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Der von Willy Brandt 1972 eingeführte Radikalenerlass betraf Zehntausende, die nach wie vor auf Entschädigung warten. Niedersachsen will nun die Anwendung des Radikalenerlasses aufarbeiten.
»Wir wollen mehr Demokratie wagen«, sagte Willy Brandt in seiner häufig zitierten Regierungserklärung im Jahre 1969. Drei Jahre später führte die sozialliberale Koalition unter Vorsitz des sozialdemokratischen Bundeskanzlers den sogenannten Radikalenerlass ein und stellte damit all jene, die eine andere Vorstellung von Demokratie hatten oder sich auch bloß im Rahmen legaler demokratischer Partizipation an Protesten beteiligten, unter den Generalverdacht, »Verfassungsfeinde« zu sein.
Mit dem Radikalenerlass wurde die Überprüfung von bereits angestellten oder angehenden Beamten zur Norm. 3,5 Millionen Personen wurden überprüft, mehrheitlich Linke. Es wurden mehr als 35 000 Dossiers angefertigt und 11 000 Berufsverbote ausgesprochen. Mitte der siebziger Jahre wurde die Überprüfung den Ländern übertragen, die sie erst ab Mitte der achtziger Jahre allmählich abschafften. Bayern stellte 1991 als letztes Bundesland die Regelanfrage beim Verfassungsschutz ein. Die Rehabilitation der Betroffenen hingegen steht bislang aus.
Der Europäische Gerichtshof wertete bereits 1995 die Anwendung der »Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst«, wie der Radikalenerlass offiziell hieß, als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Jedoch wurde noch 2012 eine von der Linkspartei angestoßene Debatte im Bundestag unterbunden und der zugehörige Antrag auf Rehabilitation der Opfer des Berufsverbots abgelehnt. Nicht nur CDU/CSU und FDP verweigerten sich der Diskussion. Michael Hartmann (SPD), der jüngst wegen des Konsums von Crystal Meth in die Schlagzeilen geraten ist, bezeichnete den Antrag in der damaligen Debatte als »folkloristisch« und forderte vom Antragsteller der Linkspartei, Wolfgang Gehrke, dieser solle sich erst einmal »für all das Unrecht« entschuldigen, das er als ehemaliges Mitglied von KPD und DKP »direkt oder indirekt« zu verantworten habe. Auf eine Petition von Betroffenen im selben Jahr reagierte das Innenministerium empört: Es habe weder eine Bespitzelung politischer Oppositioneller noch Berufsverbote gegeben. Vielmehr habe es sich um »eine Maßnahme zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes« gehandelt, so die Antwort.
Nun gibt es einen neuen Vorschlag zur Rehabilitation, diesmal auf Landesebene, der bessere Chancen auf Erfolg zu haben scheint. Mitte Mai brachten die niedersächsischen Regierungsparteien SPD und Grüne einen Antrag zur »Aufarbeitung der Schicksale der von Berufsverboten betroffenen Personen« in den Landtag ein. Der Antrag wurde überraschenderweise von allen Parteien unterstützt, selbst FDP und CDU sprachen von begangenem Unrecht und der Notwendigkeit einer Aufarbeitung. Damit soll sich nun eine Kommission, bestehend aus Abgeordneten, Gewerkschaftern und Betroffenen, befassen.
Am Ende, so die Hoffnung, könnte auch eine materielle Wiedergutmachung stehen. »Rehabilitierung umfasst nicht nur moralische und politische Aspekte, sie beinhaltet auch die Behebung des angerichteten Schadens in finanzieller Hinsicht«, heißt es in einer Stellungnahme von Betroffenen. Ihre Forderungen werden auch von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) unterstützt. Mit einem Antrag an den Verdi-Bundeskongress im kommenden Jahr soll die Unterstützung noch vergrößert werden. Zudem fordern die Verfasser des Antrags die Abschaffung von Extremistenklauseln, die als Folge des Radikalenerlasses noch immer in manchen Tarifverträgen des Öffentlichen Dienstes zu finden sind.
