Boko Haram mordet in Nigeria weiter

Angst vorm Kalifat

Die islamistische Terrormiliz Boko Haram hat Anfang Januar im nigerianischen Baga Hunderte Zivilisten ermordet. Mittlerweile sind auch die Nachbarländer bedroht.

Es ist der 8. Januar, einen Tag zuvor hatten Jihadisten die Redaktionsräume von Charlie Hebdo angegriffen und zwölf Menschen getötet. Die Welt bekundet ihre Solidarität mit den Opfern. Auch Nigerias Präsident Goodluck Jonathan verurteilt diesen »feigen Terroranschlag«. Über die Terroristen in seinem eigenen Land jedoch schweigt er tagelang. Dabei hat Boko Haram zwischen dem 3. und 7. Januar ein Massaker an Zivilisten verübt, das selbst in der Verbrechensbilanz der islamistischen Terrormiliz seinesgleichen sucht. Erst am 10. Januar meldet sich ein Regierungssprecher, Doyin Okupe, über Twitter – nur, um die kursierende Zahl der Todesopfer anzuzweifeln. 2 000 Menschen, hieß es, seien bei Boko Harams Angriff auf die am Ufer des Tschad-Sees gelegene Fischerstadt Baga ermordet worden. Doch das Verteidigungsministerium behauptet weiter, es gebe nicht mehr als 150 Tote. Okupe twitterte, unter den Toten seien weitaus mehr Soldaten und Terroristen als Zivilisten.

Augenzeugenberichte zeichnen ein anderes, grausiges Bild. So sollen Boko Haram-Kämpfer zunächst eine Militärbasis angegriffen haben, die sich außerhalb Bagas befindet. »Die Soldaten dort versuchten sieben Stunden lang, die Basis zu halten«, sagt Nnamdi Obasi, Sicherheitsanalyst der International Crisis Group. »Doch dann ging ihnen die Munition aus.« Die angeforderte Verstärkung traf nie ein. Damit war für Boko Haram der Weg ins Stadtzentrum frei. Ein 50jähriger Einwohner sagte Amnesty International: »Sie haben so viele Menschen getötet. Ich habe etwa 100 Tote in Baga gesehen. Ich bin in den Busch gerannt. Als wir rannten, haben sie auf uns geschossen.« Ein anderer Bewohner erzählte von der grausamen Erschießung kleiner Kinder und selbst einer gebärenden Frau.
Von Amnesty International veröffentlichte Satellitenbilder dokumentieren das Ausmaß der Verwüstung. Mehr als 620 Gebäude in Baga und 3 100 im Nachbarort Doron Baga wurden völlig zerstört. Für den Nigeria-Experten der Organisation, Daniel Eyre, steht fest: »Von allen von Amnesty analysierten Überfällen durch Boko Haram ist dies der größte und zerstörerischste. Es handelt sich um einen gezielten Angriff auf Zivilisten, deren Häuser, Kliniken und Schulen nun ausgebrannte Ruinen sind.« Doch außer den Satellitenbildern gibt es kaum verlässliche Informationen über den Überfall und dessen Opfer. Und wo es keine Informationen gibt, kann niemand berichten. So bleibt auch Tage nach dem Überfall die Zahl der Toten weiterhin unklar. Die nächsten Journalisten sind Hunderte Kilometer weit entfernt, denn Boko Haram kontrolliert das Gebiet vollständig. Angeblich sollen Geflohene aus Baga auf einer Insel inmitten des Tschad-Sees gestrandet sein, als sie versuchten, den See schwimmend zu überqueren, berichtet Abubakar Gamandi, ein Einwohner, der mit Überlebenden per Mobiltelefon in Kontakt stand, dem US-Fernsehsender CNN. Die Gestrandeten könnten auf der Insel bald an Hunger, Kälte oder Malaria sterben. Sicherheitsanalyst Obasi berichtet, dass mindestens eines der Boote, mit denen die Menschen über den See flohen, von Boko Haram beschossen wurde und unterging. Niemand weiß, wie viele Menschen sich auf dem Boot befanden. Auch dies ist ein Faktor, der die Erhebung der genauen Zahl der Opfer erschwert. »Wir können keine dieser Zahlen bestätigen, doch es scheint, als sei die Schätzung der Regierung zu gering«, sagt Obasi.
Dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNCHR) zufolge sind schätzungsweise 11 000 Menschen aus der Region um Baga in den vergangenen Monaten in den Tschad geflohen. 20 000 der schätzungsweise 30 000 Bewohner Bagas und seiner Umgebung flüchteten angeblich in die Provinzhauptstadt Maiduguri. Die Stadt ist die letzte Bastion des nigerianischen Bundesstaats Borno gegen die vorrückende Terrormiliz. 500 000 Flüchtlinge aus der ganzen Region haben sich hierher gerettet. Die Lage in der Stadt ist katastrophal. »Seit sieben Monaten ist Maiduguri ohne Strom«, sagt Obasi. »Es herrschen Anspannung und Unsicherheit.«

