Ist der Kapitalismus noch zu retten?

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Die Krise des Kapitalismus und das ­Versagen der Linken.

Ein Trader lässt seinen Computer im Aktienhandel gegen andere Computer antreten, sie versuchen einander mit Scheinkäufen über die Festplatte zu ziehen, der Trader rauft sich die Haare, weil sein Computer unterliegt, und zieht schließlich den Stecker – eigentlich ist der moderne Kapitalismus eine lächerliche Angelegenheit geworden. Aber täglich widmen sich unzählige Aktienhändler mit heligem Ernst diesem Geschäft. Derzeit werden wahrscheinlich mehr als die Hälfte der Aktienkäufe von Computern abgewickelt, was den Glauben, hier handelten Leistungsträger aufgrund ökonomischer Expertise, erstaunlich wenig erschüttert hat.
Geeignet für einen Sketch wäre auch der sprechende Kühlschrank, der Dinge bestellt, die man gar nicht haben will, unablässig mahnt, sich gesünder zu ernähren und automatisch die Beitragserhöhung der Krankenversicherung anzeigt, weil ihm an diesem Abend schon das dritte Bier entnommen wurde. Aber derartige Produkte gelten unter dem Label »Industrie 4.0« als Zukunft der Wirtschaft.

Immerhin bietet uns der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts ein wenig comic relief. Es bleibt ihm nichts anderes übrig. Ein neuer Akkumula­tionszyklus ist nicht in Sicht, die Investitionstätigkeit bleibt trotz der von den westlichen Notenbanken zum Nulltarif zur Verfügung gestellten Billionen dürftig. Doch als ein im Gegensatz zu früheren Klassengesellschaften dynamisches System muss der Kapitalismus Fortschritt wenigstens simulieren, mag dies auch immer skurrilere Formen annehmen. Die grundsätzlichen Probleme löst das nicht.
Ist der Kapitalismus noch zu retten? Eigentlich darf man als radikaler Linker so eine Frage gar nicht stellen, schließlich will man ihn ja abschaffen. Aber man muss schon zwanghaft optimistisch sein, um eine emanzipatorische Aufhebung des Kapitalismus derzeit für eine realistische Möglichkeit zu halten. Schaut man sich um, mangelt es, selbst wenn man großzügig Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten, Reformisten und Revolutionäre zusammenzählt, nicht nur an Masse, sondern auch an politischer Reife. Stalinismus, Antiimperialismus und andere reaktionäre Ideologien sind noch längst nicht in ausreichendem Maß überwunden worden. Der Kapitalismus mag ins Museum gehören, aber viel besser steht die Linke auch nicht da.

