Guatemala ist zum »Narco-Staat« geworden

Lukrativer Rausch

Mit dem Drogenkrieg in Mexiko verschieben sich Routen und Präsenz internationaler Drogenkartelle nach Mittelamerika. Vor allen Dingen Guatemala konnte sich in den vergangenen Jahren den Ruf als »Narco-Staat« sichern.

»Der Drogenhandel ist eigentlich eine Angelegenheit der Ladino-Bevölkerung, der Weißen«, konstatiert Amílcar Pop. Der Indigene ist ein bekannter Intellektueller, Rechtsanwalt und Politiker in Guatemala. Im Westen des Landes, an der Grenze zu Mexiko, sei allerdings nun auch die indigene Bevölkerungsmehrheit involviert, so Pop. Etwa in der subtropischen Bergregion im Departamento San Marcos. An den Hängen der Vulkane Tacaná und Tajumulco, nahe der mexikanischen Grenze, wird großflächig Schlafmohn angebaut. Es seien vom guatemaltekischen Staat weitgehend vergessene Gemeinden, die jetzt Drogenpflanzen anbauen und im Wohlstand leben, sagt Pop. In San Marcos leben 61 Prozent der knapp 900 000 Einwohner in extremer Armut. Bauernfamilien, die dort nicht mehr Kartoffeln, Bohnen und Mais, sondern die rote Mohnpflanze anbauen, haben ihr Einkommen verzehnfachen können.
»Was habt ihr eigentlich für ein Problem mit dem Drogenhandel?« habe ein indigener Bürgermeister der Region Pop gefragt, um dann freigiebig zu erläutern: »Wir bauen hier alle Drogen an, alle profitieren davon, alle exportieren das Zeug, niemand konsumiert es. Es gibt festgelegte Preise, die Mexikaner kommen, kaufen und ziehen von dannen.« 90 Tage nach Aussaat der Mohnpflanzen kann Opium aus ihnen gewonnen werden, zunächst als milchige Flüssigkeit, die in wenigen Stunden zu einer schwarzen Paste wird. Einmal über die grüne Grenze zwischen den Vulkanen in den mexikanischen Bundesstaat Chiapas geschmuggelt, dient diese dann zur Produktion von Morphin und schließlich Heroin.

Als Abgeordneter der von der Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú gegründeten Partei Winaq kritisiert Amílcar Pop die extreme Beeinflussung der politischen Akteure und Institutionen Guatemalas durch die Korruption der Drogenkartelle. Deshalb fordert er die Legalisierung des Drogenhandels. »Nur so kann die gesamte Gesellschaft daran verdienen und nicht nur einige wenige. Auf Tabak und Alkohol gibt es auch Steuern, um das Gesundheitssystem zu tragen. Für alle anderen Drogen sollte das Gleiche gelten.« Damit könne Guatemala sogar einen Weg aus der Staatsverschuldung finden.
Dieselbe Meinung vertritt niemand Geringeres als Guatemalas Präsident Otto Pérez Molina. Der ultrarechte Politiker, der als junger Offizier federführend am Genozid an der indigenen Maya-Bevölkerung beteiligt war, beschreitet seit seinem Amtsantritt vor drei Jahren neue Wege. Zumindest diskursiv. »Regularisierung« sei die Devise, so Pérez Molina auf regionalen Gipfeltreffen. Der in Guatemala angebaute Schlafmohn solle zur »Verwendung für medizinische Zwecke« in den legalen Warenmarkt eingebunden werden, Marihuana – dem Beispiel Uruguays folgend – in der gesamten Region legalisiert werden.
Doch auch wenn sich der Präsident progressiv gibt und fordert, Drogen als Problem des Gesundheitssektors und nicht der inneren Sicherheit zu betrachten, bleibt eine dementsprechende Politik aus. Die guatemaltekische Regierung verfolgt mit Polizei- und Militäreinsätzen und der Zerstörung von Mohn- und Marihuana-Plantagen weiterhin die althergebrachte regionale Politik des »Kriegs gegen die Drogen« der USA. Eine pragmatische Lösung, denn für die Militarisierung des Landes erhalten Guatemala und seine Nachbarländer im Rahmen der von den USA finanzierten Mérida-Initiative Milliarden US-Dollar.

