In Brasilien geht das Wachstum zurück

Die Stille nach dem Boom

Die Schwellenländer in Lateinamerika ­befinden sich in der Krise. Vor allem am Beispiel Brasiliens lässt sich diese Entwicklung erklären.

So hatte sich Dilma Rousseff ihre zweite Amtszeit wohl nicht vorgestellt. Hunderttausende haben in den vergangenen Wochen in Brasilien immer wieder gegen ihre Regierung demonstriert. »Raus mit Dilma und der Arbeiterpartei« gehörte dabei noch zu den harmlosen Parolen. Dabei war die brasilianische Präsidentin erst im Oktober vergangenen Jahres wiedergewählt worden. Selbst die Ikone des brasilianischen »Wirtschaftswunders«, Rousseffs Amtsvorgänger und Parteifreund Luiz Inácio Lula da Silva, hat seinen Nimbus verloren. In der Hauptstadt Brasilia wurde eine riesige aufgeblasen Lula-Puppe in gestreifter Häftlingsuniform auf den Protestveranstaltungen herumgetragen.
Anlass der Empörung ist der Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras, das größte brasilianische Unternehmen. Über Jahre hinweg sollen Politiker, darunter auch Mitglieder der Arbeiterpartei, für staatliche Aufträge Provisionen abgezweigt haben. Bei Aufträgen im Wert von 23 Milliarden Dollar sind demnach Schmiergelder in Höhe von rund vier Milliarden Dollar geflossen. Neben Petrobras ist noch ein Dutzend der größten Baukonzerne Brasiliens betroffen. Viele große Infrastrukturprojekte stehen still. In der Bauwirtschaft drohen nun Massenentlassungen.

Viele Brasilianerinnen und Brasilianer sind frustriert und wütend, dass sich die Versprechen von Wohlstand und Fortschritt in Luft auflösen. Die linke Arbeiterpartei (PT) kam vor zwölf Jahren mit dem Versprechen an die Macht, dass sie die enormen Ressourcen Brasiliens nutzen wolle, um das Land endlich an die führenden Industrienationen heranzuführen. Tatsächlich gelang unter der Präsidentschaft Lulas ein fulminanter Aufschwung. Über mehrere Jahre hinweg stiegen die Wachstumsraten kontinuierlich. Schon bald zählte Brasilien zu der Gruppe aufstrebender Schwellenländer, denen auf den Finanzmärkten eine glänzende Zukunft prophezeit wurde.
Der Arbeiterpartei gelang es in dieser Zeit, eine Aufbruchsstimmung zu erzeugen und den Binnenkonsum zu stimulieren. Mit Sozialprogrammen wie »Bolsa Familia« wurden Millionen aus extremer Armut befreit, Strom, Benzin und der öffentliche Nahverkehr wurden subventioniert, während die Mittelschicht vor allem über Kredite mehr als je zuvor konsumierte. Finanziert wurden die Programme durch eine ehrgeizige Export­strategie, die auf Agrarprodukte und Rohstoffe setzte. Über fast zwei Dekaden hinweg war etwa Chinas Wirtschaftsleistung schnell gewachsen, wodurch die Weltmarktpreise für Produkte wie etwa Soja und Zucker stiegen. Auch andere lateinamerikanische Staaten wie Argentinien und Venezuela profitierten von dieser Entwicklung.
Zugleich versuchte Brasilien, zu einem wichtigen Akteur im Energiebereich aufzusteigen. Der hohe Ölpreis rechtfertigte hohe Investitionen, um neue Ölquellen zu erschließen. Zudem wurde exzessiv in nachwachsende Rohstoffe wie Zuckerrohr und Palmöl investiert. Noch vor kurzem träumte die brasilianische Regierung davon, das Land in ein Saudi-Arabien des Agrospritmarktes zu verwandeln.
Die neue wirtschaftliche Stärke nutzte die brasilianische Regierung, um ihren Einfluss im Handelspakt Mercosur zu stärken und sich als lateinamerikanische Hegemonialmacht zu etablieren. So ist unter anderem ein regionales Infrastrukturprojekt geplant, das den Transport von der Atlantik- zur Pazifikküste und damit den Handel mit China beschleunigen soll. In wenigen Jahren wollte Brasilien zur fünfstärksten Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigen und damit alle europäischen Staaten hinter sich lassen. Für die lateinamerikanische Linke handelte sich um ein historisches Projekt mit dem Ziel, das alte Ab­hängigkeitsverhältnis zwischen Zentrum und Peripherie aufzuheben.
Doch nun drohen die ehrgeizigen Pläne zu scheitern. Nicht nur aus ökologischen Gründen hat sich die bisherige Strategie als zweifelhaft erwiesen. Der brasilianische Boom hielt an, ­solange die Nachfrage auf dem Weltmarkt stieg und China zweistellige Wachstumszahlen erreichte.

