Gewalt in Ostjerusalem

Abgehängter Osten

In Israel eskalieren die Konflikte zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölkerung. Sie sind unter anderem in der sozialen Ungleichheit begründet. Zudem nehmen Terroranschläge wieder zu.

»Hitlakchut«, das Aufflammen oder Entzünden eines Brandes, so lautet das Schlagwort israelischer Medien für die Massenproteste in den arabischen Städten des Landes, die vergangene Woche eskalierten. Der entscheidende Anlass war die Tötung des 22jährigen Kheir Hamdan in der Nacht zum Samstag in der arabischen Stadt Kafr Kanna in Nordisrael. Nachdem Hamdan mit einem Messer auf die Scheiben eines Polizeifahrzeugs eingehackt hatte, streckte ein Polizist den zurückweichenden Angreifer mit Schüssen in den Oberkörper nieder. Als ein Video des Vorfalls auftauchte, das die offizielle Polizeimeldung, es habe sich um Notwehr gehandelt, zu widerlegen scheint, kam es seit dem Wochenende in ganz Israel zu teils gewaltsamen Demonstrationen arabischer Einwohnerinnen und Einwohner. Sie sahen in dem Vorfall ein Beispiel rassistischer Polizeigewalt; wenn es um arabische Einwohner gehe, seien Polizisten »schnell am Abzug«. Dass Ministerpräsident Benjamin Netanyahu erklärte, denjenigen, die den Staat delegitimierten, müsse die Staatsbürgerschaft entzogen werden, sorgte nicht für Entspannung. Bestätigte er doch, was viele arabische Israelis immer wieder behaupten: dass ihre Staatsbürgerschaft und ihre Rechte nur pro forma und auf Abruf gelten.
Die wichtigste Ursache für die sich nun entladende Frustration insbesondere der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist die soziale Ungleichheit entlang der ethnoreligiösen Grenzen. Mehr als die Hälfte der arabischen Bevölkerung gilt als arm, während in der Gesamtbevölkerung ein gutes Fünftel als arm eingestuft wird. Das durchschnittliche Einkommen arabischer Israelis lag 2008 etwa ein Drittel unter dem jüdischer Einwohner. Die staatlichen Ausgaben für arabische Kinder betrugen in den vergangenen Jahren nur die Hälfte der entsprechenden Ausgaben für jüdische Kinder. Insbesondere im Bereich der staatlichen Ausgaben für Infrastruktur und Bildung bestehen große Unterschiede zwischen beiden Bevölkerungsgruppen.

In Jerusalem eskalierte die Lage bereits vor Monaten. In den vergangenen drei Wochen fanden dort unter anderem zwei nationalistisch-islamistische Terroranschläge mit drei Toten statt, woraufhin der Zugang zum Tempelberg eingeschränkt wurde. Auch in Tel Aviv und der Westbank kam es seitdem zu mehreren Anschlägen mit Verletzten und Toten. Als Beginn der Eskalation kann die Entführung und Ermordung der jüdischen Schüler Naftali Frenkel, Gilad Shaer und Eyal Yifrah durch eine Zelle der Hamas Hebrons im Juni gelten, als Vergeltungsschlag ermordeten jüdische Extremisten Anfang Juli den 16jährigen Palästinenser Mohammed Abu Khdeir. Seit Juni ist keine Woche vergangen, ohne dass es in Ostjerusalem zu Ausschreitungen und folgenden Massenverhaftungen und in Westjerusalem zu Angriffen auf arabische Zivilisten gekommen ist.
Israelischen Medien zufolge ist die Stimmung in der Stadt endgültig umgeschlagen. Palästinensische und jüdische Anwohner berichten dies auch der Jungle World. Habe man etwa in den vergangenen Jahren junge Palästinenser treffen können, die neben arabischen auch hebräische Popsongs in den Musikanlagen ihrer Autos spielen, sei das mittlerweile undenkbar, heißt es unter den Anwohnern. Aus den Lautsprechern dröhnten eher nationalistische und Hamas-Propagandalieder. Islamisten würden ihre Propaganda verstärken und versuchen, die Auseinandersetzung um den Tempelberg eskalieren zu lassen. Jüdische Israelis würden arabische Stadtviertel meiden, nur eine stetig wachsende Zahl jüdischer Siedler bewege sich dort – bewaffnet. Gleichzeitig komme es in Westjerusalem zu verbalen und physischen Attacken auf arabische Israelis und Palästinenser, weshalb viele von ihnen jene Stadtteile meiden würden. Rechtsex­treme würden mit rassistischer Hetze im Internet und auf der Straße die Lage weiter befeuern. Wegen der Eskalation nicht nur der politischen Hetze und Gewalt in Israel – im Zuge des Gaza-Kriegs im Sommer gab es auch eine neue Qualität rechtsextremer Angriffe auf linke Aktivisten und arabische Zivilisten – sah sich nun der israelische Präsident Reuven Rivlin zu scharfen Worten veranlasst: Es gebe Gewalt auf den Fußballplätzen, in sozialen Netzwerken, im Alltag, in Krankenhäusern und in Schulen. Es sei Zeit, »ehrlich zuzugeben, dass die israelische Gesellschaft krank ist – und dass diese Krankheit behandelt werden muss«.

