Proteste gegen die Regierung in Brasilien

Die Luft wird dünner

Nach Massenprotesten ist Brasiliens ­Regierung in der Defensive. Ein Korruptionsskandal lähmt Politik und Wirtschaft.

»Die Stimme der Straße wird erhört werden«, versicherte Brasiliens Justizminister José Eduardo Cardozo noch am Abend des 15. März. Wenige Stunden zuvor hatten im ganzen Land Hunderttausende gegen die Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff demonstriert. Rechte Gruppen hatten in sozialen Netzwerken zu den größten Protesten seit dem Ende der Militärdiktatur aufgerufen. Vor allem die weiße Mittel- und Oberschicht zog eingehüllt in die Nationalfarben auf die zentralen Straßen und Plätze aller großen Städte. Die Avenida Paulista, São Paulos schicke Bankenmeile, verwandelte sich für mehrere Stunden in ein Meer aus Grün und Gelb. Die Polizei bezifferte die Teilnehmerzahl alleine dort auf eine Million Menschen. Auswertungen sprachen später zwar von lediglich 210 000 Teilnehmern, jedoch übertrafen die Proteste bei weitem alle Erwartungen. Die konservative Presse feierte jenen 15. März am Tag darauf auf ihren Titelseiten als »Tag der Demokratie«.

Brasilien kommt nicht zur Ruhe. Im Oktober war Präsidentin Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) in der Stichwahl gegen Aécio Neves, den Kandidaten der rechtsliberalen Partei PSDB, im Amt bestätigt worden. In einem der knappsten Wahlergebnisse in der Geschichte des größten Landes Lateinamerikas trennten nur 3,4 Millionen Stimmen die beiden Kandidaten. Bereits im Wahlkampf hatten sich die beiden Lager mit einer für Brasilien unüblichen Aggressivität bekriegt. Im Oktober gingen in São Paulo erstmals Tausende gegen die Regierung auf die Straße.
»Für Brasilien ist eine solch aggressive Rechte völlig neu«, meint der Philosophieprofessor Paulo Arantes im Gespräch mit der Jungle World. Seit den Massenprotesten vom Juni 2013 zeigt diese auch auf der Straße ihre Präsenz. Damals rissen rechte Kräfte die Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen im Nahverkehr an sich (siehe Interview Seite 20). Auch am 15. März demonstrierte die Rechte ihre Kampfbereitschaft. Zwar blieben die Proteste größtenteils friedlich, allerdings kam es in mehreren Städten zu Zwischenfällen. Neben vulgären und sexistischen Verbalattacken gegen Präsidentin Rousseff griffen Demonstrierende am Rande mehrerer Protestzüge vermeintliche Linke an. In der Kleinstadt Jundiaí im Bundesstaat São Paulo wurde die PT-Zentrale in Brand gesetzt, während von einer Brücke Puppen von Rousseff und dem ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva am Strick baumelten. João Pedro Stedile, Vordenker der Landlosenbewegung MST, erhielt in den vergangenen Wochen Morddrohungen.
Einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Datafolha zufolge trieb am 15. März vor allem der sogenannte Petrolão, der Skandal um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras, die Brasilianer und Brasilianerinnen auf die Straße. Etliche Spitzenpolitiker des PT und seiner Koalitionspartner werden beschuldigt, jahrelang Schmiergeldzahlungen in Millionenhöhe vom Energieriesen erhalten zu haben. Im Zuge der lava jato (»Autowäsche«) getauften Ermittlungen wurden in den vergangenen Monaten mehrere Manager wegen Bestechung verhaftet. Nun hat der Oberste Gerichtshof grünes Licht für die Ermittlungen gegen 49 tatverdächtige Politiker gegeben. Gegen Rousseff, die von 2003 bis 2010 Verwaltungsratsvorsitzende von Petrobras war, wird zwar nicht ermittelt, ihr wird aber von vielen Seiten Mitwisserschaft vorgeworfen. »Dilma wusste alles« war an jenem Protestsonntag auf zahlreichen Plakaten zu lesen.

