Psychisch kranke Menschen in Côte d’Ivoire

Die Kettenmenschen von Bouaké

In Côte d’Ivoire sind psychisch kranke Menschen von der Gesellschaft ausgeschlossen. Viele Ivorer glauben, dass diese von Geistern oder Dämonen besessen seien. Sie werden zu Pfarrern und Schamanen gebracht, die sie angeblich durch Gebete heilen. In diesen »Gebetszentren« werden die Kranken oft monatelang an Bäume angekettet, man lässt sie hungern. Ein Besuch beim Hilfszentrum Saint Camille in Bouaké, das den Kranken ein Leben ohne Qual ermöglichen will.

Als die Krankheit Maurice Attiouha Yao holte, wisperten Stimmen in seinem Kopf: »Sie wollen dich umbringen.« Sie, das war die Welt da draußen, auch seine Frau, seine Familie. Attiouha Yao horchte in sich hinein und da rief es: »Sie kommen dich holen. Lauf weg.« Und er rannte um sein Leben. Durch das Dorf, in dem er lebte, über die staubige Straße, hinein in das satte Grün des Waldes. Seine Familie fing ihn ein und brachte ihn in ein katholisches Gebetszentrum. Für sie war Yaos Verhalten der schreckliche Beweis: Maurice Attiouha Yao war von einem bösen Geist besessen. Abhilfe konnten nur Gebete und Beschwörungen schaffen. Attiouha Yao wehrte sich, trat, schlug um sich, als seine Angehörigen ihn in das Auto verfrachteten. In dem Zentrum kettete der Priester ihn mit Eisenketten an einen Mangobaum. Ein Jahr lang musste er dort ausharren. Egal, wie stark es regnete oder wie die Sonne ihm auf der Haut brannte. Angeleint wie ein Hund, konnte er sich nur wenige Schritte von seinem Baum entfernen. Danach spannte die Kette, schnitt sich ins Fleisch seiner Knöchel. Er magerte bis auf die Knochen ab, nur selten brachte ihm jemand etwas zu essen. Der Geist in ihm sollte ausgehungert werden. Während all dieser Zeit schrien die Stimmen in seinem Kopf weiter. »Jemand flüsterte mir Worte ins Ohr, aber wenn ich mich umsah, war da niemand«, erzählt er. »Ich hatte schreckliche Angst.« Außer dem Priester berührte ihn niemand in dieser Zeit. Denn die bösen Geister, so glauben die Menschen, können auch auf die Gesunden überspringen.
In ganz Westafrika werden deshalb Menschen mit psychischen Problemen eingesperrt, angekettet und mit fragwürdigen Heilmethoden von Schamanen und Priestern gequält. Die Gesellschaft hat Angst vor ihnen. Der Entschluss der Familie Attiouha Yaos, ihn anketten zu lassen, war ein Akt der Verzweiflung. Hilflosigkeit gegenüber den Symptomen von Krankheiten, deren Namen hier niemand kennt: Schizophrenie, Demenz, Epilepsie, Psychose, Depression.

Adama Coulibaly ist ein Mann, der keine Angst hat. Langsam rollt sein Auto auf einen Checkpoint zu. Er kurbelt das Fenster herunter. »Wir haben es eilig«, sagt er zu dem Polizisten, der sich zu ihm heruntergebeugt hat. »Wir müssen zu einem Kranken.« Der Polizist schaut verächtlich. »Sie fahren zu den Verrückten?« fragt er. »Man sagt psychisch Kranke«, korrigiert ihn Coulibaly bestimmt. »Lassen sie uns jetzt passieren. Wir haben noch viel Arbeit vor uns.« Nur Sekunden nachdem der Polizist die Krähenfüße von der Straße entfernt hat, gibt Coulibaly schon Gas und rauscht an ihm vorbei.
Er ist auf dem Weg nach Botro, einem Dorf etwa 30 Minuten Autofahrt von Bouaké entfernt. Hauptberuflich ist Coulibaly Deutschlehrer. In seiner freien Zeit arbeitet er für einen deutschen Hilfsverein in der Association Saint Camille de Lellis, einem Auffanglager für psychisch Kranke in Bouaké. Das ist einer der wenigen Orte, an denen Menschen wie Maurice Attiouha Yao nicht als »besessen« angesehen werden, sondern als heilbar. »Capitale des foux«, Hauptstadt der Verrückten, nennt man die Stadt deshalb in Côte d’Ivoire.