Die Agitation rechtsextremer beziehungsweise fundamentalistischer, teilweise messianistischer Gruppen mit dem Ziel einer jüdischen »Rückeroberung« des Tempelbergs und der Zerstörung der muslimischen Kultstätten hat zuletzt weiter zugenommen. Zudem stellten Mitglieder der rechten Regierung verbal und durch Besuche »den Status quo auf dem Tempelberg« in Frage, darunter die stellvertretenden Minister Uri Ariel und Tzipi Hotovely sowie Moshe Feiglin und Miri Regev. Die Anhänger der Hamas und des Islamischen Jihad in Jerusalem versuchen wiederum seit Wochen, aus der propagandistischen Ausschlachtung der Tempelberg-Debatte politisches Kapital zu schlagen, sich als »Verteidiger der al-Aqsa-Moschee« in Szene zu setzen und die Palästinensische Autonomieregierung (PA) unter Mahmoud Abbas zu delegitimieren. Die PA hat im vorigen Jahr nach dem Scheitern der Verhandlungen des Friedensprozesses unter Vermittlung des US-Außenministers John Kerry an Ansehen eingebüßt und steht in der Westbank unter großem Legitimationsdruck. Wird die Hamas im Gaza-Streifen von einer Mehrheit der Bevölkerung kritisiert, gilt das für Abbas’ Organisation Fatah in der Westbank. Der Vorwurf, Abbas gebe al-Aqsa auf – das wohl bedeutendste Symbol für religiöse, nationalistische und islamistische Identitätspolitik in den palästinensischen Gebieten –, ist daher eine gefährliche Waffe in der Hand von Hamas und Islamischem Jihad. Es ist kein Zufall, dass gerade der jüdische Fundamentalist Yehuda Glick auf dem Heimweg von der Konferenz »Israel kehrt zurück auf den Tempelberg« Opfer eines Mordanschlags wurde.

Doch die Situation wird einigen israelischen Kommentatoren zufolge erst durch folgenden Fakt gefährlich: Die jüngste Eskalation in Ostjerusalem beruhe gerade auf der Mobilisierung größerer Teile der Jugendlichen und jungen Erwachsenen jenseits von ideologischen oder organisatorischen Strukturen der islamistischen Gruppen, aber auch der Fatah. Auch hier stellt die Frustration der jüngeren Bewohnerinnen und Bewohner der sozial abgehängten Stadtviertel den Nährboden dar. Im Osten Jerusalems werden Investitionen in Infrastruktur und Bildung vernachlässigt. Existierten in Westjerusalem vor drei Jahren etwa 1 000 Grünanlagen und Parks, gab es im arabischen Osten der Stadt nur etwa 50; 531 Sporteinrichtungen im Westen standen 33 im Osten der Stadt gegenüber; auf 26 öffentliche Bibliotheken im Westen kamen zwei im Osten. Einer Schulabbrecherquote von acht Prozent im Westen steht eine von fast 80 Prozent im Ostteil gegenüber.
Die aktuellen Konflikte um den »Tempelberg« laden die ethnoreligiösen und ideologisierten Konflikte zusätzlich auf. Es ist diese Gemengelage aus sozialer Frustration, politischen Konflikten und radikaler Hetze auf beiden Seiten, die die Situation unbeherrschbar macht, und auf die die ideologisch motivierten Terroranschläge der vergangenen Tage treffen.