Chinas Krise und die Weltwirtschaft

Der große Crash in China

Die Einbrüche an Chinas Börsen deuten auf die dramatische Verschuldung infolge des kreditgetriebenen Wachstums in dem Land hin. Das Ende des Booms könnte eines mit Schrecken für die Weltwirtschaft werden.

Anfang voriger Woche war es wieder soweit: Nach nur zwei Wochen relativer Ruhe auf den chinesischen Aktienmärkten fielen die Kurse an der Shanghaier Börse innerhalb eines Tages um 8,5 Prozent, seitdem dümpeln sie auf diesem Niveau herum. Ein solches Tagesminus hatte es seit 2007 nicht mehr gegeben. Damals war Chinas Leitindex, der Shanghai Stock Exchange Composite, zwischen Oktober 2007 und November 2008 um über 72 Prozent eingebrochen und konnte nur durch das gigantischste Konjunkturprogramm der Geschichte wieder auf Erfolgskurs gebracht werden. Nachdem bereits im Juni dieses Jahres der Index-Wert um über 30 Prozent, von 5 178 Punkten auf etwas über 3 000 Punkte, abgestürzt war und seitdem nur notdürftig durch die Regierung hatte stabilisiert werden können, erwarten viele Experten nun mindestens ebenso große Verwerfungen wie zu Beginn der interna­tionalen Krise. Nur dass ihr Ausgangspunkt diesmal direkt in China liegen könnte: »Die nächste globale Rezession ist made in China«, hatte bereits Ende Juni die US-Bank Morgan Stanley gewarnt.
Dabei sah es an den chinesischen Börsen, an denen lediglich Inländer investieren dürfen, zu Beginn des Jahres noch rosig aus. Nachdem im November Chinas Nationalbank erstmals seit dem Sommer 2012 die Leitzinsen gesenkt hatte – und dies gleich dreimal in kurzer Folge –, gingen die Kurse in Shanghai und bei der auf Technologiewerte spezialisierten Börse in Shenzen regelrecht durch die Decke. Um über 100 Prozent hatten sie bis Mai zugelegt. Vor allem die Zahl von Kleinanlegern soll sich Bloomberg zufolge in diesem Zeitraum von wenigen Millionen auf über 90 Millionen vervielfacht haben. Die Stimmung hat ­Jacob Cao, ein in Shenzen lebender Steuerberater, in einem Bericht für die Zeit eingefangen – sie ähnelt nicht zufällig den Darstellungen aus der Zeit des New-Economy-Booms in den USA und Europa. »Es herrschte eine regelrechte Jubelstimmung«, schreibt Cao. »Beim Mittagessen unterhielt ich mich mit meinen Kollegen nicht mehr über Fußball, sondern über Aktien.« Binnen weniger Wochen erzockte sich der Mann ein zweites Jahresgehalt – nur um es seit Juni wieder zu verlieren. Die Euphorie ist seitdem dem Katzenjammer gewichen. Über 2,2 Billionen US-Dollar, etwa ein Drittel der gesamten Marktkapitalisierung, sollen in dieser gigantischen Entwertung binnen weniger Wochen eingedampft worden sein.

Ganz unerwartet kam der Einbruch allerdings nicht. Bereits Ende Mai bezeichnete der britische Economist Chinas Börsen als »Crazy Casino«. Und die Financial Times hatte verwundert zur Kenntnis genommen, dass die Kurse aller 29 seit dem zweiten Quartal in China neu gelisteten Unternehmen gestiegen seien – und zwar ausnahmslos täglich. So stieg das Kurs-Gewinn-­Verhältnis an der Shanghaier Börse bis zu diesem Zeitpunkt durchschnittlich auf 72. Am Start-up-Markt Chinext wurden die Unternehmen gar durchschnittlich zum 130fachen des Jahresgewinns gehandelt. Als »gesund« gilt normalerweise das 13- bis 15fache. Zum Vergleich: Beim ebenfalls als überhitzt geltenden deutschen Leitindex Dax liegt das Kurs-Gewinn-Verhältnis derzeit bei etwa 19.
Dass dies in China politisch gewollt war, steht außer Frage. Dafür sprechen nicht nur die Leitzinssenkung und die Politik des »billigen Geldes«, sondern auch die diversen Kampagnen der chinesischen Führung zur Motivation von Kleinanlegern. Bis zu 85 Prozent der chinesischen Wert­papiere sollen von ihnen gehalten werden. Vor allem nach dem Ende des Immobilienbooms in China waren es überwiegend junge Chinesen, die hier die Möglichkeit einer sichereren Vermögenssteigerung ausmachten. Der Economist hatte zuletzt errechnet, dass bis zu 80 Prozent der Kleinanleger nach 1980 geboren worden seien. Für viele von ihnen, wie auch für Cao, sind die den Status steigernden Käufe von Eigentumswohnungen, teuren Autos oder Reisen allerdings nun in weitere Ferne gerückt.