Gegründet wurde das Zentrum von Grégoire Ahongbonon, einem ehemaligen Automechaniker und Laienprediger. Rund 500 psychisch Kranke leben zurzeit in den Zentren, die Saint Camille in Bouaké betreibt, 290 Männer und 190 Frauen. Viele von ihnen hat Ahongbonon mit eigenen Händen befreit. Mit seinem Geländewagen fuhr er durch die Dörfer, so wie Coulibaly jetzt, und verhandelte mit den Familien, um die Angeketteten mitnehmen zu können. Im Büro des Männerzentrums von Saint Camille hängt ein Foto von ihm mit Johannes Paul II. Für viele hier ist er ein Held. Doch in den vergangenen Jahren hat auch er das Geschäft mit dem Wahnsinn für sich entdeckt. Er hat weitere Zentren wie Saint Camille im ganzen Land errichtet, eines in Benin, wo er sich gerade aufhält.
In Bouaké lagert er alle Medikamente bei sich zu Hause. »Die werden wie Brötchen verteilt«, sagt Coulibaly und biegt von der Straße auf einen holprigen Dorfweg ab. Ahongbonon ist davon überzeugt, dass er Menschen aus seiner Erfahrung heraus behandeln kann. Ohne jegliche Ausbildung als Arzt oder Therapeut. Nur einmal im Monat schaut in Saint Camille ein Psychiater aus der städtischen Klinik nach den Kranken und verordnet die Dosierungen. Viele der Patienten hier haben keine richtige Diagnose bekommen. Gefragt, was genau sie denn für eine Krankheit haben, wissen sie keine Antwort. Ahongbonon hat seine eigenen Methoden. Er schwört auf Heilung durch Beschäftigung. Mit Medikamenten werden die Patienten erst einmal ruhiggestellt, wenn sie einen akuten Krankheitsschub haben. Geht es ihnen besser, kommen sie in eines der Rehabilitationszentren, wo sie sich als Weber, Bäcker oder Schneider ausbilden lassen können. Andere packen im Zentrum mit an.
So wie Koffi Kouassi Bodoin. Vor dessen Hof parkt Coulibaly mittlerweile seinen Wagen. Bodoin war zuerst Patient in Saint Camille. Nachdem sein Zustand sich stabilisiert hatte, arbeitete er im Team von Coulibaly mit. Erst seit kurzem ist er wieder im Dorf seiner Eltern. Eine Seltenheit, denn normalerweise ist die Rückkehr in die Familie für geistig Kranke fast unmöglich. Zu groß ist die Furcht vor ihnen.
Bodoins Vater hat Coulibaly schon erwartet. Gemeinsam setzen sie sich in den Schatten der Veranda seines Hauses. Wasser wird in einer Schale herumgereicht, Neuigkeiten werden ausgetauscht. Im Hintergrund plärrt ein Fernsehgerät. Auf den Stufen der Treppe versammeln sich die Kinder wie zu einer Märchenstunde.
»Papa«, sagt Coulibaly, »wir wollen mit deinem Sohn sprechen.« Der Vater nickt. Er winkt Bodoin auf einen Holzstuhl neben sich. Die Augen des muskulösen jungen Mannes flackern unruhig hin und her, wie ein sehr schnelles Pendel. »Krank geworden bin ich in der Stadt«, erzählt er. Dort hat er Schafe gezüchtet. Plötzlich fing er an, Stimmen zu hören, lief wirr durch die Gegend und kam schließlich zurück in sein Dorf. Zu seinem Vater sagten die Nachbarn: »Dein Sohn ist nicht normal, du musst etwas machen.«
»Ich glaube nicht, dass mein Sohn besessen ist«, sagt der Vater. »Es ist eine psychische Krankheit. Er muss seine Medikamente nehmen.« Ein bemerkenswerter Satz in Côte d’Ivoire. Der alte Mann beginnt zu weinen. »Bodoin raucht und trinkt heimlich. Er nimmt seine Pillen nicht regelmäßig. Er hat Rückfälle«, sagt er und bedeckt sein Gesicht mit den rauen Händen. Sein Sohn schaut auf den klobigen Silberring, den er am kleinen Finger trägt, als ginge es nicht um ihn. »Manchmal schlägt er mich, wenn er einen Rückfall hat«, erzählt der Vater. »Dann muss man ihn festbinden. Damit bin ich überfordert.« Er fügt ganz leise hinzu: »Er ist doch mein Sohn.«
Bodoins Traum ist es, auf dem Bau zu helfen, oder Schafe zu züchten. Unwahrscheinlich, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht. Die Schafzüchter und Bauunternehmer in der Gegend stellen keine Verrückten ein. Solange er nicht arbeiten kann, muss sein Vater für die Medikamente aufkommen, die Bodoin regelmäßig in Saint Camille abholt. Eine Tablette Artan zur Muskelentspannung und 20 Milliliter Fluphenazin zur Therapie seiner Schizophrenie muss er täglich nehmen. Umgerechnet zehn Euro kostet das den Vater im Monat. Geld, das der Bauer nicht hat. Wieder treten Tränen in seine trüben Augen. Noch einmal sagt er: »Ich bin überfordert.«
Auf dem Weg zurück zu seinem Auto redet Coulibaly auf Bodoin ein: »Mach deine Eltern nicht unglücklich«, sagt er. »Hör auf zu rauchen und zur trinken. Versprich es.« Bodoin nickt, doch seine Augen flackern abwesend.
