Argentiniens Präsidentin und ihr Umgang mit dem Tod des Staatsanwalts Alberto Nisman

Die große Polarisierung

Die argentinische Präsidentin Cristina Kirchner nutzt den Tod des Staatsanwaltes Alberto Nisman zum Kampf gegen innenpolitische Gegner.

Vor fast 60 Jahren, im September 1955, beendete ein blutiger Militärputsch in Argentinien die erste Präsidentschaft des Generals Juan Domingo Perón. Während seiner neun Jahre währenden Herrschaft hatte Perón sowohl ein mystisch-organisches Bündnis zwischen sich und den bislang von der Politik weitgehend verachteten unteren Gesellschaftsschichten geschaffen als auch völlig unterschiedslos flüchtigen NS-Verbrechern wie deren Opfern eine Zuflucht geboten. Vor allem aber hatte er der Bevölkerung den Geist des Nationalstolzes eingeimpft, der während der vorangegangenen Jahrzehnte der rechtskonservativen Führung vorbehalten war. Und: Den heu­tigen Populismus gewissermaßen vorwegnehmend, war es ihm gelungen, die Gesellschaft derartig zu polarisieren, dass Politik vor allem in der Unterscheidung zwischen Peronisten und Antiperonisten, oder, von innen betrachtet, zwischen Freund und Feind, bestand. Bis heute hat sich daran kaum etwas geändert. Nur spricht man gegenwärtig in Argentinien vom Kirchnerismus.

Der Tod Alberto Nismans vor nunmehr einem Monat legt den Blick auf diese Tradition argentinischer Politik offen. Denn schon lange interessiert es kaum noch, ob Nisman, der Anfang des Jahres erschossen in seiner Wohnung aufgefunden worden war, sich selbst das Leben nahm oder nicht. Zwar wird nach wie vor in den argentinischen Medien über die Umstände seines Todes spekuliert, darüber, dass eventuell nicht der von ihm geleitete Fall auf die eine oder andere Weise zu seinem Tod führte, sondern die Ursachen im Privatleben des Staatsanwalts zu suchen sind – was dann eigentlich niemanden etwas anzugehen hätte. Aber davon, dass Nisman Opfer eines Verbrechens oder gar einer irgendwie gearteten Verschwörung wurde, sein Tod ein als ­Suizid getarnter Mord war, ist die große Mehrheit der Bevölkerung überzeugt. Auch wenn die bisher bekannt gewordenen Ermittlungsdetails und Indizien nach wie vor dagegen sprechen. Darüber hingegen, wer Nisman aus welchen Gründen umgebracht haben soll, ist ein auf allen Ebenen und mit sämtlichen Mitteln geführter Streit ausgebrochen, der sich mittlerweile in eine handfeste Staatskrise verwandelt hat. Das Land scheint – wie so oft – in antagonistische Lager gespalten.
Präsidentin Cristina Kirchner ist weniger darauf bedacht, die Todesumstände aufzuklären, als vielmehr Misstrauen und Verwirrung zu verbreiten und diese für ihre politischen Zwecke zu nutzen. Wenige Tage nach dem Vorfall hatte sie bereits den ehemaligen Geheimdienstchef Jaime Stiuso als Urheber des vermeintlichen Mords an Nisman identifiziert, ohne allerdings dafür Beweise nennen zu können. Der einst von ihrem Mann eingesetzte, dann jedoch von ihr in den Ruhestand beförderte Stiuso habe sich an ihr rächen wollen, so die Präsidentin. Und zwar auf perfideste Weise: Nisman, so ihre Theorie, sollte zunächst auf Grundlage falscher Informationen Anschuldigungen gegen sie und Mitglieder ihres Kabinetts erheben, die mit seinem darauf folgenden Tod unwiderruflich das Ansehen der Präsidentin beschädigen sollten. Im Tod des Staatsanwalts sieht sie nichts weniger als einen verdeckten Umsturzversuch der Opposition gegen ihre Regierung. Folgerichtig wurde der für den 18. Februar angekündigte Trauermarsch in Gedenken an Nisman von ihr zu einem juristischen Staatsstreich erklärt und den fünf Staatsanwälten, die zu der Gedenkveranstaltung für ihren Kollegen aufgerufen hatten, ebenso wie pauschal der gesamten Opposition, die mehrheitlich die Kundgebung unterstützte, unterstellt, mit dem Fall einen sanften Putsch vorzubereiten.

