Der Roman »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969«

Mit Beatles-Perücken Terrorist spielen

Die Geschichte der BRD als Wahngebilde: Frank Witzel erzählt in seinem Roman »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969« aus Kindersicht von den bleiernen Jahren.

Allein im Wackelbild und im Wackelpudding kam das Schwankende und Ahnungshafte der Zeit zum Vorschein. (…) Ein Bild, das in die Zukunft weist und dann doch wieder sofort zurückspringt, als sei nichts geschehen«, reflektiert Timo, der Protagonist in Frank Witzels imposantem Roman »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969« die ihn prägende Gegenwart. Diesem ideellen Wackelpudding namens BRD, der die Gegenwart gleichsam einfriert und die Ahnung der Zukunft zurücknimmt, versucht er mit allen Mitteln zu entkommen, notfalls, indem er die Geschichte verändert: »Kommt die offizielle Geschichtsschreibung abhanden, so besteht die einzige Möglichkeit darin, dem Vergangenen die eigene Geschichte zu geben.«
Timo lebt im Wiesbadener Stadtteil Biebrich, sein Vater ist Fabrikant, seine Mutter ist nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt und an das Sofa im elterlichen Wohnzimmer gefesselt. Eine Lähmung hat auch Timo erfasst, die Unüberschaubarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse der Nachkriegs-BRD macht ihm Angst, während er gleichzeitig fast noch größere Angst vor Veränderungen hat: Angst davor, dass die Rolling Stones größer als die geliebten Beales werden, oder dass die Frau von der Caritas, die im Haushalt aushilft, eine DDR-Spionin sein könnte, aber auch Angst davor, zum Oberstufler zu werden, dem das »eigene Unglück ein gesellschaftlich vermitteltes« ist. Timo versteht das eigene Unglück noch nicht einzuordnen. In seiner eigenen Geschichtsschreibung stößt der Junge Brian Jones in den Pool, die Frau von der Caritas wird von der Polizei gesucht und er und seine Freunde geben sich Tarnnamen und gründen die Organisation »Rote Armee Fraktion 1913«. Verkleidet mit Zorro-Masken und Beatles-Perücken und bewaffnet mit Wasserpistolen überfallen sie den Kiosk von Frau Maurer und werden dafür zur Rechenschaft gezogen; Timo muss ins Internat, wo seine Depression sich weiter mit Wahnvorstellungen mischt und er nicht mehr zwischen Fakten und Erfundenem, Wahn und Wirklichkeit, Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden kann. Die Verpackung des Schokoriegels Snickers, der »anfänglich in einem dunkelroten Einwickelpapier verkauft wurde«, steht in der Weltsicht des Jugendlichen gleichbedeutend neben dem Attentat auf Rudi Dutschke oder den Orgelstunden von Birgit Hogefeld in der Herz-Jesu-Kirche in Biebrich.
Timo stellt der großen Geschichte eine eigene zur Seite und fächert dabei aus unterschiedlichen Perspektiven und in immer neuen Anläufen ein Panorama der sechziger und siebziger Jahre auf, in dem sich Fakt und Fiktion ver­mischen,was zugleich Ausdruck der zunehmenden psychischen Verwirrung des manisch-depressiven Teenagers ist. Dies spiegelt sich auch im Gebrauch der verschiedenen Textformen, vom Tagebuch über Verhöre, Interviews, Gedichte und Theaterstücke bis hin zu Klassenarbeiten. In dieser Vielstimmigkeit gelingt es Witzel, die Atmosphäre der »bleiernen« Jahre einzufangen: die Lähmung und den Wunsch auszubrechen, die Bedeutung von Popmusik als Sehnsuchtsort, der von Möglichkeiten spricht, von Fluchten und Ausbrüchen. Aber auch die Musik gehört Timo nicht allein, sie wird ihm ausgerechnet von der Kirche genommen, die sich seinen Fluchtpunkt Beatles aneignet: »Rubber Soul hat auch nichts mit Gummi zu tun, sondern bedeutet rub yer soul: reibe deine Seele. Erwärme sie für den Herrn.« Der Postulant Hans-Günther gibt dem verwirrten Teenager im christlichen Internat eine ausführliche Auslegung der Songtexte des Albums: »Norwegian Wood. Jesus kommt zu dir nach Hause. Du hast eine wunderbar eingerichtete Wohnung. Du sagst: Hier Jesus, schau mal, meine schönen Möbel. (…) Du sagst, er soll sich setzen. Jesus schaut sich in deinem Zimmer um, doch es ist kein Stuhl da.« Verwirrt setzt Timo die religiöse Auslegung von Pop fort, überträgt die Idee des Märtyrers auf die RAF und bricht schließlich unter der Last von Religion, Autorität und Politik zusammen.