Vor allem aber zeigt das revolutionäre Subjekt, die Klasse der Lohnabhängigen, wenig Neigung, der ihm zugedachten Rolle gerecht zu werden oder auch nur ernsthafte Verteilungskämpfe zu führen. Die Mehrheit identifiziert sich mit dem nationalen Wettbewerbsstaat und nimmt das Konkurrenzverhältnis an, so dass man eher gegen die Kollegen um eine Beförderung oder die Aussparung von der nächsten Entlassungswelle kämpft als mit ihnen gemeinsam gegen den Chef. Viele freuen sich sogar schon auf den sprechenden Kühlschrank, der ihnen hilft, fit für den Wettbewerb zu bleiben.
Kann die Bourgeoisie ihre Klasseninteressen ungebremst durchsetzen, untergräbt sie die Grundlagen ihrer Herrschaft. Dass nicht alle Staaten einen Exportüberschuss erzielen können und die produzierten Waren Käufer finden müssen, erschließt sich als intellektuelle Erkenntnis manch einem Unternehmer und Manager. Am Primat der Profitmaximierung ändert das nichts.
Dass auch die sogenannten Schwellenländer kein stabiles Wachstum des globalisierten Kapitalismus garantieren können, hat sich jüngst erwiesen. Überdies sind insbesondere die größeren unter ihnen von einem extremen internen Ungleichgewicht geprägt. Noch immer besteht etwa ein Drittel der Bevölkerung Indiens und Chinas aus Kleinbauern, die nur marginal Anteil an der Konsumgesellschaft haben. Auch die Unterschiede in der regionalen Entwicklung sind gewaltig. Die Frage ist nicht, ob dies zu Konflikten führen wird, sondern welche Form diese Konflikte annehmen werden.
Die vielleicht bemerkenswerteste Tendenz im globalisierten Kapitalismus ist, dass immer mehr Staaten und Regionen weitgehend sich selbst überlassen werden. Mochte dies im Fall Somalias angesichts der vernachlässigbaren ökonomischen Bedeutung des Landes noch verständlich sein, müsste man erwarten, dass die Ölquellen des Irak und das strategisch wichtige Syrien zurückgewonnen werden sollen. Doch der Drohnen- und Luftkrieg ist nur die Simulation einer Intervention, faktisch eine Kapitulation vor einem drittklassigen Diktator und einer Horde fanatisierter Psychopathen. In ökonomischer Hinsicht bedeutet dies, dass diese Gebiete als entbehrlich gelten.
Der Kapitalismus produziert ungleiche Entwicklung. Einen Ausgleich können nur Klassenkampf und staatliche Intervention schaffen. Meist folgt letztere auf erstere. So kam der New Deal in den USA nicht von selbst, er war eine Reaktion auf zahlreiche Aufstände und Streiks. Die Bourgeoisie muss zu ihrem Glück gezwungen werden. Nur eine immense Erhöhung der globalen Nachfrage kann ausreichende produktive Anlagemöglichkeiten schaffen.
Im 21. Jahrhundert ist ein New Deal auf nationaler Ebene wohl nur noch in den reichsten Staaten oder solchen mit einem gewaltigen Binnenmarkt möglich, also wahrscheinlich in Deutschland, den USA und China, aber schon nicht mehr im weitgehend entindustrialisierten und von der Finanzbranche abhängigen Großbritannien und erst recht nicht im ruinierten Griechenland oder in afrikanischen Ländern. Die Ökonomie ist poli­tischer denn je, ohne ständige Interventionen der Notenbanken wäre zumindest das westliche Finanz- und damit das Wirtschaftssystem längst am Ende. Doch die Ideologie des nationalen Wettbewerbs gilt ungebrochen. Stattdessen bedürfte es einer international koordinierten Politik, um die Kapitalströme zu lenken – durch Anreize und Subventionen, aber auch durch Anweisungen an die Unternehmen, wie sie ja früher auch in erzkapitalistischen Staaten wie Südkorea üblich waren.

Die winzige radikale Linke kann solche Veränderungen nicht erkämpfen, doch an potentiellen Verbündeten mangelt es nicht. Freiheit war die Hauptforderung der arabischen Revolten, aber es ging auch um soziale Fragen. Von Tripolis bis Kabul findet die sozialstaatliche Absicherung bei Umfragen eine überwältigende Mehrheit, auch anderswo dürfte das der Fall sein. Verheerend ist daher der Isolationismus des linken Mainstreams und sein Rückzug auf den Nationalstaat, denn ohne eine erneuerte Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung ist die Krise nicht zu bewältigen.
Radikale Linke, die von den drei großen Krisen seit 1990 etwa 30 vorhergesagt haben, mögen das Tempo des kapitalistischen Niedergangs überschätzen. Ihren Entwicklungsgesetzen aber kann keine Klassengesellschaft entkommen. Jede Stabilisierung ist vorübergehend, doch die negative Aufhebung der kapitalistischen Globalisierung führt zu neofeudalen Herrschaftsformen, zur Warlordisierung, deren derzeit extremste Form der »Islamische Staat« ist. Wenn die Zeit nicht gewonnen werden kann, die für die Vorbereitung einer emanzipatorischen Überwindung des Ka­pitalismus nötig ist, könnte die Barbarei über die Zivilisation siegen.