Das Matterhorn sorgt für Diskussionen

What’s the Matterhorn?

Vor 150 Jahren wurde der berühmteste Gipfel der Alpen zum ersten Mal bestiegen. Aber der Berg ist immer noch Gegenstand von Auseinandersetzungen.

Sehr weit entfernt ist Zermatt nicht von St. Moritz oder Davos, zumindest soziokulturell betrachtet – ein mondänes Gebirgsdorf, gelegen im südlichsten Zipfel der Schweiz. Um nach Zermatt zu gelangen, fährt man mit der Bahn am »Primarschulhaus Sepp Blatter« in Visp vorbei, denn der gebeutelte Chef des Weltfußballverbandes dürfte einer der berühmtesten Söhne des Kantons Wallis sein.
Zu den Söhnen des Wallis gehört auch Gianni Mazzone. Der 51jährige Bergführer ist Nachkomme der Erstbesteiger des Matterhorns, nämlich Vater und Sohn Peter Taugwalder, beide trugen den gleichen Namen. Vor 150 Jahren waren die beiden Zermatter Bergführer zusammen mit dem Engländer Edward Whymper die ersten Menschen auf dem Matterhorn, das Adorno als »Kinderbild des absoluten Bergs« bezeichnet hatte.
»Als Erstbesteiger gilt Edward Whymper«, sagt Mazzone. »Das ist schade, aber das ist so.« Gianni Mazzone kämpft für die Anerkennung der Leistung seiner Vorfahren. Damit steht er nicht allein. Jetzt, im Jubiläumsjahr, wird am Riffelberg bei Zermatt das Freilufttheaterstück »The Matterhorn Story« aufgeführt, bei dem viele Einheimische mitspielen und in dem die Erstbesteigungsgeschichte korrigiert dargestellt wird. »Hoffentlich hilft das und führt zu einer Richtigstellung«, sagt Gianni Mazzone.
Im Juli 1865 hatte Whymper recht hektisch eine buntgemischte Bergsteigergruppe zusammengestellt, nachdem er gehört hatte, dass von italienischer Seite eine Erstbesteigung geplant war. Whymper machte den Aufstieg zusammen mit drei unerfahrenen Engländern, dem französischen Bergführer Michel Croz und den zwei Taugwalders. »Zur damaligen Zeit waren diese drei sehr, sehr bekannte und erfahrene Bergführer«, sagt Mazzone zur Kompetenz der Männer, die die Engländer führen sollten.
Whymper trieb die Gruppe an, um vor der Konkurrenz den Gipfel zu erreichen. Der italienische Bergführer Jean-Antoine Carrel führte nämlich von der anderen Bergseite eine Seilschaft hoch. Reinhold Messner, berühmtester Bergsteiger der Gegenwart, der mittlerweile auch als wichtigster Chronist des Alpinismus zählen kann, hält den Wettlauf um das Matterhorn für den Einzug des Nationalismus in die Geschichte des Bergsteigens.
Whympers Ehrgeiz gab den Ausschlag, seine Gruppe triumphierte vor den Italienern, doch beim Abstieg geschah die Katastrophe. Ein Seil riss. Vier von Whympers Männern stürzten in die Tiefe. Es überlebten nur die Taugwalders und Whymper selbst. Später erhob der Engländer in einem mit hoher Auflage verbreiteten Buch schwere Vorwürfe. Peter Taugwalder Vater habe das Seil durchgeschnitten, behauptete er. Es kam zum Prozess, Whymper konnte seine Version nicht halten. Vielmehr hatte Taugwalder Vater vor dem Absturz geistesgegenwärtig das Seil hinter sich um einen Felszacken gewickelt und so Whymper das Leben gerettet. Dieses Seil liegt heute im Matterhorn-Museum in Zermatt.
Doch den Ruf der Einheimischen hatte Whymper zerstören können, schließlich wurden seine Bücher von den zahlungskräftigen Hochtouristen in England, Deutschland und Österreich begeistert gelesen. Den Taugwalders jedoch standen keine Massenmedien zur Verfügung, als Bergführer bekamen sie von den Touristen wenige bis keine Aufträge mehr. »Er ist dann nach Amerika ausgewandert«, erzählt Mazzone über Taugwalder Vater. Auch als er Jahre später zurückkehrte, war die Wunde nicht verheilt. »In unserer Familie wurde nie davon gesprochen«, berichtet Mazzone, »vielleicht aus Scham.«
Es ist beinah die Wiederholung eines großen Stoffes der Mythologie. Mit dem Matterhorn, seiner Besteigung und Erschließung, gelang dem verarmten Weiler Zermatt im abgelegensten Winkel des abgelegenen Mattertals der Aufstieg zu einem der berühmtesten Bergdörfer der Welt – mit Restaurants, Seilbahnen, Skipisten, Prominenten und Luxushotels. Aber jene, die diese Entwicklung möglich gemacht hatten, Vater und Sohn Taugwalder, zerbrachen daran. Erst 150 Jahre später beginnt man in Zermatt und anderswo langsam, sich an sie zu erinnern.
Es war kein Zufall, dass das Matterhorn Karriere als mondäner Bergort machte. Schon lange vor der Erstbesteigung, ab dem Jahr 1838, entstanden die ersten Hotels in Zermatt. Im Jahr 1859 plante ein Schweizer Ingenieur in den bis dahin als unbesteigbar geltenden Berg einen Tunnel zu graben, der mit einer Steigung von zehn Prozent wie eine Wendeltreppe zum Gipfel geführt hätte. Immer wieder aus dem Fels hervorlugende Fenster hätten die Sauerstoffzufuhr gesichert. Auch an Rastplätze war gedacht worden. Zur Ausführung kam der Plan nie.
