Wer unterscheidet noch zwischen Religion und Politik?

Kein einfaches Kleidungsstück

Das Kopftuch ist sowohl ein religiöses als auch ein politisches Symbol. Für viele junge muslimische Frauen in Europa geht es auch um Identität. Vieles muss berücksichtig werden, wenn es darum geht, das Tragen dieses Stoffstücks einzuordnen. In der Debatte in den westlichen Ländern gibt es allerdings kaum Spielraum für Differenzierungen.

Kopftücher sind prima. Das scheint der neue gesellschaftliche Konsens zu sein, von antirassistischen Gruppen bis hin zu großen Teilen der bürgerlichen Presse. Viele verständnisvolle und kaum kritische Artikel wurden über die Kopftuch tragende Rechtreferendarin Betül Ulusoy geschrieben – zumindest bis sie enthüllte, dass ihre Bewerbung im Bezirksamt Neukölln nur eine politische Aktion war.
Die Verteidigung des Kopftuchs ist notwendig in einem Land, in dem Frauen, bloß weil sie es tragen, verbal und tätlich angegriffen werden. Gerade berichtete Bild über den Prozess gegen einen Frankfurter Beamten, der eine Frau auf dem U-Bahnsteig brutal anrempelte und beschimpfte: »Geh’n Sie dahin, wo Sie herkommen! Ziehen Sie das Kopftuch aus!« Der Taz erzählte eine junge Frau: »Drei Neonazis in Brandenburg wollten ihre Hunde auf mich hetzen. Und neulich in der Bibliothek hat mich ein Mann angebrüllt, was mir einfalle, mit einer Burka in die Uni zu kommen, und dass ich in der Bibliothek nichts verloren hätte.« Doch bei aller Verteidigung des Rechts aufs Kopftuchtragen sollten Geschichte und Bedeutung des Stoffstücks nicht einfach vergessen werden.

In Ländern mit mehrheitlich islamischer Bevölkerung gibt es unterschiedlichste Kopftuchtraditionen. Landfrauen trugen wie auch in Europa praktische Kopftücher, um sich gegen die Sonne zu schützen. Frauen der oberen Schichten im arabischen Raum verhüllten hingegen häufig ihren Körper komplett, Überlieferungen zufolge blieb nur ein Auge frei. Während die Bedeckung der Haare eine religiöse Handlung auch bei Jüdinnen und Christinnen war und ist, findet man für diese einäugige Tracht Belege bei den Sassaniden, einem Perserreich der Spätantike. Die Frauen der oberen Schichten mussten sich damals ab ihrer Hochzeit derart kleiden: Die Verhüllung markierte sie als Besitz. Genauso haben auch die ersten arabischen Feministinnen die Verhüllung empfunden, als die Ägypterin Huda Sharawi 1923 mit einigen Mitstreiterinnen in einer öffentlichen Protestaktion ihren Schleier abwarf.
Zu dieser Zeit begann man in den Ländern des Vorderen und Mittleren Orients, erbittert um Tradition und Moderne zu streiten. Die einen wollten die »Unterentwicklung« ihrer Länder durch Modernisierung überwinden, die anderen argumentierten, nur die Vernachlässigung der eigenen Tradition habe zum Zurückfallen gegenüber Europa geführt. Die Frau wurde zum Symbol dieses Konflikts. Traditionalisten und Modernisten lieferten sich erbitterte Wortgefechte in den Zeitungen darüber, ob sie das Haus verlassen und arbeiten dürfe und ob sie verhüllt sein müsse.
Die Frauen moderner Staatmänner waren unverhüllt. Das war Politik. Der Gründer der türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk, soll seine Frau sogar angewiesen haben, kurze Röcke zu tragen. Er verbot 1925 das Tragen des Kopftuchs in staatlichen Institutionen. Der persische Schah verbot 1936 das Kopftuch komplett. Gegen die Modernisten formierten sich die Muslimbrüder und ab den fünfziger Jahren begannen sie ihre politische Kampagne für das Kopftuch, für das sie den bis dahin eher ungebräuchlichen Begriff Hijab verwandten.
In einer Rede erzählt der ägyptische Staatsführer Gamal Abd al-Nasser amüsiert von seinen Verhandlungen mit dem Führer der Muslimbrüder im Jahr 1953: »Ich fragte ihn: Was fordert Ihr? Das erste, was er wollte, war, dass das Kopftuch verpflichtend für alle Frauen auf den Straßen Ägyptens wird.« Diese Vorstellung muss in den fünfziger Jahren sehr komisch gewesen sein, Nassers Publikum kugelte sich förmlich vor Lachen und ein Zwischenrufer spottete: »Lass ihn doch den Hijab tragen.«
Doch was in den fünfziger Jahren noch lachhaft erschien, wurde in den achtziger Jahren praktisch Realität. Die Muslimbrüder schafften es durch emsige Arbeit in Moscheen und Wohltätigkeitsvereinen, die Menschen davon zu überzeugen, dass der Hijab islamische Vorschrift sei. Sie propagierten nicht irgendein Kopftuch, sondern ein beigefarbenes Tuch, das auch die Brust bedecken sollte. Allein farblich hat dieser islamistische Hijab keine traditionellen Vorgänger. Die Neuschaffung erfüllte einen Zweck: Mit dem massenweisen Auftreten von Frauen in dieser Verhüllung demonstrierten die Brüder ihre Stärke, trotz des Verbots ihrer Partei erlangten sie eine einzigartige kulturelle Hegemonie.
In ähnlicher Weise setzten Anhänger des iranischen Ayatollah Khomeini den schwarzen Tschador ein. Etwas zeitversetzt, in den neunziger Jahren, verbreitete sich dann auch in Europa eine neue Kopftuchmode. Besonders in Frankreich kam der Umschwung wie ein Schock: Hatten die beurs, die Kinder arabischer Migranten, sich noch in den achtziger Jahren klassenkämpferisch und antirassistisch organisiert, demonstrierten in den neunziger Jahren bekopftuchte Mädchen in der ersten Reihe und riefen: »Der Islam ist die Lösung!« Das Kopftuchverbot an Schulen in Frankreich und das absurd anmutende Vorgehen gegen Schülerinnen mit zu langen Röcken – die angeblich das Gesetz der Laizität verletzen – liegen insofern nicht nur in der laizistischen Tradition des Landes begründet, sondern müssen auch vor dem Hintergrund dieser Erfahrung verstanden werden.

