Das Münchner Filmfest würdigt Andy Warhol

Faules Gepaddel im ruhigen Meer

Welche Filmemacher hat Andy Warhol beeinflusst, welche Genres hat er vorwegenommen? Das Filmfest München beschäftigt sich mit der Rezeption des Pop-Art-Künstlers und Filmavantgardisten.

Viva steht theatralisch genervt im Garten. Sie trägt einen langen schwarzen Morgenmantel, die Vögel zwitschern. »It’s aaaalll repressed homosexuality«, erklärt sie mit trägen Gesten in Richtung Kamera, die Rede ist von Surfern. Andy Warhols »San Diego Surf« (1968, 1996 vollendet) erzählt von einem wohlhabenden jungen Paar – Viva und Taylor Mead –, das seine Strandhütte an Wellenreiter vermietet. Beide begehren die blonden, braungebrannten Männer am Strand (darunter auch der schöne Joe Dallesandro). Die Jungen allerdings zeigen wenig erotisches Interesse. Denn sie sind hauptsächlich verrückt danach, auf ihren Brettern zu liegen und übers Surfen zu quasseln.
»Sand Diego Surf« war ebenso wie der Film »Lonesome Cowboys« (1967/68), der nur vier Monate zuvor entstand, der Versuch, mit den Mitteln des Undergrounds und aus einer schwulen Perspektive Genrekino zu machen. Vom Genre blieben allerdings nur noch die Signaturen: pralle Surferboys mit sonnengebleichten Haaren, die ihre Bretter prominent ins Bild rücken. Das Surfen wird kaum gezeigt, man sieht davon nicht viel mehr als ein bisschen faules Gepaddel im ruhigen Meer. Der Film wurde im Mai 1968 an einem Privatstrand in San Diego mit zwei 16-mm-Kameras gedreht; eine bediente Andy Warhol, die andere Paul Morrissey. Kurz danach wurde Warhol von Valerie Solanas in der Factory angeschossen, das Material blieb für Jahrzehnte unbearbeitet liegen. 1996 beauftragte die Andy Warhol Foundation Morrissey mit der Fertigstellung des Films. Nachdem die Arbeit 2012 in einer nicht ganz unumstrittenen Schnittfassung erstmals im New Yorker MoMA aufgeführt wurde, war »San Diego Surf« nun im Rahmen der Warhol-Hommage beim 33. Filmfest München erstmals in Deutschland zu sehen.
Zu der Reihe »Yes!Yes!Yes! Warholmania in Munich« gehört auch eine Ausstellung. Erstmals zeigt das Museum Brandhorst seine komplette Warhol-Sammlung mit über 100 Werken, von den frühen Zeichnungen der fünfziger Jahre, die sich noch an seiner Beschäftigung als Werbegraphiker orientieren, und seinen »promotional books«, selbstgefertigte und -produzierte Künstlerbücher, über die ikonischen Siebdrucke bis hin zu den in Auftrag gegebenen Celebrity-Porträts. Zu den Höhepunkten zählt sicherlich die Zweikanal-Filmprojektion »Lupe« (1965), die im großen Medienraum des Museums zu sehen ist und einmal mehr Edie Sedgwicks magische Filmpräsenz beweist. Edie verkörpert darin die mexikanischen Schauspielerin Lupe Vélez, eine extravagante Hollywood-Darstellerin der dreißiger und vierziger Jahre, die sich 36jährig und schwanger das Leben nahm. Edie schläft, tanzt, raucht, trinkt, schluckt Pillen und schminkt sich, während Billy Name ein bisschen an ihren Haaren herumschneidet. Das Ende folgt der Darstellung in Kenneth Angers Skandalchronik »Hollywood Babylon«: Das letzte Bild zeigt Edie tot über einer Kloschüssel liegend.
