wohlgesonnen.
In Prag tummelten sich bald Vertreter jeder nur denkbaren politischen Richtung. Um den ehemaligen Nationalsozialisten Otto Strasser, der hier versuchte, eine »Schwarze Front« zu organisieren, gruppierte sich sogar die extreme Rechte. Ihr gegenüber standen diejenigen organisierten Kommunisten und Kommunistinnen, die jede Moskauer Verlautbarung gegenüber sich selbst und anderen vertreten mussten. Beispielsweise die Behauptung, dass man angesichts des Nationalsozialismus keine Niederlage erlitten, sondern dass man lediglich als Kommunist einen geordneten Rückzug angetreten habe.
Alice Rühle-Gerstel, die mit ihrem Mann bereits 1932 von Dresden nach Prag gegangen war, hat im tschechoslowakischen Exil den Roman »Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit« verfasst, dessen Protagonistin eine bis zu diesem Zeitpunkt organisierte Kommunistin ist, die aber bald in Widerspruch zur verordneten Parteilinie gerät: »›Wir hätten kämpfen müssen‹, dachte Hanna verquält, sie dachte es zum hundertsten Mal, wie viele, wie sehr viele. ›Wir waren zu ordentlich. Wir haben auf die Parole gewartet, es kam keine …‹«
Doch von der Partei muss sie sich sagen lassen: »Niederlage nennst du das, Genossin? Das ist eine ultralinke Abweichung! Wir haben keine Niederlage erlitten! Das revolutionäre Proletariat hat sich überhaupt auf keinen Kampf eingelassen, da konnte es auch keine Niederlage erleiden! Ist doch logisch, was?«
Als Alice Rühle-Gerstel sich anschickte, Prag zu verlassen und ihrem Mann nach Mexiko zu folgen, war ihre Freundin Milena noch eine überzeugte Kommunistin, war Redakteurin des kommunistischen Zentralorgans und bewegte sich in den entsprechenden Kreisen. So war sie befreundet mit Julius Fuík, einem Gründungsmitglied der KP der Tschechoslowakei, der – tragischerweise – seither zu einem der bekanntesten Tschechen des 20. Jahrhunderts geworden ist. Fucík, Mitglied der ZK der Partei, wurde im April 1942 in Prag verhaftet und im Prager Gefängnis Pankrác inhaftiert, wo seine »Reportage unter dem Strang geschrieben« entstand, die zahlreiche Auflagen erlebte.
Darin weist sich Fucík, der im Mai 1943 nach Deutschland deportiert und im September in Plötzensee hingerichtet wurde, als ein im Wortsinn gläubiger Kommunist aus. Es gibt in dem Buch zahlreiche Stellen wie die folgende, die anlässlich des 1. Mai entstanden ist: »Um diese Stunde sind in den Straßen von Moskau schon die ersten Truppen zur Maiparade angetreten, und jetzt kämpfen um diese Stunde Millionen Menschen die letzte Schlacht für die Freiheit des Menschen, und Tausende fallen in diesem Kampf. Ich bin einer von ihnen. Und einer von ihnen zu sein, einer der Kämpfer der letzten Schlacht, das ist schön.«
Milena Jesenská hingegen durchschaute die tatsächliche politische Motivation der Moskauer Prozesse, sie durchschaute das Stalinsche System, wie es nach 1933 in Prag auch zahlreiche Vertreter von Gruppen gab, die mit dem Stalinismus gebrochen hatten. Es gab ehemalige Mitglieder der Sozialistischen Arbeiterpartei, die sich 1932 aufgelöst hatte, es gab Mitglieder der Kommunistischen Partei Opposition – Anhänger der oppositionellen Kommunisten von Heinrich Brandler und August Thalheimer –, die sich gegen die von der Komintern verordnete These wandten, dass es sich bei Sozialdemokraten um Sozialfaschisten handele. Es gab vermeintliche und tatsächliche Trotzkisten. Dabei war es keineswegs ungefährlich, sich gegen die Kommunistischen Parteien zu stellen. »Seit dem ersten Moskauer Prozess«, schreibt der in Prag exilierte Deutsche Henry Jacoby in seinen Erinnerungen, »hatten alle linken Gruppierungen – gleichgültig ob Brandlerianer, Trotzkisten oder andere – damit zu rechnen, als ›trotzkistische‹ Gestapoagenten von den Stalinisten denunziert zu werden.«

