Das Zölibat und die Sexualmoral

Gott vergelt’s

Das Zölibat gilt als Inbegriff der repressiven Sexualmoral des Katholizismus. Die Gewalt, die der Protestantismus dem Leib antut, wird dagegen selten denunziert – wahrscheinlich weil sie omnipräsent ist.

Wer das Zölibat für eine besonders inhumane Form des Lebens ohne Sexualität hält, hat vom Sexus so wenig wie vom Leben begriffen. Zum einen, weil es ein Leben ohne Sexualität schlechterdings nicht gibt: Freiwillige Askese und erzwungene Einsamkeit, Verzicht und Entsagung, Sublimation und Kompensation, ja selbst Indifferenz sind allesamt Weisen der Menschen, sich zum Sexus zu verhalten. Es gäbe sie nicht ohne ihn – der wiederum nicht das gleiche ist wie »Sex«, jene schon klanglich abstoßende Kürzelform, die vielmehr, ihrer Lautgestalt entsprechend, unterschiedliche Formen der Verkümmerung, Banalisierung und Brutalisierung des ­Sexus im täglichen Unmenschenverkehr bezeichnet.
Zum anderen, weil nur hämische Dumpfbacken, die Lust allein beim Runtermachen ihnen nicht in den Kram passender Individuen empfinden, sich über das Zölibat echauffieren. Als trügen nicht alle Menschen, die einem begegnen, inklusive dem eigenen Spiegelbild, viel unabweisbarere Symptome der Stummheit und Erbärmlichkeit, mit denen die Welt den Sexus in all seinen Ausdrucksformen schlägt, als ausgerechnet die katholischen Nonnen und Priester.
Der Katholizismus ist der Haudrauf der aufgeklärt Regredierten. Über ihn können islamsensible Gendertheoretiker, die Genitalverstümmelung mit kulturwissenschaftlich orientiertem Schulterzucken abtun, bodenständige Kleinbürger, die auf ihre Leistungen für die Volkswirtschaft pochen, und atheistische Liberale, die vom Unterschied zwischen Glauben und Aberglauben noch nie gehört haben, gleichermaßen herzlich lachen. Das Ressentiment, das sich darin artikuliert, ist identisch mit jenem, das sich in der Empörung über den dekadenten Prunk und die archaische Ornamentik des Katholizismus Bahn bricht: Der Hass auf selbstgewählte Entsagung und der Hass aufs selbstverständlich beanspruchte Privileg sind eins. Es ist kein Zufall, dass der am Zölibat festhaltende Katholizismus in Eucharistie, Marienkult und Beichte, in der der Gläubige seine Sünden nicht allein mitteilt, sondern ablegt, des somatischen Impulses gedenkt, der noch in der äußersten Vergeistigung fortlebt, während der Protestantismus die als Innerlichkeit affirmierte Verleugnung des Sinnlichen im Geist mit der Erlaubnis an seine Repräsentanten verbindet, ein ebenso gesundes, also aufregungs- und überraschungsloses Sexualleben zu führen wie jedermann.

