“Ausprobiert”, Teil 8: Umziehen

Kein Ort, nirgends

»Ausprobiert«, eine Serie über Sportarten, die unsere Autorinnen und Autoren als Kinder geliebt oder gehasst haben – oder die sie schon lange im Fernsehen faszinieren. Teil 8: Umziehen – die beliebteste Lockerungsübung, um im Wahn der Wirklichkeit zu bestehen.

Der Übergang der Menschen vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit war zweifellos qualvoll. Alle Gewaltmittel der stets zweideutigen Naturbeherrschung mussten aufgewendet werden, um sich selbst und seinesgleichen am haltlosen Umherschweifen zu hindern, an einen Ort zu zwingen, räumliche Beständigkeit und zeitliche Dauer herzustellen. Doch ohne jenen Bann, der zugleich ein Gegenbann war gegen die Übermacht der unverstandenen Naturzwänge, wäre die Menschheit nicht einmal als Idee entstanden. Das nomadische Leben, das mit der Sesshaftigkeit beendet wurde, war nie Ausdruck ursprünglicher Ungebundenheit und Freiheit, sondern von unbegriffenem Zwang, dem blinden Getriebensein jener, denen die Zukunft dunkel und ohne Ziel erschienen sein muss, während sie von der Vergangenheit nur in Erinnerung behielten, was sie zum unmittelbaren Überleben nicht vergessen durften. Gedächtnis, die Fähigkeit, zu spezifischen Zeiten an besonderen Orten Erfahrenes lebendig zu bewahren, ist wie die Hoffnung, das Versprechen und die Zuversicht, die eine halbwegs planbare Zukunft voraussetzen, von der Fähigkeit der Menschen abhängig, sich an selbstgewählten Orten niederzulassen. Erst aufgrund dieser Fähigkeit kann das Schweifen, Nomadisieren und Streunen überhaupt erst eine Lust werden.
Die Fratze dieser Lust grinst einem heute in Gestalt manisch-vitaler Großstadt-Backpacker entgegen, die ihren unbedingten Willen, alles Überholte sofort abzuschreiben und zu jeder neuen Möglichkeit ja zu sagen – ihre permanente Bereitschaft zum Verrat an Dingen und Menschen –, der Welt und einander als lässige Spontaneität verkaufen. Ihnen ist das Umziehen nicht allein zur Lebensweise, zur zweiten Natur, sondern auch zum Sport geworden, mit dem sie die Willigkeit zur Selbstaufgabe demonstrieren, die in Beruf wie Freizeit (heute sagt man Auszeit) von jedermann gefordert ist. Schon die Nonchalance, mit der Angehörige der Reisebohème zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts an ihre Freunde Postkarten mit Kritzelzeichnungen aus den Ländern der Welt schickten, war indessen nie nur Ausdruck von Spontaneität, sondern auch von Armut und Not, die allem bloß Improvisierten zugrunde liegen. Wer kein Zimmer für sich allein hat, schreibt seine Gedichte auf dem Bierfilz im Café, und besser werden sie dadurch meistens nicht. Verglichen mit den lebenslänglichen Praktikanten, die binnen zwei Jahren acht WGs in fünf Städten durchlaufen und nebenher ein soziales Jahr in Brasilien absolvieren, trotz aller Weltläufigkeit aber dumm wie Landbrot bleiben, waren die Vagierenden der frühen Moderne aber tatsächlich entspannte Bummelanten.
Vom ersten Umzug an, von den Eltern in die eigene Wohnung, ist immer nur das Einziehen eine Glückserfahrung gewesen: jene manchmal ziemlich lange Zeitspanne, in der die eigenen Zimmer als andere neu erstehen, die Dinge erst hastig, bald gewaltlos und wie aus sich selbst heraus ihren Platz finden und der krude Brachraum, der jede neue Wohnung vor dem Einzug ist, die Spuren der Arbeit, des Denkens, der Spleens und Gewohnheiten dessen zu tragen beginnt, der nun in ihr lebt. Der Umzug selbst dagegen hatte immer aufs Neue etwas von einer brutalen, rücksichtslos gegen sich und den anderen herbeigeführten Trennung. Wo sich noch vor wenigen Tagen in jedem Möbel, jedem nutzlos herumliegenden Ding die Erfahrung des Bewohners, seine ganze Wesensart kristallisierte, klaffen nur rohe Löcher in den Wänden, zeichnen sich die Ränder von Schränken und Regalen in Schmutzschlieren ab und hat sich, was eben noch Zuhause war, in einen Schuttplatz der eigenen Biographie verwandelt.