Auf der Rückfahrt nach Bouaké geht es vorbei an Cashew-Plantagen und Feldern voller schwer behangener Mangobäume. Der Polizist, der den Checkpoint bewacht, tippt sich diesmal nur an sein Barett und zieht gleich die Krähenfüße von der Straße. Vielleicht traut er sich nicht an das Auto heranzukommen, jetzt wo er weiß, dass Coulibaly einen Irren besucht hat. Besser ist es, sich fernzuhalten.

»Die Isolation ist das Schlimmste«, sagt Marie Therese Acrouma. Die junge Frau mit dem schwarzen Tuch um den Kopf sitzt auf den Fliesen einer großen Terrasse im Frauenzentrum von Saint Camille. Früher waren Männer und Frauen gemeinsam untergebracht. Doch es gab zuviele Übergriffe, zuviele Schwangerschaften. Schon psychisch kranke Männer sind hilflose Opfer in der ivorischen Gesellschaft, aber psychisch kranke Frauen stehen in der Hackordnung noch unter ihnen.
Wenn Acrouma das Zentrum am Sonntag verlässt, um in die nahe gelegene Kirche zu gehen, spürt sie, wie die Menschen hinter ihrem Rücken über sie tuscheln. »Die Leute behandeln mich nicht wie einen Menschen«, erzählt sie, »das fühlt sich schrecklich an.« Ihr rundes Gesicht blickt traurig. Es ist gar nicht lange her, da war sie noch keine Irre, sondern eine ganz normale Studentin, mit ganz gewöhnlichen Träumen. Einen Abschluss in Computerwissenschaften machen, einmal nach Europa fliegen. Doch das Lernen an der Universität setzte Acrouma zu. Sie traf sich immer seltener mit Freunden, vergrub sich in ihrem Zimmer, fühlte sich oft traurig und leer.
»Ich hatte nur Depressionen«, sagt sie. »Aber meine Mutter hat mich in ein Gebetszentrum gebracht.« Der Priester zwang Acrouma, scharfe Kräuter durch die Nase zu ziehen. Das sollte die Dämonen aus ihrem Geist vertreiben. »Ich hatte furchtbare, stechende Schmerzen in meinem Kopf«, erzählt sie. Ihre Mutter war immer bei ihr. Nie schritt sie ein, weil sie glaubte, das sei das Beste für ihre Tochter, die nur noch daran dachte, sich umzubringen. Erst nach einigen Monaten brachte die Mutter sie schließlich nach Saint Camille. Nun verbringt Acrouma ihre Vormittage statt mit Auswendiglernen damit, Tabletten an die anderen Patienten auszugeben. In einem kleinen Büro voller leeren Pillenschachteln ordnet sie die Tagesrationen. Ahongbonons Beschäftigungstherapie funktioniert für sie. Schon lange ging es ihr nicht mehr richtig schlecht.
Nicht bei allen geht das gut. Eric lag fünf Jahre an der Kette, bevor Grégoire Ahongbonon ihn befreite. Ahongbonon ernannte ihn zum Leiter des Männerzentrums, doch der Stress war zuviel für Eric. Im April hatte er einen schweren Rückfall. Tagelang musste er ruhiggestellt werden, damit keine Gefahr von ihm ausging. Schon im Mai nahm sein Retter ihn wieder mit nach Benin. Er könne sich auch dort erholen, sagte er. »Alle Kranken haben Angst vor Grégoire«, sagt Coul. »Sie sind wie hypnotisiert.« Das Bild des Helden hat große Risse. In Saint Camille wird die gesamte Arbeit von Kranken übernommen. Es fehlt an Fachpersonal und oft auch an Essen. Trotzdem bleiben die Menschen bei Ahongbonon, denn wo der Arm von Saint Camille nicht hinreicht, ist es noch schlimmer.

