Rabbi Abraham Cooper im Gespräch über die weltweiten Bedrohungen der jüdischen Gemeinden

»Das Schweigen ist ohrenbetäubend«

Können Juden in Europa noch sicher leben? Rabbi Abraham Cooper, stellvertretender Direktor des Simon Wiesenthal Center in Los Angeles, spricht über den Gaza-Konflikt, den Unterschied zwischen Kritik an der israelischen Politik und Antisemitismus, die Bedrohung der jüdischen Gemeinden und die bislang ausbleibenden Gegenmaßnahmen.

Bei Demonstrationen gegen die israelische Militäraktion im Gaza-Streifen hört man auch antisemitische Parolen. Macht Ihnen das Sorgen?
Wir reden hier nicht nur von Demonstrationen. Wir reden auch von gewalttätigen Angriffen auf Juden. In Frankreich wurden Synagogen angegriffen. In Deutschland wurde versucht, eine Synagoge mit einem Molotow-Cocktail in Brand zu stecken. Das jüdische Gemeindezentrum in Toulouse wurde attackiert, und das nicht allzu lange nach den Morden an einer jüdischen Schule in derselben Stadt. Wir reden hier von Gewalt und dem Versuch, die jüdischen Gemeinden in Europa einzuschüchtern. In den Niederlanden, in Den Haag, gab es Demons­trationen für Isis, eine Gruppe, die Menschen köpft und die Videos dieser Hinrichtungen im Internet veröffentlicht. Soweit wir wissen, hat der Rechtsstaat bislang nicht reagiert.
Dennoch gehen viele Menschen einfach nur gegen das israelische Vorgehen auf die Straße.
Auch Israel macht Fehler, manchmal schreckliche Fehler. Es geht uns nicht darum, ob Menschen das Recht haben, die israelische Politik zu kritisieren. Aber die Menschen gehen für die Hamas auf die Straße. In den Medien wird die Hamas moralisch mit Israel gleichgestellt. Die Hamas ist eine Organisation, die die Sicherheit ihrer eigenen Wählerschaft nicht gewährleistet und die Milliarden von Euro europäischer Entwicklungshilfe missbraucht. Das Geld war für den Wiederaufbau gedacht, aber die Hamas hat damit ein unterirdisches Tunnelsystem gebaut.
Was sagen Sie zu dem Vorwurf, man dürfe Israel nicht kritisieren, ohne als Antisemit zu gelten?
Man wirft dem Simon Wiesenthal Center vor, dass wir eine Art Gedankenpolizei wären und keine Kritik an Israel zuließen, aber das stimmt nicht. Angenommen, die Menschen in Europa würden für eine Zwei-Staaten-Lösung demons­trieren. Eine solche Art von Protest würde sich gegen die israelische Politik richten, und das ist legitim. Aber sehr viele Menschen demonstrieren gegen die bloße Existenz Israels. Wenn sich so etwas in Deutschland manifestiert, sind wir sehr alarmiert.
Meinen Sie also, dass in Deutschland der Staat seiner Verantwortung nicht gerecht wird?
Deutschland war immer ein Verbündeter Israels. Aber jetzt gibt es einen Imam in Berlin, Abu Bilal Ismail, der die Vernichtung der Juden propagiert. Der Staat unternimmt nichts, obwohl der Mann gegen das geltende Recht verstößt. Deutschland hat eine besondere Verantwortung, und diese Verantwortung haben auch Menschen, die der derzeitigen israelischen Politik kritisch gegenüberstehen.
Aber ist es nicht verständlich, dass in Anbetracht des immensen Leids der Zivilisten die Menschen mit so viel Leidenschaft reagieren?
Wo waren diese Menschen, als die israelischen Zivilisten unter den Tausenden von Raketen der Hamas zu leiden hatten? Sind in Deutschland die Menschen gegen die Entführung dreier israelischer Teenager auf die Straße gegangen? Von den Meinungsführern, Politikern und Geistlichen in Deutschland haben wir keinen Piep gehört. Hatten die alle eine kollektive Kehlkopfentzündung? In Syrien schlachtet Assad an die 170 000 Menschen ab. Ich verstehe nicht, warum sich darüber niemand aufregt.
Dennoch werfen viele Kritiker Israel vor, unverhältnismäßig zu reagieren.
Was würde Deutschland tun, wenn plötzlich 4 000 Raketen auf deutschem Boden einschlügen? Jedes Land würde alles tun, um diese Raketeneinschläge zu beenden. Ist etwa die Tatsache, dass die Israelis weniger Verluste haben, auf einmal eine Sünde? Bis heute musste sich keine Armee der Welt dafür entschuldigen, einen Krieg zu gewinnen. Krieg ist schrecklich, keine Frage. Natürlich tun uns die Zivilisten in Gaza leid.
Der Antisemitismus scheint international wieder stärker akzeptiert zu werden. Auch der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan bedient sich fragwürdiger Aussagen.
Er vergleicht Israel mit den Nazis. Das trägt dazu bei, die extremistischen Elemente unter den in Deutschland lebenden Türken aufzuhetzen. Die Türken in Deutschland kommen aus einem Land, das 500 Jahre lang eine Bastion der Toleranz war. Doch in den vergangenen Jahren hört man ausgerechnet von der türkischen Regierung extremistische Hetze. Und nicht nur die deutsche Politik duldet das. Ich fordere den designierten Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg auf, klare Worte mit Erdoğan zu wechseln. Immerhin ist die Türkei Nato-Mitglied. Aber das Schweigen ist ohrenbetäubend. Und damit überlässt man den Extremisten das Feld.
