Über Nerds und andere Außenseiter

Nerds

Die Geschichte eines amerikanischen Außenseiters.

Die Kritik am Nerd ist häufig ästhetischer Natur, meint aber, wie so oft, etwas anderes. In seinem autobiographisch geprägten Buch »The American Nerd – Story of my People« weist der Journalist Benjamin Nugent auf die Ähnlichkeiten zwischen den Karikaturen von Nerds und rassistischen sowie antisemitischen Darstellungen von jungen jüdischen und asiatischen Männern in Amerika hin. Diese Darstellungen unterscheiden sich, so Nugents These, erheblich vom Rassismus gegenüber Afroamerikanern und Indigenen. Während den einen die volle Wucht des Antiintellektualismus entgegenschlägt, werden die anderen als Primitive herabgewürdigt: »In Amerika standen die (…) Asiaten und Juden schon immer auf der einen Seite der Galerie der rassistischen Stereotype, während die amerikanischen Indianer und andere, die als ›primitiv‹ begriffen werden, auf der anderen Seite stehen.«
Diese Argumentation deckt sich auch mit der Einschätzung der Kulturwissenschaftlerin Lori Kendall, die darauf hingewiesen hat, dass trotz einiger weniger afroamerikanischer und weiblicher Ausnahmen Nerds in der Popkultur fast immer als weiße, seltener noch asiatische junge Männer dargestellt werden und fast immer Angehörige der Mittelschicht sind. Die »Proto-Nerdigkeit« junger, jüdischer Männer ist kulturell und religiös bedingt, argumentiert Nugent weiter: »Da jüdische Männer laut religiösem Gesetz vier Mal die Woche die Tora lesen mussten, war die Fähigkeit zu lesen unter ihnen weitaus verbreiteter als in anderen ethnischen Gruppen, die sich in der Zeit nach Christus herausgebildet hatten. Daraus resultierend ließen sie die Landwirtschaft viel früher hinter sich als die meisten anderen.« Tatsächlich sind einige antisemitische Karikaturen den Bildern, die wir von Nerds kennen, nicht unähnlich. Deutsche Cartoons aus dem 19. Jahrhundert mokieren sich über die mangelnde Sportlichkeit der Juden. Das jüdische Idealbild der Männlichkeit, nämlich eines studierenden, über die Tora gebeugten Mannes, entwickelte sich schon seit dem römischen Zeitalter weg von dem in der christlichen Kultur vorherrschenden Bild des breitschultrigen, agilen Kämpfers.
Die rassistischen Darstellungen asiatischer Männer gehen in Amerika hingegen auf eine Figur namens John Chinaman zurück, dessen Hauptmerkmal es ist, der vermeintlichen Viri­lität der kaukasischen amerikanischen Männer wenig entgegenzusetzen. Solange der Bevölkerungsanteil der Asiaten verschwindend gering war, war auch diese Figur wenig geläufig. Mit der plötzlich einsetzenden massiven Einwanderungswelle aus asiatischen Ländern seit den sechziger Jahren verbreiteten sich auch John Chinaman und seine Variationen. Bereits in den achtziger Jahren war der Anteil der Studenten, deren Eltern aus einem asiatischen Land nach Amerika eingewandert waren, prozentual wesentlich höher als ihr Anteil an der amerikanischen Gesamtbevölkerung. Gerade an den Elite-Universitäten, die bis in die sechziger Jahre hinein fast ausschließlich von sogenannten WASPs besucht wurden, machte sich der strukturelle soziale Wandel durch asiastische und jüdische Einwanderer also bemerkbar. Nugent argumentiert, dass diese rassistischen und antisemitischen Zuschreibungen und Unterscheidungen aktiv als soziale Strategie eingesetzt wurden, als sich die amerikanische Ostküsten-Elite, die »weißen, angelsächsischen Protestanten«, die WASPs, von den jüdischen Einwanderern aus Europa und jenen aus Asien in ihrer gesellschaftlichen und ökonomischen Vormachtstellung bedroht fühlten.