Neben den Korruptionsvorwürfen heizt die marode Wirtschaftslage die Wut der Demonstrierenden an. Nachdem die Wirtschaftsleistung im vergangenen Jahr nur leicht anstieg, rechnen Experten für dieses Jahr sogar mit einem leichten Rückgang. Die jährliche Inflationsrate von derzeit 7,7 Prozent ist so hoch wie seit zehn Jahren nicht mehr, die Landeswährung Real hat stark an Wert verloren. Die wirtschaftliche Flaute kann teilweise auch auf den Petrobras-Skandal zurückgeführt werden. Der Konzern, der als Rückgrat der brasilianischen Ökonomie gilt, hat seit Beginn der Ermittlungen 60 Prozent seines Werts auf dem Markt verloren.
Die brasilianische Rechte hofft auf einen »dritten Wahlgang« in Form eines Amtsenthebungsverfahrens. Schon einmal wurde ein brasilianisches Staatsoberhaupt so zu Fall gebracht: 1992 wurde der damalige Präsident Fernando Collor de Mello ebenfalls der Korruption bezichtigt und nach landesweiten Massenprotesten vom Kongress abgesetzt. Im Petrobras-Korruptionsskandal gilt der derzeitige Senator für Alagoas erneut als einer der Beschuldigten.
Nun soll die Geschichte wiederholt und Rousseff entmachtet werden. Dies könnte mit einem Schuldnachweis im Petrolão-Skandal gelingen. Da den jüngsten Ermittlungsberichten zufolge allerdings kein Verdacht gegen Rousseff vorliegt, seien die Forderungen nach Amtsenthebung mit Aufrufen zum Staatsstreich gleichzusetzen, betonen PT-Politiker. Auch die größte Oppositionspartei PSDB, die die Proteste vom 15. März unterstützte, winkt ab. »Die Amtsenthebung ist wie eine Atombombe. Man benutzt sie zur Abschreckung, aber verwendet sie nicht«, sagte der ehemalige Präsident Fernando Henrique Cardoso im Interview mit der Tageszeitung O Estado de S. Paulo.
Dennoch befindet sich die Regierung in der Defensive. Die Popularitätswerte der Präsidentin sind in den vergangenen Wochen auf einen historischen Tiefstand gesunken. Unmittelbar nach den Demonstrationen erklärten Regierungsvertreter schmallippig, in den kommenden Tagen werde ein Antikorruptionsgesetz im Kongress eingebracht. Rousseff äußerte sich erst am Montagabend danach. Die 67jährige bekundete ihre Dialogbereitschaft und versprach Reformen. Wie bereits in den vergangenen Wochen schlugen viele Brasilianerinnen und Brasilianer während der live im Fernsehen übertragenen Ansprache auf Kochtöpfe und übertönten so vor allem in den wohlhabenden Stadtteilen die Worte der Präsidentin. Die sogenannten panelaços sind eine beliebte und lautstarke Protestform der lateinamerikanischen Mittelschicht.
Neben enttäuschten Konservativen gingen auch christliche Fundamentalisten und rechtsextreme Kräfte am 15. März auf die Straße. In vielen Städten forderten in Camouflage gekleidete Demonstrierende offen einen Staatsstreich des Militärs. In São Paulo stellte die rechtsextreme Gruppe SOS Forças Armadas gleich drei Lautsprecherwagen. Auf einem dieser Wagen verlangte Carlos Alberto Augusto, rechte Hand des berüchtigten Folterers der Militärdiktatur, Sérgio Fleury, unter tosendem Beifall eine Rückkehr der Streitkräfte an die Macht. Zynische Pointe: An genau jenem Tag endete vor 30 Jahren die Militärdiktatur in Brasilien. Tausende Oppositionelle mussten in der Zeit der Diktatur das Land verlassen, Hunderte wurden ermordet. Die damalige Guerillera und heutige Präsidentin Rousseff wurde tagelang gefoltert.
Die Proteste als reine »Putschversuche« abzustempeln, wie viele Linke es tun, ist angesichts der hohen Teilnehmerzahl und Heterogenität der Demonstrierenden allerdings zu kurz gedacht. Auch die Rechte präsentiert sich nicht als einheitliche Bewegung und die unterschiedlichsten Forderungen wurden an jenem Sonntag laut.

