Die Weltwirtschaft kann kaum noch stabilisiert werden

Im Wartesaal der Depression

Die Krisen in den einst gefeierten Schwellenländern verdeutlichen die fundamentale Schwäche der kreditgetriebenen vermeintlichen Stabilisierung der Weltwirtschaft.

Als um die Jahrtausendwende und nach den Verwerfungen der Asienkrise und dem Platzen der Dotcom-Blase immer deutlicher wurde, dass die Tendenz sinkender Wachstumsraten nicht nur in den kapitalistischen Zentren, sondern auch in den Staaten Ostasiens unumkehrbar sein würde, verschob sich die Hoffnung vieler Ökonomen hin zu den sogenannten Schwellenländern. Stilbildend wurde ein Aufsatz des damaligen Chefvolkswirts von Goldman Sachs, Jim O’Neill, der auch das Stichwort lieferte: Bric. Brasilien, Russland, Indien und die Volksrepublik China – verschiedentlich wurde auch Südafrika dem dann BRICS genannten Block zugeordnet – würden ein verstärktes Wachstum erleben und als »Lokomotiven der Weltwirtschaft« die globale Akkumulation wenn nicht beschleunigen, so doch zumindest stabilisieren. Das war im Jahr 2001. Kurz danach machte O’Neill weitere Staaten aus, die »Next Eleven«, die den Club der Länder mit erheblichen Wachstumschancen erweiterten. Unter ihnen waren neben bereits teilindustrialiserten oder rohstoffreichen Staaten wie der Türkei, dem Iran, Nigeria, Mexiko und Südkorea auch Länder wie Bangladesh, Ägypten, Indonesien, Pakistan, Vietnam und die Philippinen, die mehr oder minder an der Peripherie des Weltmarktes lagen. Weitere vermeintliche Wachstumslokomotiven wurden schließlich fast wie Modekollektionen jährlich vorgestellt.

Für immerhin anderthalb Jahrzehnte schien sich diese Hoffnung zu bestätigen. Nach den Berechnungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) sind seit dem Jahr 2000 etwa 65 Prozent des globalen Wachstums in diesen emerging markets generiert worden. Berücksichtig man lediglich den Zeitraum seit dem Einbruch der Krise im Jahr 2008, dann wären es gar 80 Prozent. Billionen von Dollar flossen als Investitionen in die Schwellenländer, immer weiter angetrieben auch durch die self-fullfilling prophecies in den Gutachten, die sich in Folge der Analysen O’Neills und seiner Nachfolger auf die Wachstumsmärkte konzentrierten. Der Aufbau moderner (Über-)Produktionskapazitäten, von nur in Teilen sinnvollen und noch seltener profitablen Infrastruktur- und Bauprojekten sowie der intensivierte Abbau von Rohstoffen, der durch den erhöhten Bedarf auch und gerade wegen dieser Aufschwünge lukrativer wurde, feuerten zeitweise die Booms in verschiedenen Ländern immer weiter an. Zusätzlich an Dynamik gewann diese Entwicklung durch den historisch einmaligen Rohstoffbedarf Chinas nach dem Auflegen des größten Konjunkturprogramms der Geschichte in Höhe von insgesamt mehr als 460 Milliarden US-Dollar. Das »Dreaming with BRICs«, so der Titel eines weiteren Goldman-Sachs-Reports aus dem Jahre 2003, schien sich zu verstetigen. Zuwachsraten zwischen fünf und zehn Prozent, in den alten Zentren des Kapitalismus kaum mehr vorstellbar, wurden zum Standard.

Anders als im Falle Japans, das ein halbes Jahrhundert ein, wenn auch zunehmend abgeschwächtes Wachstum erlebt hatte, oder der südostasiatischen Tigerstaaten, deren Wirtschaftswunderzeiten immerhin noch über zwei Jahrzehnte angehalten hatten, weicht die Euphorie nun schon nach kürzerer Zeit dem Katzenjammer fehlender Profitabilität. Das ist nirgends so plastisch zu beobachten wie in den chinesischen Geisterstädten, in denen 65 Millionen Wohnungen leerstehen sollen. Brasilien verzeichnet derzeit einen Rückgang der Wirtschaftsleistung von 1,6 und Russland gar von fast fünf Prozent. Nicht anders sieht es in den meisten Schwellenländern aus. Selbst die Türkei, in den vergangenen Jahren das Land mit den höchsten Zuwachsraten nach China, stagniert ebenso wie Indien und Südafrika. Ihre Währungen befinden sich im freien Fall. Bereits jetzt dümpeln der brasilianische Real, die türkische Lira und der südafrikanische Rand auf Allzeittiefs und die Währungen Indiens, Indonesiens und Ägyptens waren zumindest seit der Jahrtausendwende noch nie weniger wert. Fast panisch mutet die Fluchtbewegung des schon von Marx als »scheues Reh« bezeichneten überakkumulierten Kapitals an. Binnen eines Jahres sollen Investoren nach den Zahlen des niederländischen Vermögensverwalters NN Investment Partners etwa 940 Milliarden US-Dollar aus den emerging markets abgezogen haben. Und die Tendenz hält an, wie die heftigen Einbrüche an den Wertpapierbörsen der Schwellenländer bezeugen. Selbst O’Neill schreibt mittlerweile die meisten der Schwellenländer ab, wie er bereits im April in einem Kommentar des Project Syndicate formulierte. Ruchir Sharma, Chef der Abteilung für die Wachstumsmärkte bei Morgan Stanley, folgerte zuletzt, kein Begriff habe »das Denken über die Weltwirtschaft mehr verwirrt als das Kürzel Brics«.