Nugent liefert damit nicht nur eine schlüssige Erklärung dafür, warum der Nerd einerseits als Außenseiter stigmatisiert, aber gleichzeitig als erfolgreicher Aufsteiger gefürchtet und bewundert wurde, sondern beschreibt auch ein gesellschaftliches Klima, das sich in vielen Filmen mit Nerds als Handlungsmuster wiederholen wird. In diesen Filmen steht der breitschultrige, blonde Football-Quarterback für die WASP-Elite an den Colleges und Highschools, der Nerd für die imaginierte Bedrohung durch asiatische und jüdische Einwanderer und soziale Aufsteiger. An den Universitäten beginnt in den sechziger und siebziger Jahren auch die Karriere des Nerdbegriffs, der von dort aus in den allgemeinen Sprachgebrauch übergeht.
Zur konkreten Entstehung des Begriffs »Nerd« gibt es verschiedene Theorien. So seien an den Colleges die Langweiler als knurds bezeichnet worden, was nichts anderes ist als drunks, also Betrunkene oder Trinker, rückwärts gelesen. Aus den knurds sei früher oder später ­etwas flachsig der Nerd entstanden. Ebenfalls wahrscheinlich klingt die Geschichte, dass zwei Universitätszeitungen maßgeblich zur Verbreitung des Begriffs sowie des karikaturhaften Bildes des Nerds beigetragen hätten. In Bachelor, einer satirischen Studentenzeitung, die von Hippies am Renssela Polytechnic Institute, herausgegeben wurde, erschienen in den fünfzigerer und sechziger Jahren Stories über eine Figur namens Nurdly, einen naiven Erstsemester-Studenten, der in einer West-Side-Story-Parodie um die Aufnahme in eine Fraternity, eine amerikanische Studentenverbindung, kämpft. Etwa zur gleichen Zeit tauchte der Begriff Nurd in Voodoo, der Studentenzeitung der Ingenieure am Massachusetts Institute of Technology (MIT), auf, wo der Begriff zum ersten Mal gemeinsam mit den heute üblichen äußerlichen Beschreibungen verwendet wurde. Bemerkenswert daran ist – neben der pointierten Verknüpfung von Bezeichnung und Figur – die Verbindung von Nerds und Studentenverbindungen, Hippies und Naturwissenschaftlern des Bostoner MIT, die in diesem Zusammenhang noch öfter eine Rolle spielen wird. Zwei weitere, durchaus plausibel klingende Erklärungen leiten den Begriff »Nerd« direkt aus seinem Akronym an. Die eine besagt, Nerd sei schlicht die Abkürzung für Non Emotio­nally Responding Dude – auch wenn das wohl eher eine klassische Henne-und-Ei-Geschichte ist –, andere behaupten, die Abkürzung hätte auf den Brusttaschen der nordamerikanischen Computerfirma Northern Electric Research & De­velopment gestanden.

Die Rache der Nerds

Die Schule und die Universität blieben vorerst – in Fiktion und Realität – das Schlachtfeld der Nerds. Im Jahr 1984 kam der US-Spielfilm »Revenge of the Nerds« (Regie: Jeff Kanew, 1984) in die Kinos. Die retrospektiv betrachtet durchaus alberne Komödie über die beiden Freunde Gilbert Lowell (Anthony Edwards) und Lewis Skolnick (Robert Carradine) war der erste Film, der Nerds als Protagonisten in den Blick der Öffentlichkeit rückte. Mit »Revenge of the Nerds« verbreitete sich der Nerd-Begriff im amerikanischen Sprachgebrauch und wurde zudem an einen bestimmten stereotypen Charakter gebunden.
Gilbert und Lewis sind die klassischen Nerds der achtziger Jahre: Sie leiden unter sozialen Ängsten aufgrund der schlechten Erfahrungen, die sie auf der Highschool mit ihren Mitschülern gemacht haben; sie tragen Hornbrillen, in der Brusttasche des kurzärmligen Hemds stecken die nach Farben geordneten Stifte, sie interessieren sich für Computer und programmieren ihre Taschenrechner.