Die Diktatur der Lüge

Henry Jacoby war als junger Mann Anarchist gewesen, hatte in Ernst Friedrichs AntikriegsMuseum in Berlin mitgearbeitet und war 1933 zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Nach seiner Entlassung floh er nach Prag und kam mit seiner Frau Frieda bei Milena Jesenská unter – allerdings zu einem recht schlechten Zeitpunkt. »Milena leitete die Redaktion der kommunistischen Zeitschrift Tvorba«, berichtet Jacoby, »hatte aber, als ich ankam, bereits innerlich mit der Partei gebrochen, und Führer der ausgeschlossenen Parteiopposition wie Kalandra und Josef Guttmann wurden abends auf ein verabredetes Klopfzeichen eingelassen. Manchen Oppositionellen verhalf sie zu einem Honorar, indem sie sie Artikel unter einem Pseudonym schreiben ließ. Bald wurde aber auch sie aus der Partei ausgeschlossen. Als sie später von den Nazis im Konzentrationslager Ravensbrück, wo sie heldenhaften Widerstand leistete, in den Tod getrieben wurde, drangsalierten sie dort die ehemaligen Parteigenossen bis in die Todesstunde hinein. Ich lernte sie im Zustand innerer Zerrissenheit und äußerer Vernachlässigung kennen. Frieda hatte alle Mühe, mit dem Geld, das nach dem Kauf von Morphium übrig blieb, den Haushalt zu führen.«
Im Jahr 1937 jedoch überwand Milena Jesenská ihre Sucht. Der kommunistischen Partei entfremdet, befreundete sie sich mit William Schlamm, dem Herausgeber der zuvor in Berlin von Carl von Ossietzky geleiteten Weltbühne. Schlamm verlor die Weltbühne an den Kommunisten Hermann Budzislawski und siedelte im Sommer 1938 in die Vereinigten Staaten über. Dort vollzog der ehemalige Kommunist eine Wandlung zum Konservativen, die anhand seines Buches »Die Diktatur der Lüge«, seine Abrechnung mit Stalin, nachvollzogen werden kann. In seinen späteren Lebensjahren rückte er immer weiter nach rechts und wurde sogar ein Gegner der antiautoritären Linken.
Schlamm war 1938 mit der Hilfe von Milena Jesenská gerade noch rechtzeitig vor dem Münchner Abkommen, das die Tschechoslowakei den Deutschen preisgab, außer Landes ­gekommen. »Die Deutschen sind einfach unbeschreiblich widerliche Menschen«, hatte Milena Jesenská im Jahr 1922 an Karel Scheinpflug geschrieben, einen Redakteur von Naródní ­Listy, der ersten Zeitung, in der sie veröffentlicht hatte, »trotz allem, auch wenn man nicht weiß, was man ihnen eigentlich vorwerfen kann, höchstens eine Reihe von Korrektheiten.«
Keine 20 Jahre später, im Frühjahr 1939, wusste sie, was den Deutschen vorzuwerfen war. Am 15. März 1939 marschierte die Wehrmacht ein, Prag wurde besetzt. »Um ½ 8 Uhr«, schreibt Jesenská, »machten sich Schwärme von Kindern auf den Schulweg, so wie immer. Arbeiter und Angestellte fuhren zur Arbeit, so wie immer. Die Straßenbahnen waren überfüllt, so wie immer. Nur die Menschen, die waren anders. Sie standen da und schwiegen. Nie noch hörte ich so viele Menschen so tief schweigen. Keine Ansammlungen auf den Straßen. In den Büros hob keiner den Kopf vom Schreibtisch …«
Fluchthilfe und Deportation

Milena Jesenská schloss sich einer Widerstandsgruppe an, die der Deutsche Graf Joachim von Zedtwitz organisiert hatte. Man beschränkte sich nicht auf Propaganda, also darauf, andere aufzufordern, etwas zu tun. Man versteckte Gefährdete – auch in der Wohnung Jesenskás – und half ihnen über die Grenze. Bemerkenswert ist jedoch, dass Jesenská, die so vielen zur Flucht verhalf, für sich selbst eine Flucht nicht in Erwägung zog. Sie blieb in Prag, wurde am 11. November 1939 von der Gestapo verhaftet und im Prager Gefängnis Pankrác gefangen gehalten. Im Juni 1940 wurde sie als sogenannter Schutzhäftling in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück deportiert.
