Der BND-Skandal

Niemand bleibt sauber

Längst sind nicht alle Details im BND-Skandal bekannt. Doch die öffentliche Erregung verrät viel über die hierzulande gängigen Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Staatsbürger und Souverän.

Seit vor zwei Jahren ein junger Amerikaner und Mitarbeiter der National Security Agency (NSA) sich entschloss, lieber dem »Ruf des Gewissens« als den Verlockungen einer auf staatsbürgerlicher Loyalität basierenden Karriere zu folgen, werden nicht nur Freunde des Spionagethrillers regelmäßig mit Aufsehenerregendem und Überraschendem versorgt. Wer hätte im Sommer 2013 hierzulande gedacht, dass in den Enthüllungen Edward Snowdens mehr als das dem durchschnittlichen deutschen Alltagsbewusstsein weithin bekannt Geglaubte über die degoutanten Manieren des transatlantischen Bündnispartners stecken könnte? Wer hätte zu Beginn des sogenannten NSA-Skandals dessen nahezu lawinenhafte Entwicklung prognostizieren mögen, deren Auswirkungen derzeit sogar die anscheinend unerschütterliche deutsche Regierungskoalition durchrütteln?

Die Ereignisse überschlagen sich derart, dass die rhetorische Phrase von der »Erschütterung vorhandener Gewissheiten« für manche Wirklichkeit zu werden droht. Die Bösen sind zwar noch die Bösen, aber sind die Guten wirklich gut? Erlebt nicht gerade das in Deutschland besonders beliebte Begriffspaar »Täter und Opfer« ein neues, un­geahntes Abenteuer? Die deutsche Öffentlichkeit reagiert mit traditionellen Mitteln: Der Verdacht wird bemüht. Statt Analyse wird Denunziation betrieben. »Der Verrat« titelte Anfang Mai der Spiegel und präsentierte sogleich die nationalen Verräter: »BND und Bundesregierung gegen deutsche Interessen«. Diese Ansicht wird zurzeit offenkundig von vielen geteilt. Man kann davon ausgehen, dass bald »Köpfe rollen« werden, zu einer Beruhigung der medialen Dynamik dürfte das freilich nicht beitragen.
Die öffentliche Erregung hat reichlich Text ab­gesondert. Wer darin grundlegende Erzählungen zum Thema »Geheimdienst und Bürger« sucht, findet deren drei. Die erste heißt: »Der Geheimdienst als Staat im Staat«. Mehr noch als andere mit autonomer Funktionalität und Hierarchie ausgestattete Institutionen wie Armee und Polizei geraten die verdeckt arbeitenden Instanzen staatlicher Interessenvertretung leicht in den Verdacht, zumindest nicht durchgehend die Weisungen des Souveräns zu befolgen. Häufig werden auch völlig abweichende Zielsetzungen angenommen. Dieser populäre Verdacht wird vom beliebten Genre des Agententhrillers aufgegriffen und multipliziert. In den Werken dieses Genres gibt es nicht selten einen guten Agenten, hinter dessen berufsbedingtem Zynismus der einst zur Berufswahl führende demokratische Idealismus noch lebt. Manchmal gibt es sogar eine sauber gebliebene Instanz im Apparat, die sich zum guten Ende dann durchsetzt.
Etwa 57 Prozent der Deutschen, so zumindest eine Statistik von »Deutschlandtrend«, wünschen sich vom deutschen Staat, er selbst möge als diese saubere Instanz agieren. Denn von ihm fühlen sich die guten Leute »nicht ausreichend vor möglicher Überwachung durch Geheimdienste« geschützt. Das wurde gelegentlich schon als »widersprüchlich« bewertet. Niemand ging so weit, diese Haltung als zeitgenössische Variante des »Wenn der Führer das wüsste, würde das aber anders laufen« zu kennzeichnen.
Kritik am »Staat im Staate« hat wohl auch Justizminister Heiko Maas (SPD) zu seiner Initiative einer »demokratischen Kontrolle« des Bundesnachrichtendienstes (BND) inspiriert. Zwar sagte er sinngemäß nicht mehr, als dass es auch für Geheimdienste keine rechtsfreien Räume geben dürfe. Doch er forderte in der Welt am Sonntag auch »Transparenz bei den BND-Aktivitäten« und vor allem eindeutigere Vorschriften für das Überwachen von Ausländern im Ausland. Auch sollte die G-10-Kommission des Bundestags, ­zuständig für die »Kontrolle« der deutschen Geheimdienste, häufiger Einblick in die Auslands­tätigkeit des BND erhalten.