Der Katholizismus gebietet Entsagung gegenüber einer für schal erachteten weltlichen Lust und hält so negativ die Möglichkeit einer anderen fest, die, wie Marienbilder, Brot und Wein, Weihrauch und Ornat, all die vom Protestantismus als mythologisch denunzierten ästhetischen Überschüsse in der katholischen Messe zeigen, ihrerseits keineswegs eine nur geistige ist. Im Gegenteil zelebriert der Katholizismus den Heiligen Geist als heiligen Leib und ruft so die Vermitteltheit von Geist und Leib in Erinnerung: Wie der von den Möglichkeiten des Ausdrucks und der Entäußerung losgelöste Leib keiner mehr, sondern nur noch Körper ist, krude Materialität und Gegenteil alles Lebendigen, ist der vom Leib abgespaltene Geist entlebendigt und leer, bloße Behauptung seines verschwundenen Substrats.
Indem er den Zusammenhang von Leib und Geist erinnert und im Zölibat zugleich deren unversöhnlichen Widerspruch in der Realität festhält, steht der Katholizismus für eine Weltferne ein, die nur dann verlogen ist, wenn sie sich zur positiven Wahrheit aufspreizt – wie bei den spätbekehrten Jungmännern und -frauen, die ganz weltverfallen zum Papst ins Olympiastadion pilgern –, die aber als Ausdruck der Abscheu vor der sich pausbackig als Lebenslust feiernden Barbarei gegenüber der reibungslosen Verbindung von Arbeit und Sex, wie sie die protestantische Ethik besorgt, uneingeschränkt im Recht ist. Der protestantische Vorwurf, die Privilegierten predigten Wasser und tränken Wein, war schon immer gegen den Wein und nicht gegen das Wasser gerichtet.
Der Verschwisterung von Katholizismus und Häresie ist es geschuldet, dass von de Sade bis Pasolini katholische Nonnen und Priester durch die kulturelle Phantasie geistern, die minderjäh­rige Ministranten verführen, keusche Jungfrauen vom Weg der Tugend abbringen und auf der Kanzel heimlich ihre Folterwerkzeuge polieren, während man sich Protestanten eigentlich nur als tumbe Onanisten am FKK-Strand oder als Waldorfpädagogen vorstellt, die ihren Zöglingen die Gruppendusche verordnen: Noch im Tabubruch bleibt der Protestant der phantasielose und ordnungsgläubige Gesellschaftserzieher, als der er meist auch seine Brötchen verdient, während der Katholik sogar als unperverser Normalo verdächtig ist.
Während der Katholizismus aber inzwischen fast ausschließlich in protestantisierter Schrumpf­form existiert, hat sich der Protestantismus so verallgemeinert, dass er als besonderes Bekenntnis nahezu überflüssig geworden ist. Das lässt sich wiederum an der Entwicklung der Sexualmoral studieren. Die Rigidität des Katholizismus gegenüber unbotmäßiger Sexualität hatte stets eine verleugnete Kehrseite, wie der Katholizismus überhaupt in der Beichte die Überlistung des Herrn gleichsam institutionalisiert hat: Während der Protestant über seine Sünden lebenslang Buch führen muss, um sie am Ende mit seinen guten Taten zu einem ordentlichen Gesamtplus zu verrechnen, also als sein eigener unbestechlicher Moralsteuerprüfer fungiert, kann der Katholik seine Sünden in der Beichte buchstäblich loswerden und sich, sofern er nur die Gesten der Entsühnung formvollendet vollzieht, wieder neue leisten. In gewisser Weise muss er sogar sündigen, weil, wer nie zur Beichte geht, dem Katholizismus dubioser ist als jemand, der regelmäßig beichtet.

Ganz im Sinne solcher institutionalisierten Heuchelei, die immer schon menschenfreundlicher war als institutionalisierte Ehrlichkeit, waren es häufig abtrünnige katholischen Nonnen, von denen gefallene Mädchen, die von kirchlichen Krankenhäusern abgewiesen wurden, Hilfe erhalten konnten. Jungen wie Mädchen nicht nur daheim ans Bett zu fesseln, damit sie sich nicht zwischen den Schenkeln berühren, sondern sie auch für jeden verdorbenen Traum, jede verbotene Phantasie, ja für ihr Innenleben selbst mit Prügeln zu bestrafen, das war, wie Michael Hanekes Film »Das weiße Band« unübertroffen demonstriert, eine genuin protestantische Kulturleistung. Hanekes Film endet mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs; den Zusammenhang zwischen der protestantischen Perhorreszierung des Leibes und dem Nationalsozialismus deutet er nur an.
Die heutige postfaschistische Subjektivität, die sich auf der Grundlage nicht nur einer völkischen, sondern auch einer antiautoritären und ­einer sexuellen Revolte konstituiert hat, braucht keine Schwarze Pädagogik, weil sie die Kontrolle der eigenen Phantasie als sexuelle Verhandlungsmoral verinnerlicht hat, und sie braucht kein Masturbationsverbot, weil die Verbindung zwischen libidinöser Besetzung des eigenen Leibs und der Möglichkeit erotischer Erfüllung in der Begegnung mit dem anderen in der Erfahrung der Subjekte zerschnitten ist, denen die ganze Welt zur Projektionsfläche ihres Innenlebens wurde, das umgekehrt als intimes überhaupt nicht mehr erfahren wird, sondern nur noch als Verdopplung der Leere und Totenstarre der Gesellschaft. Während der Katholizismus als objektiver Anachronismus reif zur Liquidation ist, hat sich der Protestantismus zu Tode gesiegt: Diese schlechte Aufhebung der Religion im falschen Ganzen heißt Säkularisierung.