Wie deutlich die Präsidentin die schematische Unterteilung in Freund und Feind selbst forciert und die politische Auseinandersetzung auf emo­tionale Verbundenheit zu reduzieren versucht, wurde in der Woche vor dem Trauermarsch deutlich. Die Präsidentin hatte einige Tausend Mitglieder der kirchneristischen Jugendorganisation La Cámpora in den Hof des Regierungssitzes eingeladen und ihre Ansprache mit folgenden Worten eröffnet: »Ich wollte euch sehen und fühlen. Wenn ihr wüsstet, wie viel Kraft ihr mir gebt. Und die Wahrheit ist: Ich brauchte euch.« Von derartiger Informalität waren selbst die meisten argentinischen Kommentatoren überrascht. Mit Hinsicht auf die bevorstehende Kundgebung fügte sie hinzu: »Wir bewahren uns unseren Gesang, unsere Freude und überlassen ihnen das Schweigen. Das Schweigen hat ihnen immer gefallen. Entweder weil sie nichts zu sagen haben oder weil sie nicht sagen können, was sie denken.«
Kirchners Kabinettschef Jorge Capitanich sah sich indessen von den Berichten der konserva­tiven Tageszeitung Clarín derart provoziert, dass er eine ihrer Ausgaben vor laufenden Fernsehkameras zerriss. Wie viele Argentinierinnen und Argentinier dennoch dem Aufruf, schweigend die Aufklärung der Todesumstände zu fordern und implizit damit gegen die Regierung Kirchners zu demonstrieren, folgten, ist umstritten. Während die unter dem Einfluss der Regierung stehende Bundespolizei von landesweit 50 000 Teilnehmern sprach, beteiligten sich an dem Marsch nach Angaben der unter oppositioneller Kontrolle stehenden Hauptstadtpolizei mehr als 400 000 Menschen.
Klar ist, dass die Mehrzahl der Demonstrierenden, die zu großen Teilen der urbanen Mittel- und Oberschicht angehören dürften, nicht nur kam, um Nisman und seiner Familie zu kondolieren. Neben den Staatsanwälten und einigen Angehörigen Nismans hatten auch immer mehr Oppositionspolitikerinnen und -politiker zu der Kundgebung aufgerufen. Allen voran der konservative Oberbürgermeister von Buenos Aires, Mauricio Macri, und der abtrünnige Kirchnerist Sergio Massa von der Partei Frente Renovador. Beide sind aussichtsreiche Kandidaten für die Präsidentschaftswahl im Oktober und lassen derzeit keine Gelegenheit aus, sich in der Affäre Nisman als Aufklärer und Stimmen der Gerechtigkeit gegenüber der Regierung zu inszenieren.
Cristina Kirchner ließ es sich jedoch nicht nehmen, eine Gegenveranstaltung zu organisieren. Anlässlich des Sitzungsbeginns im Kongress nach der Sommerpause mobilisierte sie ihre Anhänger für den 1. März zu einer Großkundgebung vor dem Kongressgebäude. Regierungsnahe Medien berichten von über 350 000 Teilnehmern. Kritische Medien sprechen von lediglich einigen Zehntausend.
Doch geht es nicht ausschließlich um die alte peronistische Taktik der plaza llena, der Macht­demonstration durch gefüllte Plätze. Kurz nach den Verdächtigungen gegen den ehemaligen Geheimdienstler Stiuso verkündete Kirchner Ende Januar ein Gesetzesvorhaben, das die Auflösung des bisherigen Geheimdienstes, der Secretaría de Inteligencia (SI), vorsieht. An die Stelle der SI soll innerhalb von 90 Tagen mit der Agencia Federal de Inteligencia (AFI) eine dem Anschein nach neue, bundesstaatliche Behörde mit demokratischer Legitimation treten. Sowohl der designierte Generalsekretär als auch sein Stellvertreter können von nun an nur mit Zustimmung des Senats, einer der beiden Kammern der argentinischen Legislative, berufen werden.
Nachdem das Gesetzesvorhaben vor knapp drei Wochen bei ostentativer Abwesenheit der Opposition von eben diesem Senat bewilligt worden war, hat am 26. Februar auch das Abgeordnetenhaus der Reform zugestimmt. Die Opposition hatte – nahezu komplett – bis zur Abstimmung gegen das Gesetz polemisiert. Denn in Zukunft soll zwar der Senat in Personalentscheidungen des neuen Geheimdienstes miteinbezogen werden, doch wird dafür eine einfache Mehrheit ausreichen – eine Mehrheit also, über die die Regierung Kirchner derzeit verfügt. Auch das Vorschlagsrecht für mögliche Kandidatinnen oder Kandidaten liegt bei der Regierung. Nach welchen Krite­rien diese ausgewählt werden, ist völlig unklar. Noch bevor das Gesetzesvorhaben ins Abgeordnetenhaus eingebracht wurde, hatte Kirchner verkündet, dass ein Großteil der Mitarbeiter der alten Secretaría de Inteligencia auf ihren Posten in die neue AFI übernommen würden. Von einer Auflösung der alten Behörde kann also nicht die Rede sein. Des Weiteren machten Ende Februar Spekulationen die Runde, denen zufolge 200 bis 300 Mitglieder der krichneristischen Organisa­tionen La Cámpora und Movimiento Evita in die neue Agencia aufgenommen werden sollen. ­Abgesehen davon erhofften sich vor allem Menschenrechtsorganisationen, dass mit der Auflösung der SI auch die Archivbestände des alten Geheimdienstes offengelegt würden – und damit auch jene Bestände, die die Zeit der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 umfassen. Der nun beschlossene Entwurf sieht jedoch eher das Gegenteil vor: Nicht die Veröffentlichung, sondern das Löschen von Akten soll in Zukunft mit geringerem Verwaltungsaufwand verbunden sein.