Zusammengestellt wurde die Filmreihe von dem engen Warhol-Mitarbeiter Glenn O’Brien. Er war von 1971 bis 1974 Chefredakteur des 1969 gegründeten Magazins Interview, später arbeitete er für Rolling Stone, publizierte über Musik und Stil und hatte mit »Glenn O’Brien’s TV Party« eine eigene Fernsehsendung. Die Journalistin Katja Eichinger ergänzte das Programm mit »Beyond Warhol«. Gezeigt werden Filme, die sichtbar von Warhols Werk beeinflusst sind, darunter »Cocaine Cowboys« (1979) und »Blank Generation« (1980) von Ulli Lommel, »The Telephone Book« (1971), Nelson Lyons Sex-Comedy mit den Warhol-Superstars Ondine und Ultra Violet, aber auch jüngere Arbeiten wie Harmony Korines »Spring Breakers« (2012) und Sofia Coppolas »The Bling Ring« (2013). Aus dem New Queer Cinema findet sich kein einziges Werk, dafür aber William Friedkins schwüle Angst- und Lust-Phantasie »Cruising« (1980). Inzwischen genießt der Film, der zur Zeit seiner Veröffentlichung von schwulen Aktivisten als homophob kritisiert wurde, zwar einen gewissen Kultstatus, zum Queer Cinema wird er sich vermutlich aber auch in 100 Jahren nicht zählen lassen.
Für die populäre Rezeption von Warhol ist es bezeichnend, dass sein Einfluss auf das zeitgenössische Kino hauptsächlich bei den Themen Startum, Konsumkultur und Pop-Ästhetik ausgemacht wird. Einer der wichtigsten Aspekte seiner Filme – die Zeit – spielt dagegen auch bei »Beyond Warhol« keine Rolle. Dabei sind Warhols Filme in Bezug auf die filmische Syntax und das beobachtende Moment den gänzlich popfernen Erzählungen des katalanischen Filmemachers und radikalen Klassizisten Albert Serra sicherlich näher als den Werken Sofia Coppolas.
Doch Warhol lässt sich offensichtlich für die unterschiedlichsten Interessen, Geschmacks­präferenzen und Gesellschaftsdiagnosen heranziehen und benutzen. Kaum ein anderes künstlerisches Werk weist eine so breite Akzeptanz auf – von der bürgerlichen Hochkultur über den Auktionsmarkt bis hin zu queeren Subkulturen. Nachdem es immer wieder Versuche gab und gibt, Warhol zu traditionalisieren – etwa durch eine einseitige Betrachtung des Künstlers als Maler, der den Anschluss an die klassische Moderne suchte –, scheint seit einigen Jahren, nicht zuletzt mit dem Aufkommen sozialer Medien, eine stark gegenwarts­bezogene oder auch gegenwartsprophetische Rezeption populärer zu werden. Warhol wird demnach nicht nur als eine Art Urheber der modernen Celebrity-Kultur gesehen, sondern auch als ein paradigmatisches Modell für die Ununterscheidbarkeit von Freizeit und Arbeit und die damit verbundene Produktion von Subjektvitäten, wie sie für die postfordistische Gesellschaft charakteristisch ist. Warhols unermüdliche Netzwerkaktivitäten und die Bündelung aller kreativen Kräfte in einer ziemlich einzigartigen Arbeits- und Lebensfabrik – die Factory war eine Synthese aus Galerie, Atelier, Produktionsbüro, Filmstudio, Künstler- und Society-Treffpunkt – wirken in dieser Hinsicht wie ein Vorspiel zum heutigen Narrativ der flexibilisierten Gesellschaft. Ein undifferenzierter Blick auf diese Zusammenhänge produziert aber auch so unausgegorene Thesen wie die, Warhols Superstars (ein auf Jack Smith zurückgehendes Konzept) könnten als Vorläufer heu­tiger Youtube-Stars gelten und seine Screen Tests als Vorläufer der Selfies, wie Katja Eichinger im Katalogtext schreibt. Letztere Behauptung negiert nicht nur die filmische Apparatur, sondern auch den kollaborativen Prozess zwischen Warhol und den Personen vor der Kamera. Warhols filmische Produktion nahtlos in den Mainstream der modernen Kommunikationsmedien einzuspeisen, geht auch über ihren gegenkulturellen Impetus hinweg. Schließlich waren Warhols Filme auch eine Bühne der Selbstdarstellung für Transvestiten, Schwule und ganz allgemein für alternative Lebensformen und Seinsweisen. Bei einem von O’Brien moderierten Diskussionsrunde in der Pinakothek der Moderne (mit John Cale, John Giorno und Jane Holzer) wurde mehrfach an das gesellschaftliche Klima erinnert, in dem das Undergroundkino der sechziger Jahre entstand: Filme mit nackten Körpern und Geschlechtsteilen wurden noch von Zivilfahndern der New Yorker Sittenpolizei konfisziert, oft waren die Reaktionen von Presse und Justiz von Homophobie geprägt.