»Revenge of the Nerds« erzählt davon, wie die beiden hochmotiviert und in der Hoffnung, ihren Außenseiterstatus ad acta legen zu können, ans College kommen, um dort feststellen zu müssen, dass das soziale Gefüge auf dem Campus sich nicht sonderlich von dem der Highschool unterscheidet. Die segregierte Welt der Cafeteria setzt sich durch das Verbindungwesen und ihre Unterkünfte auf dem Campus fort. Die Jocks wohnen im Haus der Alpha-Beta-Verbindung, die hübschen Mädchen, die die beiden Nerds natürlich ignorieren, sind in der Studentinnenvereinigung Pi Delta Pi organisiert.
Gleich nach ihrer Ankunft werden Gilbert und Lewis obdachlos und müssen mit anderen Nerds in die Turnhalle ziehen – dem schlimmsten für sie vorstellbaren Ort, wo sie auf Klappliegen schlafen –, während in der anderen Hälfte des Raumes die Jocks Basketball spielen und die Nerds mit gezielten Ballwürfen demü­tigen. Als die Nerds endlich ein heruntergekommenes Haus auf dem Campus ergattern, wird schnell klar, was sie sich vom Studentenleben erhoffen: Sie wollen mit den Jocks gleichziehen.
Sie finden einen Verbindungs-Dachverband – die Lamda Lamda Lamdas, die noch kein Haus auf dem Unigelände haben. Um aufgenommen zu werden, müssen sie eine wilde Party schmeißen, die Alpha-Beta-Verbindung jedoch spielt ihnen einen Streich. Sie gaukeln den Nerds vor, zu ihrer Party kämen allerhand ­attraktive Frauen, doch am Tag der Party erscheinen nur – nach allgemeinen Kriterien – weniger attraktive Frauen. Daraufhin beschließen die Nerds, sich zu rächen: »Wir müssen sie in ihrem eigenen Spiel schlagen. Wir müssen die beste Studentenverbindung auf dem Campus werden!« Sie veranstalten eine Art Campus-Olympiade, bei der sie die sportlicheren Verbindungshäuser schlagen, indem sie die einzelnen Wettkämpfe durch Tricks und mit Köpfchen lösen.
Das Happy End ist die »Rache der Nerds« und natürlich kommt Lewis am Ende mit seinem blonden Schwarm Betty Childs (Julia Montgomery) zusammen. »I am in love with a nerd!« ruft diese daraufhin halb stolz, halb verwundert aus. Der Film endet mit einer Rede von Gilbert, in der er Nerd Pride (angelehnt an den Begriff des Gay Pride) einfordert: »Ich wollte nur sagen, dass ich ein Nerd bin, und heute stehe ich auf für die Rechte aller Nerds. Unser ganzes Leben sind wir ausgelacht worden, und man hat uns das Gefühl gegeben, minderwertig zu sein. Heute Nacht haben die Bastarde unser Haus zerstört. Und warum? Weil wir schlau sind? Weil wir anders aussehen? Wir sind aber nicht anders! Ich bin ein Nerd, und ähm, ich bin sehr stolz darauf!«
Aus der auf dem College-Campus geschlagenen Schlacht gehen die beiden Nerds als Sieger hervor. Genau wie schon Nurdly in der satirischen Studentenzeitung Bachelor müssen Gilbert und Lewis in der Schlacht gegen die Jocks gewinnen. Ihnen geht es jedoch weniger um Gleichberechtigung als darum, die Jocks zu schlagen, sie zu besiegen und letztlich über sie zu triumphieren.