Der Hauptkritikpunkt der Opposition ist jedoch ein anderer. Zukünftig soll die Leitung juristischer Observationen und damit auch die Anordnung von Telefonüberwachungen nicht mehr im Zuständigkeitsbereich des Geheimdienstes, sondern der Generalbundesanwaltschaft liegen. Eine Maßnahme, mit der Kirchner vor allem auf die Rolle des ehemaligen Geheimdienstchefs Stiuso zielt. Der hatte umfangreiche Telefonüberwachungen gegen Regierungsmitglieder angeordnet und diese anschließend politisch damit unter Druck gesetzt – in vielen Fällen wohl, um Vorteile für sich zu erwirken. Ebenso hat Stiuso jedoch auch mit Nisman zusammengearbeitet und dem Staatsanwalt Abhörprotokolle zur Verfügung gestellt, die die engen Verbindungen von politischen Figuren wie Luis D’Elía und Fernando Esteche zu Mitgliedern des iranischen Regimes offenbaren. Beide, D’Elía und Esteche, waren über lange Zeit offenbar eng in die Nahost-Politik der Regierungen von Néstor und Cristina Kirchner eingebunden und Esteche, wie D’Elía glühender Antizionist, wohl auch an der Konzeption des Memorandums zwischen Iran und Argentinien im Fall des Amia-Attentats beteiligt gewesen.
Alberto Nisman warf der argentinischen Regierung später vor, das Memorandum habe lediglich dazu gedient, wirtschaftliche Beziehungen zum Iran aufzubauen und nicht, wie offiziell behauptet, das Attentat auf das jüdische Gemeindezentrum aufzuklären. Dass die Zuständigkeit für Telefonüberwachungen nun an die Generalbundesanwaltschaft übertragen wird, ist also in der Tat von nicht unerheblicher Bedeutung, zumal die nun zuständige Generalstaatsanwältin Alejandra Gils Carbó bekennende Unterstützerin der Präsidentin ist.
Der seit Februar mit Nismans Ermittlungen betraute Staatsanwalt, Gerardo Pollicita, hat mittlerweile dessen Anschuldigungen gegen Cristina Kirchner erneuert. Sein Versuch, Anklage gegen die Präsidentin wegen Strafvereitelung im Amt zu erheben, wurde jedoch vom zuständigen Richter Daniel Rafecas zurückgewiesen. Die Spaltung der argentinischen Gesellschaft erstreckt sich nicht nur auf die Politik, sondern offensichtlich auch auf die Justiz.