Zahlreiche literarische Bezüge im Roman verweisen auf Autoren der Nachkriegsjahrzehnte, die als Chronisten ihrer Zeit gelten. Witzel reflektiert über Uwe Johnsons Schreibhemmungen nach dem Beenden der »Jahrestage« und hat in den Roman ein auf Peter Weiss verweisendes Theaterstück mit dem Titel »Die Verfolgung und Ermordung des Erwachsenen Teenagers« integriert; Hubert Fichte erhält eine 40seitige Hommage mit dem Titel »Claudia oder die Empfindlichkeit der Geschichte«. Und auch den großen Chronisten der hessischen Lebenswelt, Peter Kurzeck, meint man immer mal wieder zu vernehmen: »Der Geruch von Zündplättchen und der Geschmack von Kreppelteig und Himbeermarmelade. Die Samstagnachmittage, die so lang schienen, und dann so kurz, wenn es Fastnacht war. (…) Nur der Samstagnachmittag mit seiner eigenartigen Stimmung, die vom unschlüssig aufgerissenen Himmel kommt und von den verwaschenen Hochhäusern und eben davon, dass es Samstag ist, dieser unschlüssigste aller Tage in dieser unschlüssigsten aller Welten.« Doch auch wenn sich »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969« auf diese Weise in eine literarische Tradition einschreibt, steht der Roman doch für sich.
Der Sommer 1969 ist der Ausgangspunkt einer Reise durch die Popkultur- und Literaturgeschichte, die in der Gegenwart endet, wo der Protagonist nach einer Krebs-Diagnose versucht, noch einmal Ordnung in seinem Leben zu schaffen und erneut scheitert. Auch sein alter Schulfreund Bernd, der heute als Dr. Bernhard Lückricht in Frankreich als Psychoanalytiker arbeitet, kann ihm mit der von ihm entwickelten Technik der »Kontext-Therapie« nicht weiterhelfen, vielmehr verstärkt er damit Timos Neigung, alle Geschehnisse der Welt auf sich zu beziehen, sei es die Gründung der RAF oder die Auflösung der Beatles. In der Kontext-Therapie stellt »sich der Patient einen historischen oder geografischen, einen familiären oder gesellschaftlichen Kontext vor, innerhalb dessen er quasi konfabulatorisch Erinnerungen produziert«. Die Ergebnisse dieser Therapieversuche, in denen sich Timo im Nationalsozialismus, der DDR und anderswo verortet und die Lückricht auch in seinem Buch »Generationskomplex Timotheus« verarbeitet hat, sind ebenso Teil des Romans wie ein Interview mit dem Psychoanalytiker. Für Lückricht ist die Geschichte Timos eine Parabel für jene Generation, »deren Eltern in der Nazizeit Kinder waren, einerseits, und die andererseits nicht zur Studentenbewegung, die ja meist Naziväter hatten, gehörten«. Auch wenn die »entscheidenden Dinge immer ungesagt« bleiben, wie es im Roman heißt, sind den Möglichkeiten des Erzählers, alles anzusprechen, was seine Gegenwart bestimmt, keine Grenzen gesetzt.
Im Roman übermalt Witzel jenes »Weiß, das entsteht, wenn Erinnerung reißt«, mit der subjektiven Geschichtswahrnehmung des Protagonisten und öffnet Räume, die ein zwischen Fiktion und Fakten changierendes Bild der Nachkriegsgesellschaft zeichnen, ein Bild, das den Zusammenbruch des Teenagers mit dem Verdrängen der nationalsozialistischen Vergangenheit, der Autoritätshörigkeit gegenüber der Kirche und der Paranoia nach Gründung der RAF kurzschließt.

Frank Witzel: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969, Matthes & Seitz, Berlin 2015, 818 Seiten, 29,99 Euro