Der selbsternannte Prophet Jeremiah thront auf einem Holzstuhl im Schatten eines Strohdachs und spielt mit seinem Handy. »Zu mir kommen viele Kranke«, sagt er. »Die Krankheit liegt meist in der Familie, das Schlechte setzt sich über Generation hinweg durch.« Jeremiah sagt, dass er Menschen mit geistigen Störungen durch die Kraft des Gebets heilen, ihnen den Teufel austreiben kann. Mit seinem grünen Hawaihemd würde er auch auf ein Kreuzfahrtschiff passen. Laut dröhnt sein Lachen durch das Dorf, scheucht ein paar Hühner auf, als er danach gefragt wird, wie viele Gebete es denn braucht, um einen Menschen von einem Dämon zu befreien.
»Das ist immer anders«, sagt er. »Es kommt auf den Dämon an.« Die Kranken, die ihm anvertraut werden, bespricht er nicht nur mit Gebeten, sondern lässt sie auch hungern. Fasten nennt er das und behauptet, es dauere nie länger als einen ganzen Tag. Coulibaly sagt, dass es oft Wochen und Monate sind, in denen die Angeketteten nichts zu essen bekommen, »aber wenn sie im Sterben liegen, müssen die Angehörigen sie sofort abholen«. Jeremiah will nicht, dass Menschen in seinem Gebetszentrum sterben. Das ist schlecht für das Geschäft. Die Familien zahlen ihm schließlich viel Geld dafür, dass sie ihre Kranken bei ihm lassen können. Mit den Irren lässt sich überall gutes Geld verdienen. »Ich habe schon Tausende geheilt«, prahlt er. Stolz zeigt er die Ketten vor, mit denen er diejenigen fesselt, die sich in ihrem Wahn, ihrer Panik, zu wehren versuchen.
Jeremiah hält stundenlange Messen, oft mehrmals in der Woche, aus der ganze Region bringen die Menschen ihre kranken Angehörigen hierher. Den Geistern muss zugesetzt werden, notfalls auch mit Gewalt. Die Irren werden mit Knüppeln geschlagen, immer wieder. Nur so verstummen die Dämonen und mit ihnen auch ihre Opfer. Schwer zu sagen, wer vor seiner Zeit in dieser Hölle wirklich psychisch krank war und wen erst Missbrauch und Demütigung in den Wahnsinn trieben.
Maurice Attiouha Yao trägt heute noch Narben von seinen Ketten und den Schlägen. 16 Jahre ist es her, dass er aus dem Gebetszentrum befreit wurde. Nachdem seine Familie merkte, dass Gebete und Kräuteraufgüsse nicht halfen, brachten sie ihn nach Saint Camille. Heute sitzt er, mittlerweile 56 Jahre alt, auf einer blauen Bastmatte, in die das Bild eines Elefanten gewebt ist. Die Matte, ein wenig Geschirr und die rote Schirmmütze die er trägt, sind sein ganzer Besitz. Über ihm breiten sich die Äste eines großen Mangobaumes aus, genau wie der, an den er so lange gekettet war. Auch wenn die Stimmen in seinem Kopf verklungen sind, kann er sich nicht vorstellen, Saint Camille zu verlassen.
»Meine Frau hat sich von mir scheiden lassen als die Krankheit ausbrach«, erzählt er. Seine Stimme bricht und wird ganz leise. »Seitdem habe ich sie nie wieder gesehen. Wie gern ich sie noch einmal anschauen würde.« Für eine Weile schweigt er, zu hören sind nun nur die Schreie und das Stöhnen anderer Kranker aus den Schlafräumen. Auch der Rest seiner Familie hat keinen Kontakt mehr zu Attiouha Yao, nur eine seiner Töchter besucht ihn einmal im Jahr. »Es ist sehr schwer für sie, ihren Papa so zu sehen«, sagt er. An Ostern war sie das letzte Mal da. Zusammen haben sie gebetet und gegessen. »Ich werde für den Rest meines Lebens in Saint Camille bleiben«, sagt Attiouha Yao. Die Welt da draußen will ihn nicht mehr haben.