Dem Motiv des Siegeszugs, also der Rache der Nerds, begegnet man seitdem nicht nur in der Popkultur immer wieder: Der Plot von »Revenge of the Nerds« zählt heute zu denen gängigen Drehbuch-Blaupausen Hollywoods, Begriff und Figur fanden durch den Erfolg des Films Einzug in den allgemeinen Sprachgebrauch, während sich der Filmtitel auch heute als geflügelte Phrase – besonders im Journalismus – großer Beliebtheit erfreut. Nicht nur auf der Leinwand, auch im Rest der Welt begann der Siegeszug der Nerds. Während in Europa die schmalen jungen Männer mit den dicken Brillen in den Achtzigern immer bekannter wurden, bildete sich Japan sogar eine vergleichbare Subkultur heraus. Der Otaku ist ein naher Verwandter der Nerds und wird von Wikipedia als Fan definiert, der »ein großes Maß an Zeit und Geld für seine Interessen aufwendet und ihnen mit Leidenschaft nachgeht«.
Der Begriff wird in Japan abschätzig benutzt und meint ebenfalls schüchterne Technik- und Popkulturenthusiasten, die am liebsten alleine oder unter sich bleiben. Mittlerweile wird der Terminus auch in Amerika verwendet und bezeichnet dann meist Fans von japanischen Animes und Mangas.

Fanboys

Kehren wir zunächst aber zurück auf den amerikanischen Schulhof. Durch den Babyboom verstärkt sich der Trend zur negativen Markierung des Nerds. Nach dem Zweiten Weltkrieg explodierte die Geburtenrate und damit auch die Zahl der schulpflichtigen Kinder. Waren es 1920 noch 231 000 amerikanische Kinder, die gleichzeitig zur Schule gingen, stieg die Zahl bis Ende der siebziger Jahren auf 2,5 Millionen an. Während das Schulsystem mit rapide wachsenden Schülerzahlen zu kämpfen hatte, mussten – als direkte Folge der Forderungen der Bürgerrechtsbewegungen – zugleich die Klassen desegregiert und reformiert werden: »Die heterogene amerikanische Gesellschaft der weißen protestantischen Pilgerväter, der schwarzen Sklaven und der europäischen Wirtschaftsflüchtlinge war schließlich auch an der Highschool angekommen und ließ sich dort nicht mehr durch exklusive Nachbarschaften, parallele Wirtschaftsstrukturen und kulturelle Spezialisierungen regeln (…) und so entstand für die Schüler die Notwendigkeit, schulspezifische soziale Differenzierungen einzuführen.« Ein Verlierer dieser neuen Unterscheidungen war der Nerd, denn nicht nur der Coole, auch die Uncoolen wurden definiert und gebrandmarkt.
Es gibt aber noch eine weitere, wichtige Folge des Babybooms. Ab Anfang der achtziger Jahre wurden die Jugendlichen zur wichtigsten Zielgruppe der amerikanischen Filmindustrie. Mit der Koppelung der Jugendkulturen an die Verwertungsmaschinen der Unterhaltungs­indus­trie wurden die Fanboys zu den wichtigsten Abnehmern. Ein beträchtlicher Teil des Unterhaltungsmarktes wurde nur für diese zahlungskräftige Gruppe produziert, die zudem nach Identifikation hungerte und dabei noch über ausreichend Freizeit verfügte. Als Neben- und Unterkategorie des Blockbuster, dem bis heute ökonomisch und ideologisch wichtigsten Kulturprodukt Hollywoods, entstand der Teenagerfilm als eigenständiges Genre.
Für das Drama der Adoleszenz in der Highschool wurden, ähnlich wie im antiken Theater oder in der Commedia dell’Arte, eindeutig identifizierbare Figuren benötigt, um durch ein Wiedererkennen der grundsätzlichen Dramaturgie den Fokus auf die unterhaltsamen Variationen dieser Form zu lenken. Neben dem Nerd treten hier die Cheerleaderin, der Rebell, die Freaks, der oder die Neue an der Schule, der Normalo auf, die variieren und sich überschneiden können. So wird die Highschool zu einem Ort der Träume, Möglichkeiten und Hoffnungen und handelt von Aufstiegsfantasien und brutaler Segregation.