Anlass für Maas’ Initiative war die mediale Kritik am BND als inferiorer Gehilfe der NSA, den diese zum Ausspähen von EU-Partnern und deren Wirtschaft missbrauche. »Eine deutsche Behörde muss auch deutsche Grundrechte beachten«, so Maas. Und das fanden auch die Koalitionskollegen von CDU/CSU akzeptabel. Ein wenig Kritik lieferte tags darauf in der Welt der Historiker und altgediente Politikberater Michael Stürmer: »Ein Geheimdienst, dem jeder, Freund oder Unfreund, über die Schulter schauen kann, wäre sein Geld nicht wert.« Und so zeigte sich die Erzählung vom »Staat im Staate« als redundant: Weil ein Geheimdienst geheim ist, ist er auch unheimlich. Wäre er dies aber nicht, wäre er auch kein Geheimdienst.
Die zweite Erzählung trägt den Titel: »Der Geheimdienst als Instrument der Kapitalistenklasse«. Sie wird hauptsächlich von Anhängern und Medien der traditionellen Linken erzählt und verbreitet sich selbsttätig in politisch engagierten Kreisen, wo man es vorzieht, den Kapitalismus nicht kritisch als aufzuhebendes gesellschaftliches Verhältnis zu analysieren, sondern ihn vielmehr durch Personalisierung – hier die Kapitalisten als »Täter«, dort die Arbeiter, Mieter, Migranten und andere als »Opfer« – zu existentialisieren. Weil die traditionelle Linke sich derzeit wenig Zuspruchs erfreut, sind Varianten dieser Erzählung kaum im Umlauf. Dabei hätte es vor drei Wochen durchaus Anlass für ein Revival gegeben. Darin spielt freilich der Militärische Abschirmdienst (MAD), der bislang noch nicht in die Affäre verwickelt ist, aber es nach der Logik des Stoffes bald sein müsste, eine eigentümliche Rolle.
Dem Rüstungskonzern Heckler & Koch, bekanntlich Hersteller des nicht treffsicheren G36-Sturmgewehrs, waren offenbar bereits vor drei Jahren pfiffige Journalisten auf die Schliche gekommen. Die Konzernspitze wandte sich daraufhin an die Abteilung »Rüstung« des MAD mit der Bitte, gegen die Journalisten mit spezifischen geheimdienstlichen Mitteln vorzugehen. Der Abteilungsleiter »Rüstung« war durchaus geneigt, dem Ersuchen nachzukommen. Dies wäre gewöhnlich der passende Anlass gewesen, das Garn der Erzählung vom »Geheimdienst als Instrument der Kapitalistenklasse« genüsslich abzuspulen – wenn nicht der damalige MAD-Präsident die Hilfe für Heckler & Koch verweigert hätte.
Für eine Fortsetzung dieser Erzählung muss also auf die publizistische Produktion der Theoretiker des Kampfes der »Kapitalfraktionen« gewartet werden. Die meisten Traditionslinken dürften sich gegenwärtig ohnehin von der dritten Erzählung angesprochen fühlen. Deren Titel lautet: »Der Geheimdienst hat die Seite gewechselt«. Für Freunde des Agentengenres sind Seitenwechsel an sich nichts Neues. In John Le Carrés Smiley-Zyklus hatten die Sowjets einen »Maulwurf« an der Spitze des »Circus« (MI5) untergebracht. In der US-TV-Serie »Homeland« geht es um den Wechsel eines NSA-Spitzenmannes auf die islamistische Seite.

Aber dass gleich ein ganzer Auslandsgeheimdienst zum Konkurrenten wechselt, auch wenn dieser ein noch verbündeter Konkurrent und ehemaliger »großer Bruder« ist, entspringt doch einer ziemlich deutschen Phantasie. Gleich nach Bekanntwerden der vom BND in Zusammenarbeit mit der NSA vorgenommenen europäischen Spitzeleien und Kommunikationsüberwachungen tobte ein nationaler Entrüstungssturm durch die deutschen Medien. Bezeichnenderweise gehörte das Führungspersonal der Linkspartei zu den Empörten, die am lautesten schrieen: Der Vorsitzende Bernd Riexinger fordert die Bundesregierung auf, offenzulegen, inwieweit deutsche Geheimdienste »als Handlanger« der USA agiert hätten. Gregor Gysi zeterte im Deutschlandfunk vom »Landesverrat« des BND und setzte sich damit zunächst an die Spitze der nationalistischen Meute.
Als deutlicher wurde, dass auch deutsche Großunternehmen zum Ziel der BND-Spionage geworden waren, gab die FAZ noch nahezu dip­lomatisch zu bedenken: »Was sollen die deutschen Unternehmen von einer Regierung halten, die sie zur Digitalisierung ermutigt und deren Sicherheitsbehörden ihnen Vorschläge zum Schutz gegen Cyberattacken machen – um sie dann womöglich mit Hilfe dieser Institutionen auszuspähen?« Das war noch leise, aber schon das, was am Wochenende SPD-Politiker im Volksgemeinschaftsjargon formulierten, klang forsch. »Wir«, so der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel in Bild am Sonntag, »sind weder unmündig noch Befehlsempfänger.« »Wir«, so die SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi im Tagesspiegel, »dürfen uns nicht zum Vasallen der USA machen.«
Wenngleich die Erzählung »Der Geheimdienst hat die Seite gewechselt« in einer Kakophonie von »Verrat«- und »Wir«-Geschrei endet, sollten derzeit auch die Anhänger der beiden anderen Erzählungen mit dem Verlauf der Dinge zufrieden sein. Viele von ihnen dürften den kürzlich von »netzpolitik.org« geleakten Entwurf eines neuen Vorratsdatenspeichergesetzes aus Heiko Maas’ Ministerium insgesamt ablehnen. Jedoch könnten sie wohl alle dem 3. Absatz des Paragraphen 202d zustimmen. Darin werden diejenigen von einer Strafverfolgung wegen »Datenhehlerei« ausgenommen, die »Handlungen von Amtsträgern oder deren Beauftragten« ausführen und sich auf illegale Weise etwa von korrupten Bankangestellten illegal kopierte Dateien mit fiskalisch relevanten Daten verschaffen. Wie auch bei allen BND-Aktivitäten kommt in der Jagd auf »Steuersünder« die tatsächliche Souveränität eines Staates des Kapitals zum Ausdruck, der Arme wie Reiche gleichermaßen seiner Willkür unterworfen hat und in Deutschland über eine postfaschistisch-demokratische Volksgemeinschaft verfügen kann.