Die Kommunistische Partei wollte mit diesem Umschwung offenbar auf die seit 2008 grassierende Defizitkultur des Landes reagieren. Denn war der Boom der »Werkbank der Welt« bis dahin vor allem exportgetrieben gewesen, so hatte sich seit dem Kriseneinbruch und dem damit zusammenhängenden Rückgang der Exportüberschüsse Chinas Wachstum vor allem auf eine Verschuldung gestützt, die lediglich mit der einiger europäischer Krisenstaaten vergleichbar ist. Der Ausgangspunkt der Verschuldung war das 2008 aufgelegte, 458 Milliarden Dollar umfassende Konjunkturprogramm. Es war nicht nur absolut das größte der Geschichte, sondern stellte mit über zwölf Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) auch relativ alles bisher Dagewesene in den Schatten. Lag die Gesamtverschuldung von Staat, Wirtschaftssubjekten und Privathaushalten Ende des Jahres 2008 noch bei 153 Prozent des BIP, so stieg sie sukzessive auf gegenwärtig 283 Prozent. Damit lag die jährliche Neuverschuldung durchschnittlich um acht Prozent über dem Wirtschaftswachstum. Eine Entwicklung »weit jenseits des Punktes, der für eine jede Ökonomie effizient wäre«, wie die Financial Times bereits im Frühjahr anmerkte.
Vor allem der wachsenden Verschuldung der Unternehmen sollte die Zufuhr frischen Kapitals von den Aktienmärkten abhelfen. Denn Chinas Firmen sind in einer Höhe verschuldet, die global ihresgleichen sucht. Nach den Angaben der US-Ratingagentur Standard & Poor’s liegen ihre Gesamtverbindlichkeiten bei etwa 160 Prozent der Wirtschaftsleistung, während sie in der Euro-Zone bei lediglich 83 und in den USA gar nur bei vergleichsweise geringen 65 Prozent liegen sollen. »Chinas Verschuldung konzentriert sich bei den Unternehmen«, heißt es dazu in der Studie. Vor allem das Ende des Baubooms, der für große Teile des Wirtschaftswachstums in den vergangenen Jahren verantwortlich war, markiert die Verwertungsschwierigkeiten des chinesischen Kapitals, die auch durch den notorisch schwachen Binnenkonsum hervorgerufen werden. 6,6 Millionen Gigatonnen Beton wurden allein in den Jahren 2011 bis 2013 den offiziellen Statistiken des chinesischen Wirtschaftsministeriums zufolge verbaut – fast 50 Prozent mehr als in den USA im gesamten 20. Jahrhundert. Neben der aus dem Boden gestampften Infrastruktur stehen nun Geisterstädte, und die Abrissbirne für die massenhaften Bauruinen ist sinnbildlich für die gegenwärtige chinesische Wirtschaftsentwicklung eines auf Kreditfinanzierung beruhenden Wachstums. Bereits im Frühjahr mussten einige Immobilien­finanzierer, wie die Evergrande Real Estate Group, mit Milliardenbeträgen vor dem Untergang gerettet werden.
Dass die Expansion der Börsenwerte diesem Trend nur kurzfristig entgegenwirken konnte, ist angesichts des weiteren Gewinnrückgangs von 0,3 Prozent im ersten Halbjahr alles andere als überraschend. So sieht sich die chinesische Führung seit Juni dem Problem gegenüber, zunächst die Aktienkurse und damit die Vermögen vor allem der urbanen Mittelschicht zu stabilisieren, um den Einbruch beim Konsum, und hier vor ­allem im Immobiliensektor, nicht noch zusätzlich zu verstärken. Wiederum wurden die Leitzinssätze gesenkt, um zusätzliches Kapital in die Märkte zu pumpen, 1 400 besonders schwer getroffene Aktien – mehr als die Hälfte der insgesamt an der Shanghai Stock Exchange gehandelten Wertpapiere – wurden zumindest zeitweise vom Handel ausgeschlossen, neue Börsengänge verhindert und Großanlegern Verkäufe generell verboten.
Zudem hat die Zentralregierung offensichtlich entgegen ihren Verlautbarungen selbst Stützungskäufe unternommen. Bis zu 440 Milliarden Dollar sollen nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) dafür zur Verfügung stehen. »Der Regierung bleibt nichts anderes übrig, als von Brandherd zu Brandherd zu fahren«, kommentierte dies der Professor für Unternehmertum an der Tongji-Universität, Han Zheng, im Gespräch mit der Zeit. Denn eigentlich hatte Chinas Staatspräsident Xi Jinping angekündigt, mehr und mehr den Markt entscheiden zu lassen. Angesichts der Abflachung des Wirtschaftswachstums in China allerdings ein kaum einlösbares Versprechen. 1,6 Prozent sollte der Finanzsektor ursprünglich zum erwarteten Wirtschaftswachstum von sieben Prozent beitragen – ein Wert, der nachhaltig in Frage gestellt ist.
Und sollten die Turbulenzen sich verstärken, ist ein Übergreifen auf die Weltwirtschaft alles andere als unwahrscheinlich. Paul Singer, der Geschäftsführer des Hedgefonds Elliott Management, kommentierte bereits, das Risiko für die Weltmärkte sei »derzeit weit größer als Subprime« im Jahr 2007, denn China sei das Pendant zu »Lehman Brothers unter den Volkswirtschaften«. Auch wenn diese Befürchtungen derzeit etwas übertrieben scheinen und die Kursabfälle an den internationalen Börsen in Reaktion auf die Einbrüche in China bisher lediglich temporären Charakter hatten, so ist die Bedeutung Chinas für die Weltwirtschaft nicht ganz falsch beschrieben. Gegenüber der EU ist China mit einem Handelsvolumen von 467 Milliarden Euro nach den USA Handelspartner Nummer zwei, das chinesische Handelsvolumen mit den USA liegt sogar noch knapp darüber. In Afrika und weiten Teilen Asiens sind Chinas Unternehmen bereits die größten Investoren und der zeitweilige Boom in einigen Staaten Lateinamerikas fußte nicht zuletzt auf Rohstoff- und Nahrungsmittelexporten ins Reich der Mitte – genau wie ihre Rezession, seit die Handelsvolumina zurückgehen.