Die Erstbesteigung im Jahr 1865 wirkte für vergleichbare Ideen zur touristischen Nutzung des Matterhorns als Katalysator. 1892 sollte eine Matterhorn-Bahn gebaut werden, eine Seilbahn zum Schwarzsee. Dem folgen sollte eine Drahtseilbahn, die zum Fuß des Berges führen sollte, wo bis heute der Einstieg in die eigentliche Besteigung, der Beginn des Hörnli­grates ist. Und als Krönung schweizerischer Ingenieurskunst war eine Drahtseilbahn geplant, die mit 75prozentiger Steigung und zwei Kilometer Länge bis 20 Meter unter den Gipfel führen sollte. Für die letzten Meter sollte ein Höhenweg gebaut werden, auf dem Gipfel dann ein Restaurant und Souvenirläden.
Dass diese Pläne letztlich verworfen wurden, lässt sich nicht behaupten. Eine Seilbahn von Zermatt zum Schwarzsee wurde 1956/57 tatsächlich gebaut, sie transportiert bis heute große Mengen an Besuchern, von denen nicht wenige weiter zur 2014 komplett neugestalteten und erst in diesem Jahr wiedereröffneten Hörnlihütte wandern – die Ausgangshütte für die Besteigung des Matterhorns auf der Normalroute.
Kurz vor dem Seilbahnbau, 1953, gab es den Plan, die Furggenbahn bis hoch zum Matterhorn zu führen. Über 100 000 Unterschriften wurden gegen das Projekt gesammelt, so dass es scheiterte. Aber 1979 wurde zu dem daneben gelegenen Klein Matterhorn (3 883 Meter hoch) eine Seilbahn eröffnet. Knapp unter dem Gipfel des Klein Matterhorns gibt es ein Gipfelrestaurant, einen Souvenirshop und den Gletscherpalast, der 15 Meter unter der Schneedecke liegt und den man für Partys buchen kann.
1984 wurden zwei Felsblöcke, jeder etwa 200 Kilogramm schwer, mit Helikoptern vom Gipfel des Matterhorns weggeflogen – als Werbegag für die amerikanischen Skiorte Snowbird und Vail. 1991 sollte an den drei schwierigen Graten, die zum Gipfel führen, jeweils ein Drahtseil und ein Elektrokabel verlegt werden: Lampen, die alle 30 Meter in den Berg einbetoniert worden wären, hätten das Matterhorn beleuchtet. Das wurde damals verhindert. 2014 ließ die Outdoorfirma Mammut ein ähnliches Projekt verwirklichen: Bergführer verteilten sich spätabends auf dem Hörnligrat und hielten Lichter hoch – eine Illumination des Aufstiegs.
Das Matterhorn ist einer der berühmtesten Berge der Welt: Die Form der Toblerone-Schokolade ist ihm nachempfunden, es gibt Bier, Wein und Schnaps, die nach ihm benannt sind. Zigaretten, Käse, Joghurt, Shampoo, Haarspray und sogar brasilianischer Kaffee werden mit seinem Bild beworben. Der Rummel hätte jetzt, zum 150. Jahrestag, seinen Höhepunkt finden können. Doch kurz vor dem Jubiläum teilte der Gemeindepräsident von Zermatt mit: »Aus Respekt zum Berg und im Gedenken an die über 500 tödlich Verunfallten seit der Erstbesteigung wird das Matterhorn am 14. Juli 2015 für jegliche Aktivitäten geschlossen.«
Dass am Matterhorn so viele Menschen starben – andere Quellen sprechen von über 2 000 Toten –, liegt an der Popularität des Berges. 3 000 Besteigungen hat das Matterhorn im Jahr, in guten Jahren 3 500. Objektiv betrachtet ist das nicht viel. Der Mont Blanc beispielsweise, mit 4 810 Meter höchster Berg der Alpen, hat die zehnfache Besteigerzahl im Jahr. Aber das Matterhorn gilt noch immer als einer der schwersten und unfallträchtigsten Gipfel der Alpen. Und dafür sind 3 000 pro Jahr sehr viel.
Was jetzt stattfindet, ist eine Art Rückaneignung des Matterhorns durch die Walliser Bevölkerung. »Wir wollen die Geschichte des Berges etwas korrigieren«, sagt Daniel Luggen, Kurdirektor von Zermatt, zur Begründung des Theaterstücks. »Wir wollen die Geschichte des Berges aufarbeiten.« Luggen erzählt, welche Ideen zur 150-Jahr-Feier an ihn herangetragen wurden, er hat sie alle abgelehnt: Ein Schweizer Hochseilartist etwa wollte auf einem Drahtseil vom Klein Matterhorn auf das 600 Meter höhere Matterhorn gehen, eine Art neue Erstbegehung. »Das wäre eine Riesengeschichte gewesen. Aber so etwas wollten wir nicht«, sagt Luggen.
Ob es um den Versuch geht, den Berg, an dem so viele Menschen gestorben sind und dem der Weiler Zermatt seinen Aufstieg verdankt, eine Form von Respekt zu zollen, indem Versuchen seiner Vermarktung ein Riegel vorgeschoben wird, oder darum, die einheimischen Erstbesteiger endlich ins historische Recht zu setzen und nicht mehr als irgendwelche »Begleiter« in Fußnoten auftauchen zu lassen – einiges hat Zermatt in den vergangenen Jahren von St. Moritz und Davos wegrücken lassen, soziokulturell betrachtet.