Plötzlich stapeln sich die Objekte des Lebens, mit all ihren Spuren gedankenlos liebenden Gebrauchs, wie Sperrmüll am Straßenrand und kehren hämisch hervor, dass sie nie etwas anderes als Sachen waren, kalt, gleichgültig und austauschbar gegenüber dem, der sie irgendwann erworben hat. Das tägliche Allerlei eines Menschen, das ihm im Gebrauch ein Ganzes war und es, ein paar Wochen später wenigstens, an anderem Ort wieder werden soll, zerfällt vor seinen Augen in zusammenhanglosen Unrat, der genauso gut niemandem oder irgendwem sonst gehören könnte. Am schlimmsten trifft es die Bücher, jedes einzelne Gegenstand einer Zuwendung, die nur ihm allein zukam, und die sich gestapelt, verpackt, gehäuft und getürmt, übereinander fallend und sich gegenseitig stauchend, in das Rohmaterial zurückverwandeln, dass sie niemals waren, weil jedes einzelne sein eigenes Gesicht und eine eigene Geschichte hat. Denn all die Dinge, die die Menschen mit sich herumtragen, sind nicht nur subjektiv, nicht dem bloßen Gefühl ihrer Besitzer nach, Träger unwiederholbarer Erinnerungen, Sehnsüchte und Affekte, sondern sind, als Gegenstände, objektiviertes individuelles Leben. Daher rührt die Scham, mit der jeder, der noch Scham zu empfinden vermag, auf Trödelmärkten dem übriggebliebenen Inventar vergangener Leben begegnet.
Die Brutalität eines jeden Umzugs, die an den Zwang, die Not und die Angst erinnert, die immer noch und immer offenbarer jeder sogenannten Möglichkeit zugrunde liegen, sich neu zu erfinden, nimmt mit den Jahren nicht durch Gewohnheit ab, sondern wird immer verzweifelter gespürt. Dass solche Verzweiflung von der Differenziertheit, Vielfalt und dem Reichtum des je gelebten Lebens zeugen könnte, ist den Backpackern jedoch unverständlich. Sie haben auf der Höhe der Zivilisation, die einmal den nomadischen Naturzwang überwand, dessen Kärglichkeit, Not und Armut, sein Getriebensein und seine Qual, in selbstbewusster Eigenregie zum Prinzip erhoben. Selber schuld ist seitdem, wer es nicht als Bereicherung seiner Persönlichkeit und Stimulus kommunikativer Kreativität ansieht, sein erwachsenes Leben als Mitbewohner einer Zombie-WG zu fristen, die Filialen in der ganzen Welt zu unterhalten scheint und in der Vertrautheit sich darin erschöpft, dem Intimleben veganer Gesichtspelzträger beiwohnen zu müssen.
Wer den Anspruch erhebt, wenigstens im Privaten allein sein zu dürfen; wer nicht für jedes popelige Projekt bereit ist, schon wieder alle Zelte abzubrechen, um sich aufs Neue irgendwo einzuleben, wo es sich ebenso wenig leben lässt; wer sich nutzlosen Stress macht, nur weil er nicht begreifen will, dass seine Bibliothek auf ein E-Book und sein Leben in eine Diashow passt; wer die lässige Preisgabe von Freunden und Erkenntnissen, die routinierte Treulosigkeit gegenüber dem Leben, die als Ausdruck von Spontaneität gilt, nicht als kommunikative Lockerungsübung begreift, sondern geschmacklos findet – der gilt als arrogant und unliebenswert und wird es dadurch irgendwann tatsächlich. Inzwischen sitzen die Backpacker auf ihrem lose gebündelten Kram, wischen sich durch ihre Smartphones und warten darauf, genauso überflüssig zu werden wie die Welt um sie herum.