Man muss sicherlich nicht Warhols in der Originalfassung fast sechsstündigen Film »Sleep« (1963) von Anfang bis Ende durchsitzen – Glenn O’Brien nannte John Giorno, den schlafenden »Darsteller« des Films und damaligen Lebenspartner Warhols, eine »Übergangs­figur zwischen dem Empire State Building des Films ›Empire‹ und Schauspielern« –, um zu begreifen, dass dieser Bruch mit allen Regeln des narrativen Kinos mit den Auf­merk­sam­keits­ökonomien heutiger Zeiten kaum etwas zu tun hat. Das Filmfest zeigte einen 45minü­tigen Ausschnitt der Arbeit. Auch handlungsreichere Filme wie »Chelsea Girls« (1966) oder »Bike Boy« (1968) wirken selbst nach Maßstäben des gegenwärtigen kontemplativen Kinos immer noch sehr wenig kinematographisch und erzählerisch unterentwickelt. Im Gegensatz zu den späteren, unter Morrisseys Regie entstandenen kommerziellen Produktionen wie »Heat« (1972) oder »Flesh« (1968), der 1970 gar der vierterfolgreichste Film in den deutschen Kinos war und von der Constantin verliehen wurde, schließen sie eher an das frühe Kino an. Die formalen Qualitäten sind beschränkt: sta­tische Kamera, wenig Schnitt, ein Minimum an mise-en-scène. Der amerikanische Dichter und Filmkritiker Parker Tyler beschrieb das 1971 sehr schön: »Alles geistige Interesse und alle visu­elle Aufmerksamkeit ist unvermeidlich von einer Ökonomie beherrscht, die einen sich selbst erhaltenden Rhythmus erzeugt. Warhol versuchte, den Pulsschlag der Kamera und das Atmen eines schlafenden Mannes (das Kauen ­eines essenden Mannes, das Küssen eines Liebespaares) mit dem Pulsschlag des auf Seiten des Zuschauers verfügbaren Interesses in Einklang zu bringen. Bleibt dieser Einklang im Kino aus, so beherrscht die Langeweile des Zuschauers das Feld.«
Gewiss führen Warhols Filme auch die Produktion und Ausbeutung von Subjektivitäten vor. Doch in dem Beharren auf ihren Tätigkeiten, ihren Ticks und ihrer Indifferenz – rauchen, noch eine rauchen, nichts tun, einfach gucken, dabei die Zeit verstreichen lassen – propagieren die Warhol-Stars auf der Leinwand auch ein unökonomisches Verhalten. Sie sind keine ­flexiblen Subjekte. Sie arbeiten nicht an sich. Warhols »Screen Tests« ist eine insgesamt 472 Experimentalfilme umfassende Serie dreiminütiger, stiller Schwarzweiß-Porträts, die hauptsächlich zwischen 1964 und 1966 in Warhols Factory gedreht wurden und von Mug­shots inspiriert waren. Sie sind zwar ein Beispiel für pure Darsteller- und Darstellerinnenpräsenz, gleichzeitig unterlaufen sie den eigentlichen Zweck dieses Formats. Schließlich hatten sie im Gegensatz zu den Probeaufnahmen der kommerziellen Filmindustrie keinen Einfluss darauf, wer in Warhols nächstem Filmprojekt eine Rolle bekam und wer nicht. Zwar spielen die »Screen Tests« mit dem Voyeurismus des Betrachters, dennoch sind die Darsteller, darunter Protagonisten der New Yorker Kunstwelt, Schriftsteller, Künstler, Models, Drag Queens, Factory-Celebrities, aber auch Leute, die von der Straße aufgesammelt wurden, die eigentlichen Protagonisten des Blicks. Sie sind es, die intensiv in die Kamera blicken oder auch einfach tun, wonach ihnen gerade der Sinn steht, weggucken zum Beispiel, in den Haaren herumzupfen, gähnen – oder sich aus dem Frame herausbewegen. Warhols »Screen Tests« führen Momente von Sabotage ein: Wo üblicherweise auf ein Jobangebot hingearbeitet wird, öffnet sich der Raum für Langeweile, Ziellosigkeit, Unproduktivität und Verschwendung.