Lediglich auf China konzentrierten sich bis vor kurzem noch die Hoffnungen: »Von den vier Bric-Staaten (…) ist China der einzige, der meine bisherigen Wachstumserwartungen für dieses Jahrzehnt erfüllt hat«, hieß es in dem Artikel O’Neills. Nicht nur die größere politische Stabilität des von der Kommunistischen Partei rigide regierten Staates läßt immer noch viele Investorenherzen höher schlagen, auch die nichtdefizitäre Ökonomie spielte bei der Beurteilung eine Rolle.
Während des nun fast 35jährigen Aufschwungs der Volksrepublik wiesen Handelsbilanz und Staatshaushalt stetig positive Bilanzen aus. Nun aber deuten die Kursverluste, die verzweifelten Interventionen der chinesischen Regierung durch Stützungskäufe, die jüngst erfolgte Währungsabwertung und die geringeren Wachstumserwartungen darauf hin, dass auch in China vor allem die Verschuldung der Unternehmen dramatische Züge angenommen hat und die »Werkbank der Welt« allein kaum als Rettungsanker für die taumelnde globale Ökonomie taugen dürfte (siehe Jungle World 32/2015).
Die Börsen in den Metropolen spielen seit Wochen verrückt. Der Dow Jones konnte lediglich durch eine Reihe von Kaufbefehlen durch die amerikanische Notenbank Federal Reserve (Fed) und andere Regierungsbehörden bei einem moderaten Minus stabilisiert werden, nachdem am 25. August zunächst der Rekordverlust von 1 100 Punkten zu verbuchen gewesen war, während etwa der Dax erstmalig seit langer Zeit wieder unter die 10 000er-Marke rutschte. »Wir sind heute viel enger mit den Schwellenländern verflochten als noch vor 20 Jahren, deswegen sind Unfälle dort für uns viel bedeutender«, kommentierte etwa Klaus-Jürgen Gern vom IfW. Eine Aussage, die durch die Zahlen bestätigt wird. Das Handelsvolumen Chinas mit der EU beträgt jährlich 467 Milliarden Euro, das der USA liegt sogar noch leicht darüber. Zwischen 2008 und 2014 sind etwa die deutschen Ausfuhren um insgesamt 138 Milliarden Euro angestiegen. Allerdings entfielen davon lediglich zehn Milliarden auf die EU, während der Rest vor allem in die Schwellenländer ging. Diese Dynamik kommt nun an ihr Ende.
Anders noch als 2008 und 2009 treffen diese Krisenerscheinungen auf zunehmend finanz- und wirtschaftspolitisch handlungsunfähige Staaten. Während damals die Eindämmung der globalen Krise mittels gigantischer Konjunkturpakete – nach den Berechnungen des IfW umfassten sie im allein Jahr 2009 4,7 Prozent der Weltwirtschaftsleistung – und der später eingeleiteten Nullzinspolitik der wichtigsten Notenbanken zumindest teilweise gelang, sind nun die privaten und öffentlichen Verschuldungsraten so enorm gestiegen, dass ein weiteres Eindämmen mit Hilfe fiktiver Kapitalschöpfung kaum mehr erfolgversprechend ist. Der Unternehmensberatung McKinsey zufolge ist seit der Krise der weltweite Schuldenstand um 57 Billionen auf 199 Billionen US-Dollar und damit mehr als das Zweieinhalbfache der Weltwirtschaftsleitung gestiegen. Dass die Kredit- und Liquiditätsschwemmen Versprechen auf zukünftigen Wert sein könnten, glaubt außer einigen verbissenen Keynesianern niemand mehr.

Ein Ende der Spekulationsblasen ist dennoch weder in den USA noch in Europa in Sicht. So könnte die Inflation der Wertpapierpreise und Eigentumstitel nach einem kurzen Desaster zumindest temporär wieder eingedämmt werden. Mohamed El-Erian, der ehemalige Vorsitzende des weltgrößten Wertpapierhändlers Pimco, drückte diese Stimmung in einem Artikel bei Bloomberg View zuletzt folgendermaßen aus: »Das Beste, auf das wir jetzt hoffen können, ist eine kurzfristige Stabilisierung des Marktes durch eine weitere Reihe von liquiditätsgestützten Interventionen.« Euphorie wollte aber auch bei ihm nicht aufkommen. »Denn«, so fügte er hinzu, »sie würde nicht ausreichen, um den langfristig benötigten Stabilitätsanker zu schaffen, den das globale Finanzsystem sucht.« Der ehemalige US-Finanzminister Lawrence Summers forderte in einer Kolumne der Financial Times von der Fed gar eine Mindestlaufzeit der Nullzinspolitik von mindestens zehn Jahren. Aufschub statt Lösung, so könnte man die aktuelle Strategie zusammenfassen. Denn dass die Schulden nicht unendlich wachsen können, ohne die Funktionsfähigkeit der Staaten zu untergraben und die Profitabilität der Investitionen weiter zu mindern, versteht sich von selbst. Dass dann eine erneute schuldengetriebene Stabilisierung angesichts der kaum noch vorstellbaren Größe der Finanzblasen möglich sein sollte, erscheint kaum denkbar. Platzen werden sie aber. Und dies eventuell sogar früher, als Summers und andere denken.