Nicht nur auf der Straße, sondern auch im Parlament bekommt der PT scharfen Gegenwind. Im »konservativsten Kongress seit 1964« haben rechte Abgeordnete die Mehrheit. Anfang Februar musste der PT mit der Wahl Eduardo Cunhas vom zur Mitte orientierten Koalitionspartner PMDB zum Präsidenten der Abgeordnetenkammer eine herbe Schlappe einstecken. Der evangelikale Hardliner gilt seit langem als scharfer Widersacher der Regierung. Auch Menschenrechtsgruppen und LGBT-Organisationen kritisierten die Wahl. Cunha äußerte kurz nach seiner Wahl, dass das Thema Abtreibung nur »über seine Leiche« zur Abstimmung komme. Wie die neusten Ermittlungen im Petrobras-Skandal zeigen, steht auch Cunha auf der Liste der Beschuldigten.
Die dem PT nahestehende Linke fürchtet derweil einen politischen Umbruch und mobilisiert gegen die rechte Offensive. Am 13. März hatten landesweit Zehntausende präventiv für die PT-Regierung demonstriert. Auch der gescholtene Ölkonzern wurde dabei in Schutz genommen. »Petrobras verteidigen heißt Brasilien verteidigen«, war auf einem Transparent zu lesen. Zwar beschwört die Rechte regelmäßig ein »neues Kuba« in Brasilien herauf, doch ist die Politik des PT alles andere als sozialistisch. Die Sozialprogramme werden weitergeführt, aber Rousseff setzt den unternehmerfreundlichen Kurs ihrer ersten Amtszeit fort. Die Ministerwahl führte bei vielen Linken zu Unverständnis. Zur Landwirtschaftsministerin ernannte Rousseff die ehemalige Viehzüchterin Kátia Abreu, die als Vertreterin des Agrobusiness gilt. Die von sozialen Bewegungen »Miss Abholzung« getaufte Abreu bekam 2010 für ihr Wirken die »Goldene Kettensäge« verliehen. Finanzminister wurde Joaquim Levy, ebenfalls vom Koalitionspartner PMDB. Der Banker und Wirtschaftsliberale kündigte jüngst eine Haushaltsanpassung an. Soziale Bewegungen wie die Wohnungslosenbewegung MTST befürchten nun Kürzungen im Sozialbereich und laufen Sturm. Am 18. März blockierten die Wohnungslosen in 13 Bundesstaaten die wichtigsten Autobahnen als Protest gegen das Vorhaben. Auch die von Rousseff versprochene Weiterführung des staatlichen Wohnungsbauprogramms »Minha Casa, Minha Vida« (Mein Haus, mein Leben) steht durch die angekündigten Reformen auf der Kippe.
Viele Linke befürchten, dass sich der Kurs der Regierung durch die derzeitigen Proteste weiter nach rechts verschieben werde. Der Kontakt zu den sozialen Bewegungen könnte dadurch endgültig abreißen. Auch seit langer Zeit geforderte strukturelle politische Reformen scheinen in weiter Ferne. Insbesondere eine Veränderung der Parteienfinanzierung wäre jedoch unabdingbar, um die Korruption einzudämmen. Bereits im April will die Rechte erneut auf die Straße gehen. Dass es ihr damit gelingen wird, Präsidentin Rousseff aus dem Amt zu jagen, ist zu bezweifeln. Das gesellschaftliche Klima im Land hat sie aber bereits jetzt nachhaltig verändert.