Als Vaterfigur der Fanboys gilt heute Steven Spielberg, der sowohl als Regisseur als auch als Produzent mit seiner Firma Dreamworks Filme auf den Markt bringt, die elementare Bestandteile sowohl der Blockbusterkultur des Post-New-Hollywood als auch der Nerdkultur sind. Dazu gehören unter anderem »E.T.« (1982), »Jaws – Der weiße Hai« (1975) und diverse Filme der »Indiana Jones«-Reihe. Noch wichtiger ist aber, dass Spielberg sich schon früh selbst als Nerd begriffen hat. In seiner Biographie über den Filmemacher schreibt George Perry, Spielberg sei ein »jüdisches Wunderkind im Mittleren Westen« gewesen, das schon in jungen Jahren nicht »besonders umgänglich« gewesen sei, aber schon früh begann, ein kleines Kino zu betreiben. Ebenfalls früh in seiner Karriere begann Spielberg, sehr bewusst andere junge Filmemacher und Nerds zu fördern.
Der Nerd ist ein Fanboy, ein Popkultur-Fanatiker im wahrsten Wortsinn und gleichzeitig eine popkulturelle Figur aus dem Bereich der Fiktion. Der Fanboy entwickelt sich an der Popkultur entlang und mit dieser. Wobei es erstmal keine Rolle spielt, ob es sich bei seinen Interessen um Filme oder TV-Shows, Science-Fiction oder Superhelden, Computer- oder Rollenspiele handelt. Auch von anderen sozialen und kulturellen Gruppen kennt man ähnliche wechselseitige Beeinflussungsverhältnisse zwischen der Popkultur als Sender einerseits und Empfänger andererseits. In seiner Studie »Codes of the Underworld: How Criminals Communicate« hat der in Oxford unterrichtende Professor Diego Gambetta die Wechselwirkung zwischen Filmen wie der »Godfather«-Trilogie von Francis Ford Coppola und der Selbstdarstellung, dem Habitus und den Ritualen der italienischen Mafia nachgewiesen. Doch anders als bei der Mafia geht der Einsatz der Nerds im Feld der Popkultur noch viel weiter. Sie wurden nicht nur durch die Unterhaltungskultur geprägt, sie nehmen aktiv an dieser Teil und besetzen alle Rollen, die es gibt, von der fiktiven Figur bis hin zum mächtigen Kulturproduzenten.

Gemeinsam einsam

Ein Charakteristikum der Nerdkultur ist das Gemeinsam-Einsamsein. Die Nerds gelten als sozial unsicher, es sei denn, sie befinden sich in der Gesellschaft von Gleichgesinnten. Der amerikanische Schriftsteller Michael Chabon erinnert sich in seinem autobiographischen Buch »Manhood for Amateurs« über den von ihm in seiner Kindheit gegründeten Columbia Comic Book Club; für ihn rückblickend ein wichtiger Ort, an dem er sich einerseits sicher vor seinen Mitschülern fühlte und andererseits Gleichgesinnte mit genauso obskuren Spezialinteressen treffen konnte. Adam Sternbergh beschreibt etwas ganz Ähnliches: »Das Hauptmerkmal von Fanboys war schon immer ihre Isolation (…) egal, was sie genau mochten, ob es die Sandman-Comics oder Folgen von Red Dwarf waren, sie hofften, dass es dort draußen Gleichgesinnte gibt. Und manchmal trafen sie sich, vielleicht auf einer Tagung, vielleicht während beide ein Kostüm trugen oder vielleicht auch hinter dem Tresen eines Comic­ladens.« Diese spezifische Mischung aus der Suche nach Gleichgesinnten einerseits und dem Einzelgängertum andererseits wird zu einem immanenten Bestandteil der Nerd-Kultur. Die geschützten Räume der Nerds sind fast immer reine Jungsclubs. Nathan L. Esmenger weist in seiner Studie »The Computer Boys Take Over« nach, dass sich in den Laboren und Computerräumen über die Jahre eine männlich geprägte Kultur etabliert hat, die durch einen antisozialen und technisch versierten Habitus ihren Status bewahrt und vor allem Frauen abschreckt – und auch abschrecken soll.