Wie sieht es in anderen europäischen Ländern aus?
Die Situation ist besorgniserregend. Vor etwa vier Wochen habe ich mich mit Präsident François Hollande getroffen. Er sagte mir, dass an die 1 000 französische Staatsbürger das Land verlassen haben, um in Syrien für die Islamisten zu kämpfen. Die Mehrheit der Überlebenden kam wieder nach Frankreich zurück. Sowohl der Terrorangriff in Toulouse als auch die Morde im Jüdischen Museum in Brüssel wurden von Islamisten verübt, die französische Staatsbürger sind. In anderen westlichen Staaten steht man vor demselben Problem. Diese radikalisierten und kampferprobten Individuen hören jetzt eindeutige Signale, dass jüdische Zivilisten legitime Ziele sind.
Tausende französische Juden sind bereits nach Israel ausgewandert.
Die jüdische Gemeinde in Frankreich ist eine der bedeutendsten der Welt. Die meisten französischen Juden sind aus arabischen Ländern gekommen. Für sie ist es eine Katastrophe, sich wieder einmal mit einem solchen Hass konfrontiert zu sehen. Es kann uns passieren, dass es binnen einer Generation in Frankeich keine nennenswerte jüdische Gemeinde mehr gibt. Viele Juden wollen nicht mehr auf den Staat warten, sie nehmen ihr Leben selber in die Hand, und zwar woanders. Doch es geht nicht nur um die Zukunft der Juden in Frankreich, es geht um die Zukunft Frankreichs. Frankreich ist ein laizistischer Staat. Die jetzige Situation spielt Leuten wie Marine Le Pen nur in die Hände.
Es gab aber auch antisemitische Slogans bei Demonstrationen in Los Angeles, Atlanta, San Francisco.
Ich habe eine solche Demonstration gesehen. Das ist bislang nur eine Minderheit, die derartige Slogans verbreitet. Leider findet sie aber gerade unter Studenten und Akademikern Unterstützung. Hier wird davon gesprochen, dass Israel ein historischer Fehler sei. Auch in manchen Kirchen hören wir solche Aussagen. Aber zu den 190 Millionen Christen, die weltweit in Gefahr sind, schweigen die amerikanischen Geistlichen. Man könnte meinen, dass NGOs, Kirchen und Intellektuelle auf unserer Seite wären, aber die meisten von ihnen rühren sich nicht.
US-Außenminister John Kerry will mit der Hamas verhandeln. Wird dadurch der Antisemitismus der Hamas legitimiert?
So ist es. Ich war kürzlich im Weißen Haus und habe das Thema zur Sprache gebracht. Das war noch vor der Eskalation. Es kann mit der Hamas keinen Frieden geben. Wir haben die Regierung Barack Obamas höflich dazu aufgefordert, nur mit der palästinensischen Autonomiebehörde über einen Frieden zu verhandeln, ohne die Hamas. Viele von uns waren sehr enttäuscht, weil Obama darauf besteht, dass die Hamas weiterhin ein Faktor bleibt. Das ist ein großer Fehler. Wer mit der Hamas verhandeln will, so wie John Kerry es tut, hält sie nur länger am Leben. Man müsste stattdessen Druck auf die Geldgeber der Hamas ausüben, Erdoğan und den Emir von Katar. Dann würden sich die Dinge sehr schnell in die richtige Richtung bewegen. Aber die antisemitische Katze ist jetzt aus dem Sack, und es gibt eine direkte Verbindung zu dem, was wir jetzt sehen.
Wie schätzen Sie die Zukunft der Hamas ein?
Die militärische Schlagkraft der Hamas ist jetzt schon enorm beeinträchtigt. Nach dem Krieg wird Gaza viele Milliarden Euro für den Wiederaufbau brauchen. Die ganze Welt sollte Gaza dabei unterstützen. Aber leider haben die Palästinenser momentan keine Politiker, die den Mut haben, sie aus dem Morast zu führen. Die Autonomiebehörde ist korrupt, deswegen haben die Menschen Hamas gewählt. Sie würden es vielleicht heute wieder tun. Wenn der Wiederaufbau beginnt, werden wir wissen müssen, wo das Geld hingeht. Gaza braucht Wohnungen, Häuser und Bibliotheken, keine Raketenabschussrampen und Tunnel. Gaza muss entmilitarisiert werden. Was Gaza braucht, ist Hoffnung.
Vielen Dank für dieses Gespräch.
Moment, eines möchte ich noch sagen. Die Deutschen haben eine historische Verantwortung und müssen dem Vertrauen, das Simon Wiesenthal ihnen entgegenbrachte, gerecht werden. Ich war von Anfang an beim Wiesenthal Center dabei. Ich kannte Simon Wiesenthal sehr gut und habe viele Jahre lang mit ihm zusammengearbeitet. Simon hat immer gesagt: »Dem jüdischen Volk wurde fast zwei Jahrtausende eine Kollektivschuld angelastet. Das dürfen wir den Deutschen nicht antun.« Die Deutschen sollen sich nicht schuldig fühlen, sie sollen aus der Vergangenheit lernen und gute Bürger sein. Man muss den Antisemitismus an die Leine legen. Wir zählen auf unsere deutschen Freunde.