Den renommierten guatemaltekischen Internetjournalisten Martín Rodríguez Pellecer verwundert es dennoch nicht, dass sich das Volumen des Kokainhandels über Guatemala in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt hat: »Pérez Molina hat vor den Präsidentschaftswahlen 2011 für seine Kampagne Millionen ausgegeben. Es ist klar, dass das Geld aus dem Drogenhandel gewesen sein muss – wo kann es sonst herkommen, in einem wirtschaftlich schwachen Land wie Guatemala?« In einer landesweit ausgestrahlten Fernsehsendung wurde der Präsidentschaftskandidat ausdrücklich gefragt, wer diese hohen Geldsummen gespendet habe und welche Verpflichtungen seiner künftigen Regierung den Spendern gegenüber entstünden. »Pérez Molina antwortete, dass diese um Schweigen gebeten hätten, dass es aber eine interessenungebundene Spende gewesen sei«, schildert Rodríguez Pellecer.
Dem Journalisten zufolge haben die traditionellen Medien damals ihre Aufgabe verfehlt, Nachforschungen anzustellen und die Verbindungen Pérez Molinas zum Drogenhandel aufzudecken. »Die Einflussnahme des Drogenhandels auf die heutige Regierung ist hoch. Niemand investiert schließlich Millionen, ohne damit klare Ziele zu verfolgen. Diese Leute bewegen sich in den Kreisen der Macht«, sagt er. Während der Staat durch die Korruption in den Drogenhandel verstrickt sei, übernehme die Privatwirtschaft die Geldwäsche. »In Guatemala tauchen Millionensummen auf, ohne dass die Banken ihre Herkunft erklären können. Sie müssen in diesem Geschäft mitverdienen.« Auch würden unzählige Luxushotels und Appartementhäuser gebaut, die letztlich leer stünden und nur der Investition der Gewinne des Drogenhandels in legale Geldgeschäfte dienten.
Abseits der Hauptstadt, wo Regierung, Banken und Unternehmen ihren Sitz haben, ist die Präsenz der Kartelle kaum zu übersehen. »Lange Zeit war der Drogenhandel in Guatemala ein Familiengeschäft«, sagt Marcel Arévalo vom soziologischen Studieninstitut Flacso in Guatemala-Stadt. »Das Eintreffen der mexikanischen Kartelle hat das Drogengeschäft in Guatemala professionalisiert und acht Familienunternehmen durch rund 50 kleine und große Drogenringe ersetzt.« Die Drogenhändler träfen heutzutage Entscheidungen nach den Erfordernissen des Tagesgeschäfts, und nicht mehr zugunsten von Familienbanden und traditionellen Loyalitäten.
Derzeit wird Guatemala neu aufgeteilt, vor allem die Dschungelregion Petén war lange Zeit zwischen den Kartellen »Zetas« und »Sinaloa« umkämpft. Es war kein Zufall, dass der mexikanische Drogenboss Joaquín »El Chapo« Guzmán zum ersten Mal 1993 von der guatemaltekischen Armee gestellt wurde. Mehr als ein Jahrzehnt später machten die Zetas in der Hochlandregion Cobán von sich reden. »Sie sind eng mit den Kaibiles, den guatemaltekischen Eliteeinheiten des Heeres, verbunden. Ihnen wird nachgesagt, die Zetas in Foltermethoden ausgebildet zu haben«, berichtet Arévalo. Später hätten die Zetas die potenzierte Brutalität des mexikanischen Drogenkriegs nach Guatemala gebracht.

Doch die traditionellen Drogenbosse Guatemalas bleiben in der Bevölkerung hoch angesehen. Nach dem Vorbild des kolumbianischen Drogenkönigs Pablo Escobar errichten sie Sportstadien und Krankenhäuser. »Die Familie Lorenzana betreibt das am besten ausgestatte Krankenhaus der gesamten Region Izabal«, bekundet Arévalo. »Wenn die Polizei für eine Festnahme anrückt, sind ihre Angehörigen längst gewarnt und über alle Berge. Gelingt eine Festnahme dennoch, geht die lokale Bevölkerung zugunsten ihrer großzügigen Mäzene auf die Straße.«
Als der 75jährige Waldemar Lorenzana, besser bekannt als »der Patriarch«, im März vorigen Jahres an die USA ausgeliefert wurde, stellten seine Anhänger und Anhängerinnen eine ganze Reihe von Videos als Hommage auf You­tube: »Danke, dass Sie meinem Sohn die Leukämietherapie bezahlt haben«, schrieb etwa eine Mutter. Arévalo findet dieses Verhalten verständlich, die Bevölkerung identifiziere sich mit denen, die sich um ihre Bedürfnisse kümmern: »Denn der Staat hat sich zurückgezogen, von ihm können die Menschen nichts erwarten.« Währenddessen dürfte sich Guatemalas Präsident Pérez Molina auch in seinem letzten Amtsjahr darauf beschränken, an seiner rein rhetorischen Alternative zum Kampf gegen den Drogenhandel zu feilen.