Die Kulturwissenschaftlerin Lori Kendall hat die Aus- und Abgrenzung der Nerds durch ihre Gatekeeper-Funktion erklärt. Einerseits wirkt das Spezialwissen, und ganz besonders das der Computer-Boys, auf Nichteingeweihte abschreckend, andererseits nutzen die Nerds ihre Geheimsprache, um sich von anderen abzugrenzen. Die Ablehnung, die sie erfahren, korreliert mit einem in der Gesamtgesellschaft vorherrschenden Technik- und Wissenschaftsskeptizismus, der auf die Nerds übertragen wird. Die Nerds wiederum kompensieren Unterlegenheitsgefühle, die aus sozialen Situationen resultieren, mit einem elitären Habitus, der nach Kendall auch die Funktion hat, den eigenen Status und die eigene Gruppe aus weißen, gebildeten Männern der Mittelschicht mit den gleichen Interessen, den gleichen Vorlieben und der gleichen Sprache zu schützen. Die Zahl der Frauen, schreibt sie, bleibt nicht nur stabil niedrig, sie sinkt derzeit sogar wieder: »Nach Jahren, in denen die Zahlen der Frauen und Minderheiten im Computerunterricht und in Computerberufen zugenommen haben, kehren sie sich aktuell wieder um, vor allem, was die Frauen angeht. Zum Beispiel lag der Anteil der Frauen, die in den Jahren 1985 bis 1986 einen Bachelor in Computer Science erhielten, bei 36  Prozent; von 2003 bis 2004 waren es nur noch 25  Prozent.«
Auch Sherry Turkle argumentiert in eine ähnliche Richtung. Die Sozialpsychologin, die seit Jahrzehnten am Bostoner MIT zu gesellschaftlichen und individuellen Folgen der Technikentwicklung forscht, hat für ihre im Jahr 1984 erschienene Studie »Das zweite Selbst« mit Kindern, Studenten und Wissenschaftlern verschiedenster Disziplinen, mit Hackern und mit anderen Computerbesitzern über ihr Verhältnis zu Computern, Programmen und Spielen gesprochen. Sie weist darauf hin, wie wichtig gerade den Computer-Boys, die sie Hacker nennt, die Gemeinsamkeiten in den virtuellen Gemeinschaften sind: »Ein Hacker verbringt vielleicht Zeit mit einem anderen Hacker, weil beide eine ähnliche Persönlichkeit haben, wie zum Beispiel einen stark ausgeprägten Hang zur Kontrolle, der so absolut ist, dass er sich nur in der Beziehung zu Dingen ausdrücken kann. Aber wenn diese Hacker erstmal in der Gesellschaft anderer Hacker sind und sie oder er ein integraler Bestandteil dieser Gemeinschaft wird, wird die Charaktereigenschaft, die die Hacker zusammengebracht hat, sogar noch verstärkt. Was mal ein Ausdruck individueller Persönlichkeit war, wurde zu einer sozialen Realität.« Turkle betont aber auch noch einen weiteren Aspekt: Nicht nur die Gemeinschaft Gleichgesinnter und das Gefühl, anderen in diesem Bereich überlegen zu sein, machen den Computer so attraktiv für junge Männer, die sich in sozialen Situationen sonst unwohl fühlen. Sie werden im Gegenteil geradezu angezogen von den klaren Regeln der Maschinen. So erklärt einer der Jungen aus der Studie: »Wenn ich das Gefühl habe, Kontrolle über das ganze Programm zu haben, beruhigt mich das. Ich fühle mich dann sicher und auf eine Art auch zu Hause.«

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Nina Scholz: Nerds, Geeks und Piraten. Digital Natives in Kultur und Politik. Verlag Bertz + Fischer, Berlin 2014, 116 Seiten, 9,90 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.