Als Gegenwehr gegen die um sich greifende Islamisierung erschien eine Verbotsstrategie durchaus sinnvollund lag auf einer Linie mit der Politik der Herkunftsländer. In Algerien tobte ein Bürgerkrieg mit den Islamisten. In Tunesien verbot die Regierung 2006 das Kopftuch in Schulen, Universitäten und Regierungsinstitutionen. Der Hijab war eindeutiges Zeichen des Islamismus und stand damit gegen Gleichberechtigung von Männern und Frauen und gegen Demokratie.
Doch heute ist die Situation eine andere. Die Islamisten haben es geschafft, dass der Hijab als notwendiges Zeichen von Religiosität gesehen wird – und zwar auch von sogenannten Modernisten. Während die Frau des ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat in den siebziger Jahren kein Kopftuch trug, obwohl sie und ihr Mann ständig öffentlich beteten, tritt die heutige First Lady Ägyptens mit Kopftuch auf. Sympathie für Islamisten kann man ihrem Mann nun wirklich nicht unterstellen.
Für muslimische junge Frauen in Deutschland geht es zudem um Identität. Das Kopftuch ist Gruppenmerkmal und kann als solches auch fesch getragen werden. Manche Kopftuchmode wie etwa der falsche Dutt wird von Islamisten gar verurteilt. Wer sich so kleidet, sagt damit an deren Adresse: Ihr habt die Religion nicht allein gepachtet. Ich kann emanzipiert und trotzdem gläubig sein. Allerdings ist es keineswegs eindeutig, welches Kopftuch welche Bedeutung hat. Bis auf die wenigen Ausnahmen, die von Islamisten angeprangert werden, muss man schon mit der Trägerin reden, um zu wissen, was sie denkt.
Das ist aber oft nicht möglich, wenn man Amtsträgerinnen begegnet. Die Richterin oder Staatsanwältin, die Lehrerin und die Polizistin haben Macht über den Menschen, die mit ihnen zutun haben müssen. Es könnte fatale Folgen haben, wenn ein Kleidungsstück bei einer Schülerin, einem Angeklagten oder jemandem, der Anzeige erstatten möchte, den Eindruck erweckt, dass die Trägerin einer Ideologie anhängt, die Frauen diskriminiert.
Es ist egal, ob das tatsächlich der Fall ist, genauso wie es egal ist, ob das Kopftuch denn tatsächlich vom Islam empfohlen ist. Wenn man Kopftücher bei Amtsträgerinnen erlauben will – und dafür spricht einiges –, dann müssen es solche sein, die sich eindeutig vom islamistischen Hijab unterscheiden. Kopftuchmützen, schicke Turbane, Kappen – da gibt es viele Möglichkeiten. Und wer das nicht will, der ist dann vielleicht schlicht nicht für den Beruf der Richterin oder Lehrerin geeignet.