Dort traf sie auf eine Frau, die ihrerseits allen Grund gehabt hatte, mit den Kommunisten zu brechen: Margarete Buber-Neumann war, gemeinsam mit ihrer Schwester Babette, als junge Frau begeistert in die Kommunistische Partei eingetreten und ihrem Lebensgefährten Heinz Neumann im Jahr 1931 nach Moskau gefolgt. Dort wurde Neumann verhaftet und kurz darauf erschossen. Margarete Buber-Neumann, auch sie war verhaftet worden, trat einen langen Leidensweg an. »Anfang August des Jahres 1940«, erinnert sie sich in der Biographie, die sie über Milena Jesenská geschrieben hat, »wurde ich in Ravensbrück eingeliefert. Hinter mir lagen die Schreckensjahre in Sowjetrussland: Verhaftung durch die NKWD in Moskau, Verurteilung zu fünf Jahren Zwangsarbeit, Aufenthalt im kaukasischen Konzentrationslager Karaganda und dann die Auslieferung durch die russische Staatspolizei an die Deutschen im Jahr 1940. Dem folgten Haft und monatelange Verhöre bei der Gestapo in Berlin und schließlich die Überführung ins deutsche KZ.«
Margarete Buber-Neumann hatte tatsächlich zu jener Menschengruppe gehört, deren Existenz von Kommunisten lange bestritten worden ist: Sie war von der sowjetischen Geheimpolizei an die Deutschen ausgeliefert worden, nachdem im September 1939 der sogenannte Hitler-Stalin-Pakt, das Bündnis zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion, zustande gekommen war.
Wenige der Betroffenen haben dies überlebt, die meisten verschwanden, nachdem sie von der Gestapo verhört worden waren, in einem deutschen Lager. Überlebt hat Waltraut Nicolas, die Ehefrau des Bühnen- und Drehbuchautors Ernst Ottwalt, dieser schrieb für die Piscator-Bühne und außerdem das Drehbuch zu Bertolt Brechts Film »Kuhle Wampe«.
Nicolas und Ottwalt waren 1936 in Moskau verhaftet worden. Während Ernst Ottwalt im Gulag verschwand, wurde seine Frau, um die Jahreswende 1940/41 an das nationalsozia­listische Deutschland überstellt, zu dessen Apologetin: Unter dem Namen Irene Cordes veröffentlichte sie ein Buch über ihre Erfahrungen in der Sowjetunion und in der Lagerhaft, »Der Weg ohne Gnade«; es ist 1958 noch einmal unter dem Titel »Die Kraft, das Ärgste zu ertragen« herausgekommen. Im letzten Kapitel dieses Buchs, das mit dem Titel »Das Wunder« überschrieben ist, behauptet sie, alle Betroffenen seien glücklich gewesen, an Deutschland ausgeliefert zu werden. »Und jeder von uns weiß:«, schreibt sie dort, »jenseits dieser Brücke ist Deutschland, ist die Freiheit …«
Das Gegenteil war der Fall: Margarete Buber-Neumann, die mit einem Transport von 28 Männern und drei Frauen nach Brest-Litowsk gebracht und dort an die SS übergeben worden war, berichtet zwar einerseits von bis zu diesem Zeitpunkt überzeugten Kommunisten, die bereits auf dem Transport begonnen hatten, sich geistig an das NS-Regime anzupassen, aber auch von der Verzweiflung insbesondere der jüdischen Ausgelieferten, deren Ermordung gewiss war.