Der Angriff auf Baga und seine Militärbasis ist als direkte Drohung in Richtung Maiduguri zu verstehen. Als Boko Haram im August 2014 ein Kalifat ausrief, erklärten die Islamisten Maiduguri zu ihrer Hauptstadt. Der Gouverneur von Borno, Kashim Shettima, sagte der New York Times, er erwarte, dass Boko Haram die Stadt nun noch mehr unter Druck setzen werde: »Sie haben alle umliegenden Städte erobert. Boko Haram ist besser bewaffnet als je zuvor.« Bereits im September hatte das Forum der Ältesten in Borno davor gewarnt, dass Maiduguri umzingelt sei und die Stadt militärische Verstärkung brauche, um einen »Angriff von allen Seiten« zu verhindern. Das Verteidigungsministerium reagierte, indem es »alarmistische« Berichte aus Maiduguri verurteilte.
»Die Regierung wird Maiduguri mit allen Mitteln verteidigen, es bräuchte schon sehr viel, dass die Stadt fällt«, glaubt Obasi. Doch er ist sich auch sicher, das Boko Haram versuchen wird, die Stadt erneut anzugreifen. »Die Stadt zu erobern, wäre eine große Trophäe für Boko Haram, aber auch ein strategischer Zug, denn Maiduguri hat einen internationalen Flughafen.« Um eine Eroberung zu verhindern, braucht es ein konsequentes Handeln der nigerianischen Regierung. Doch bislang ist davon wenig zu spüren.
Oft heißt es, Korruption im Militär sei der Gru- nd, warum es der Armee an Schlagkraft fehle. Doch obgleich Korruption und Sabotage sicher eine Rolle spielen, ist die nigerianische Armee mit dem Kampf gegen Boko Haram auch grundsätzlich überfordert. Nur 60 000 Mann zählt das nigerianische Militär, Sanitäter und Ingenieure eingeschlossen. »Die Soldaten waren mit Sicherheitsaufgaben innerhalb anderer Teile des Landes bereits überlastet. Zusätzlich fehlt es an Koordination, Ausrüstung und Training für einen Guerillakrieg«, so Obasi. Die zu kontrollierende Fläche betrage fast 150 000 Quadratmeter, es fehle auch an Helikoptern, um abgeschnittene Regionen zu überwachen. Zudem überfällt Boko Haram Lager des Militärs, um Waffen und Ausrüstung zu erbeuten.

Ohne eine stärkere Kooperation zwischen Nigeria und seinen Nachbarn dürfte auch eine Armeereform wenig bringen. Wird Boko Haram in Nigeria bedrängt, ziehen die Kämpfer sich in den Tschad, nach Kamerun oder in den Niger zurück. Dort sammeln sie nicht nur neue Kräfte für den nächsten Anschlag, sie werben auch junge, arbeitslose Männer für den Jihad an und verüben grenzüberschreitende Überfälle. So wie im Juli 2014, als es der Gruppe gelang, die Frau des stellvertretenden tschadischen Ministerpräsidenten aus deren Haus zu entführen. Auch kurz nach dem Überfall auf Baga entführten Boko-Haram-Kämpfer rund 80 Menschen im Norden Kameruns, mindestens 20 von ihnen sollen mittlerweile befreit worden sein. Die Terrormiliz ist schon lange zu einer regionalen Gefahr geworden.
Die Regierungen von Kamerun, Niger und Tsch-ad kündigten Anfang dieser Woche den Beginn einer gemeinsamen Militäraktion gegen Boko Haram an. Am Freitag zuvor hatte das tschadische Parlament unerwartet für Truppenentsendungen nach Kamerun und Niger gestimmt. Die ersten Einheiten sollen bereits in Kamerun eingetroffen sein, um die kamerunischen Soldaten mit Panzern zu unterstützen. Kameruns Präsident Paul Biya nannte Boko Haram eine »globale Bedrohung«, die nach einer »globalen Antwort« verlange. Die Länder werfen Präsident Jonathan Versagen vor, er sei dem Terror nicht entschieden genug entgegengetreten.
Auch innenpolitisch sieht es für ihn nicht gut aus. Im Februar sollen Präsidentschaftswahlen in Nigeria stattfinden. Doch unter der Bedrohung durch Boko Haram werden die Menschen in Borno wohl nicht wählen gehen können. Die Regierung in Abuja, so scheint es, hat einen Teil ihrer Bevölkerung schon aufgegeben.