Nun zeigt sich, dass sich die Entwicklung bei den Schwellenländern nicht einfach fortsetzt. Bereits ein Rückgang des chinesischen Wachstums auf sieben Prozent führte zu einem Preisverfall für Öl, Soja, Zink, Kaffee und andere wichtige Exportgüter. Allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres sind die brasilianischen Exporte in die Volksrepublik um 15 Prozent gesunken. Die meisten anderen lateinamerikanischen Länder kämpfen mit ähnlichen Problemen.
Viele der ehrgeizigen Projekte wie Häfen, Raffinerien, petrochemische Großanlagen oder die Erschließung von Tiefseevorkommen sind wegen des niedrigen Ölpreises nicht mehr zu finanzieren. Die dafür aufgenommen Kredite müssen jedoch weiterhin bedient werden, weswegen die Zinsbelastung des Staatshaushalts steigt. Mehrere Ratingagenturen haben mittlerweile ihre Bewertungen für Brasilien gesenkt. Spätestens seit dieser Herabstufung befindet sich das Land in ernsthaften Schwierigkeiten. Um das Haushaltdefizit zu begrenzen, hat Dilma Rousseff strenge Sparmaßnahmen angeordnet. Nun gehen nicht nur die Exporterlöse zurück, auch der Binnenmarkt schrumpft. Subventionen werden rigoros gestrichen, was vor allem die untere Mittelschicht trifft. Rund 38 Prozent aller Brasilianer sind verschuldet, und viele sind kaum mehr in der Lage, ihre Raten zu bedienen.
Hinzu kommen Schwächen in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Infrastruktur, in die während der Boom-Phase wenig investiert wurde. Dass trotz der maroden Zustände die Preise weiter steigen, hat im vergangenen Jahr während der Fußballweltmeisterschaft heftige Proteste ausgelöst.
Tiefer gehen jedoch strukturelle Probleme, die auch die Arbeiterpartei nicht lösen konnte. Der brasilianische Staat war schon immer in hohem Maße von Klientelismus geprägt, der zugleich eine extreme Bürokratie erzeugte. In kaum einem anderen Land in der Welt sind die Regularien für Steuern und Abgaben so zeitraubend und Baugenehmigungen oder Anhörungsvorschriften so komplex – geradezu ideale Voraussetzungen für Schmiergeldzahlungen und Bestechung. Entsprechend korrupt ist auch das politische System, das im Wesentlichen auf Gefälligkeiten und partikularen Machtinteressen beruht. In Zeiten des Wachstums bleiben genügend Mittel übrig, um auch in gesellschaftliche Belange zu investieren. Kommt es zur Rezession, werden die Verteilungskämpfe härter.
Derzeit untersucht die oberste Wahlbehörde, ob Dilma Rousseff für ihre Wahlkampagne im vergangenen Jahr finanzielle Mittel aus schwarzen Kassen von Petrobras erhalten hat. Sollte sich das bestätigen, könnte die Präsidentin des Amtes enthoben werden. Mit ihrer Amtsführung sind mittlerweile gerade noch acht Prozent der Brasilianerinnen und Brasilianer zufrieden; fast zwei Drittel befürworten ein Amtsenthebungsverfahren. Selbst wenn Rousseff die Protestwelle überstehen sollte, wird die Arbeiterpartei ihre ambitionierten Ziele kaum mehr erreichen können. Brasilien bleibt das Land der Zukunft, das unter einer deprimierenden Gegenwart ­leidet.