Dem jüdischen Physiker Alexander Weissberg-Cybulski, auch er war von den sowjetischen Behörden an die Gestapo übergeben worden, gelang es hingegen zu überleben. Von ihm stammt das Erinnerungsbuch »Hexensabbat. Die Gedankenpolizei – Die grosse Tschistka«. Darin schreibt er über die Nacht der Auslieferung: »In der Sylvesternacht des Jahres 1939/40 setzte sich der Zug in Bewegung. Er brachte 70 geschlagene Leute nach Hause. Sie verließen das Vaterland, das sie selber gewählt hatten, und kehrten in eine Heimat zurück, die ihnen fremd geworden war. Sie standen zwischen den Fronten. Sie waren heimatlos geworden in beiden Ländern. Wir fuhren durch das verwüstete Polen auf Brest-Litowsk zu. An der Burgbrücke erwartete uns der Apparat des andern totalitären Systems in Europa, die deutsche Gestapo.«
Margarete Buber-Neumann kam in das Berliner Polizeigefängnis am Alexanderplatz und wurde am 2. August 1940 als Schutzhäftling nach Ravensbrück verbracht, wo es nach ihren Angaben zu diesem Zeitpunkt bereits 4 200 gefangene Frauen gab. Bald sollte Ravensbrück sich zum größten Konzentrationslager für Frauen entwickeln: »In den Jahren 1939 bis 1945«, teilt die heutige Gedenkstätte mit, »sind etwa 132 000 Frauen und Kinder, 20 000 Männer und 1 000 weibliche Jugendliche als Häftlinge registriert worden. Zehntausende wurden ermordet.«
Als Margarete Buber-Neumann nach Ravensbrück kam, galt sie den anderen noch als Kommunistin: »Schon am dritten Tag meines Aufenthaltes in Ravensbrück«, schreibt sie, »stellten die deutschen kommunistischen Mithäftlinge ein Verhör mit mir an, weil sie wussten, dass ich die Lebensgefährtin Heinz Neumanns war und aus den bitteren Erfahrungen in Sowjetrussland keinen Hehl machte. Nach dem Verhör drückten sie mir den Stempel ›Verräterin‹ auf und behaupteten, ich verbreite Lügen über Sowjetrussland. Da die Kommunistinnen in Ravensbrück zur Prominenz unter den Häftlingen gehörten, hatte ihre Ächtung den gewünschten Erfolg: Die politischen Mitgefangenen mieden mich, als hätte ich eine ansteckende Krankheit.«

Abtrünnige Kommunistinnen

Die Freundschaft zwischen Buber-Neumann und Jesenská im Lager beruhte auf der gemeinsamen Ablehnung der von den Kommunisten eingeforderten Disziplin, die unbedingten Glauben an die Sowjetunion und an Stalin verlangte, ein Glaube allerdings, der von vielen auch deshalb aufgebracht wurde, weil er in unerträglicher Situation psychologischen Schutz bot und es ihnen ermöglichte, die Umgebung und das Leiden zu ertragen.
Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 war die Welt für diejenigen wieder ins Lot geraten, die insgeheim, denn Zweifel äußern durfte man gegenüber Genossen und Genossinnen nicht, unter dem Bündnis zwischen Deutschland und der Sowjet­union gelitten hatten. Aber der Vormarsch der Deutschen schien unaufhaltsam zu sein. Erst die Schlacht um Stalingrad brachte im ­Februar 1943 die Wende.
In der Tschechoslowakei begann im Juni 1942, nach dem Attentat gegen den SS-Obergruppenführer und stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich, die Racheraserei der Deutschen. »Die Haufen der Toten«, schrieb Fucík in seiner Zelle, »türmen sich. Sie zählen nicht mehr nach Dutzenden, nicht nach Hunderten, sondern nach Tausenden. Das frische Blut reizt die Nüstern der Bestien. Sie ›amtieren‹ bis spät in die Nacht, sie ›amtieren‹ auch am Sonntag. Jetzt tragen sie alle die SS-Uniform, es ist ihr ›Feiertag‹, ihr Schlachtfest. Sie schicken Arbeiter in den Tod, Lehrer, Bauern, Schriftsteller, Beamte, sie schlachten Männer, Frauen und Kinder, sie rotten ganze Familien aus, sie brennen ganze Dörfer nieder. Der Tod durchs Blei geht durch das Land wie die Pest und ist nicht wählerisch.«
Noch heute ist der Name des Ortes Lidice, rund 20 Kilometer westlich von Prag gelegen, Synonym für den Schrecken der deutschen Herrschaft über die Tschechoslowakei: Am 9. Juni 1942 umstellten Gestapo, SS und Schutzpolizei den Ort, alle Männer über 15 Jahre wurden erschossen, die Frauen wurden nach Ravensbrück verschleppt, wo rund ein Drittel von ihnen ums Leben kam.
Milena Jesenská erkrankte dort im Herbst 1943 an einer Nierenentzündung. Nach langem Leiden unter den Bedingungen des Lagers und falscher Behandlung starb sie im Mai 1944. »Am Nachmittag des 15. Mai«, erinnert sich Margarete Buber-Neumann, »überbringt man mir während der Arbeitszeit die Nachricht, Milena liege im Sterben. Ich zögere keine Minute und verlasse ganz einfach den Arbeitsplatz. Was kann schon noch geschehen! Die Sterbende liegt in Euphorie. Ihr Gesicht strahlt, die Augen glänzend und dunkelblau, und als ich zu ihr trete, breitet sie die Arme aus, begrüßt mich mit dieser wunderschönen, ihr eigenen Geste. Sie kann nicht mehr sprechen. Aus dem Lager kommen die tschechischen Freunde, sie umringen das Bett, stehen draußen vorm Fenster, und voller Glückseligkeit blickt Milena auf alle, nimmt Abschied vom Leben. Am Abend verliert sie das Bewusstsein. Der Todeskampf dauert bis zum 17. Mai. Erst dann schleiche ich in die Baracke zurück. Für mich hat das Leben den Sinn verloren.«
Im Juni 1944 erfuhren die Häftlinge in Ravensbrück von der Invasion in der Normandie; am 30. April 1945 wurde das Lager Ravensbrück mit den zurückgelassenen Gefangenen befreit. Margarete Buber-Neumann war zuvor, am 21. April, mit der Auflage entlassen worden, sich bei einer zuständigen Gestapo-Stelle zu melden, und machte sich auf den Weg gen Westen. Hitler beging am 30. April Selbstmord, am 8. Mai 1945 trat die bedingungslose Kapitulation Deutschlands in Kraft.