Der Radikalenerlass steht exemplarisch für die deutschen Kontinuitäten nach dem von außen erzwungenen Ende des Nationalsozialismus. CDU/CSU, FDP und SPD waren sich damals einig, dass Kommunisten, und nicht etwa die über acht Millionen ehemaligen NSDAP-Mitglieder, eine Bedrohung für Deutschland darstellten. Während verdiente NS-Schergen überall in staatlichen Institutionen Fuß fassen konnten, wurden vermeintlich linke Lokführer und Postbeamte als Gefahr betrachtet. »Nazis rein, Linke raus«, fasste dies ein Artikel auf Zeit Online vergangenes Jahr treffend zusammen. Für Bundeskanzler Willy Brandt und die SPD war der Kampf gegen Linksradikale zugleich Teil des Kampfes gegen die innere linke Opposition, die sich entgegen dem 1959 verabschiedeten Godesberger Programm weiterhin auf den Marxismus als Teil der sozialdemokratischen Tradition berief. Zwar wird Brandt gerne mit den Worten zitiert, der Radikalenerlass sei einer seiner schwersten politischen Fehler gewesen. Jedoch verkörpert der »Patriot« Brandt zugleich die deutschnationale Ausrichtung der Sozialdemokratie. »Deutsche. Wir können stolz sein auf unser Land«, hieß es 1972 auf einem seiner Wahlplakate. Kritische Lehrer und Lehrerinnen, die das anders sahen, waren dementsprechend unerwünscht. Im Kern teilte die SPD die Meinung der CDU, die damals auf Plakaten verkündete: »Wir werden nicht zulassen, dass Kommunisten unsere Kinder zu Kommunisten erziehen.«
Diese alten Denkmuster sind immer noch weit verbreitet. Das zeitweilige Berufsverbot für den antifaschistisch engagierten Realschullehrer Michael Csaszkóczy von 2004 bis 2007 im damals von der CDU regierten Baden-Württemberg offenbarte den weiterhin vielerorts tiefsitzenden und emotional aufgeladenen Antikommunismus. Dieser trat auch in der Diskussion im niedersächsischen Landtag zu Tage. Angelika Jahns (CDU) relativierte die NS-Zeit, die sie in einem Atemzug mit der »SED-Diktatur« als »sehr schwierige Jahrzehnte« der deutschen Geschichte bezeichnete. Reinhold Hilbers (CDU) rief auf die Kritik der SPD an der damaligen Verfolgung Andersdenkender in den Saal: »Nicht Andersdenkende! Es ging um Kommunisten!« Aber auch der von der rot-grünen Landesregierung für den Antrag angegebene Grund, nämlich dass »politisch motivierte Berufsverbote, Bespitzelungen und Verdächtigungen nie wieder Instrumente des demokratischen Rechtsstaates sein dürfen«, ist angesichts der Beobachtung von kritischen Journalisten und Anwälten durch den niedersächsischen Verfassungsschutz skeptisch zu betrachten.
Aber es gibt positive Entwicklungen. Michael Csaszkóczy darf mittlerweile unterrichten und bekam vom Landgericht Karlsruhe 33 000 Euro Entschädigung vom Land Baden-Württemberg zugesprochen. Das birgt Hoffnung für die Betroffenen des Radikalenerlasses, die den niedersächsischen Vorschlag als wichtigen Schritt betrachten. In einer Stellungnahme sprechen sie von einem »impulsgebenden Dokument«, stellen aber zugleich fest: »Mitleid, Bedauern, ›Respekt und Anerkennung‹ gegenüber den Betroffenen genügt nicht.« Sie wollen vollständig rehabilitiert werden, dazu gehöre nicht zuletzt auch die »materielle Wiedergutmachung«. Angesichts der parteiübergreifenden Einigkeit stehen die Chancen hierfür gut, aber erst einmal nur für die 130 Betroffenen aus Niedersachsen. Die bundesweite Aufarbeitung steht weiterhin aus.