Die 1948 gegründete tschechoslowakische Republik geriet in den Machtbereich der Sowjet­union, die alle Staaten unter ihrem Einfluss in den Folgejahren mit einer Welle von Prozessen überzog, die sich in erster Linie gegen Kommunisten richtete, die es auf ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten in ein westliches Land verschlagen hatte. Sie begann mit dem sogenannten Kostow-Prozess in Bulgarien und dem Rajk-Prozess in Ungarn und griff dann unter der Bezeichnung Slánský-Prozess auf die Tschechoslowakei über.
Der ehemalige ungarische Kommunist Georg Hermann Hodos, der von den Verfolgungen betroffen war und ein Standardwerk zum Thema verfasst hat, nannte, was die Geschichtsschreibung dem Sammelbegriff Slánský-Prozess subsumiert, das ärgste Blutbad, das der Stalinismus in den Satellitenstaaten angerichtet habe. Er schreibt: »Im Hauptprozess allein wurden elf Kommunisten hingerichtet; die Zahl der von 1948 bis 1952 vom Staatsgericht ausgesprochenen Todesurteile betrug 233, wovon 178 vollstreckt wurden. Nach der Hauptverhandlung erhielten mehr als 35 000 Personen hohe Gefängnisstrafen, 22 000 wurden ohne Gerichtsurteil in Arbeitslager gesperrt. Der Unterschied im Umfang des Terrors lässt sich mit der unterschiedlichen Geschichte beider Staaten erklären: Ungarn war vor dem Krieg ein halb-faschistisches Agrarland mit einer zahlenmäßig äußerst schwachen, illegalen Kommunistischen Partei, während in der industrialisierten, demokratischen Tschechoslowakei die KP nach Hitlers Machtergreifung neben der französischen die größte legale Partei Europas war. Sie stellte das stärkste Kontingent der Spanienkämpfer der Internationalen Brigade, und nach der Besetzung und Zerstückelung durch Hitler rettete sich ein bedeutender Teil der kommunistischen Kader nach Frankreich, später nach London, dem Sitz der Exilregierung. Sie zeichnete sich daher auch im paranoiden Weltbild Stalins durch die größte Anzahl der ›Unzuverlässigen‹ und ›Verdäch­tigen‹ aus.«
Stalin starb im März 1953. Doch in kultureller Hinsicht hatte der Slánský-Prozess noch lange Auswirkungen: Die Bücher von Franz Kafka konnten nicht gelesen, an Menschen wie Milena Jesenská konnte nicht erinnert werden.
Erst der mutige Germanist Eduard Goldstücker – er war der erste Botschafter der Tschechoslowakei in Israel gewesen, 1951 in Verbindung mit dem Slánský-Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt, 1955 aber rehabilitiert worden – brachte beide Namen wieder ins Gespräch. Goldstücker initiierte im Mai 1963 in der Nähe von Prag die berühmt gewordene Kafka-Konferenz. Das Buch »Adresát« von Milena Jesenská, das ihre Tochter Jana im Jahr 1969 veröffentlichte, durfte jedoch nicht ausgeliefert werden. Es erschien erst 1985 im Verlag Neue Kritik.

Eine Sammlung von Feuilletons und Reportagen Milena Jesenskás ist unter dem Titel »Alles ist Leben« 1990 im Verlag Neue Kritik erschienen. Eine Auswahl ihrer Briefe – diejenigen an Kafka gelten als verschollen – erschien unter dem Titel »Ich hätte zu antworten tage- und nächtelang« zuerst 1996 im Bollmann-Verlag, dann 1999 bei Fischer. Das Buch »Milena, Kafkas Freundin« von Margarete Buber-Neumann ist 1977 im Verlag Langen Müller veröffentlicht worden.