Proteste in Guatemala führen zum Rücktritt des Präsidenten

Neu erwacht

Wochenlange friedliche Proteste haben in Guatemala für Veränderungen gesorgt. Der Rücktritt des Präsidenten und die Absage an korrupte Parteien bei den Wahlen am Sonntag könnten der Auftakt zu einer Wahlrechts- und Justizreform sein.

Ganz zufrieden ist Marco Antonio Reyes nicht mit dem Ausgang der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom Sonntag, aber etwas wurde doch erreicht. »Es ist super, dass die korrupten Parteien und Abgeordneten abgewatscht wurden. Mich hat sehr gefreut, dass Baldizón auf den letzten Metern noch aus der Stichwahl geflogen ist«, sagt der 59jährige Taxifahrer.
Der Präsidentschaftskandidat Manuel Baldizón ist Unternehmer, Anwalt und Vorsitzender der konservativen Partei Líder. Er stammt aus dem Norden Guatemalas und soll seinen Wahlkampf mit Geld aus dem Drogenhandel finanziert haben. Noch vor fünf Wochen führte er in den Prognosen mit großem Vorsprung, doch je weiter sich der Korruptionsskandal um Präsident Otto Pérez Molina ausdehnte und je größer die Proteste gegen diesen wurden, desto stärker sanken die Umfragewerte des 45jährigen.
Pérez Molina und anderen führenden Politikern und Staatsbediensteten wird vorgeworfen, Teil des Korruptionsnetzwerks »La Línea« (die Telefonhotline) zu sein, das im großen Stil Zolleinnahmen veruntreut haben soll. Baldizóns Partei hatte Pérez Molina lange den Rücken freigehalten. Gemeinsam wollten Líder, der mächtige Unternehmerverband Cacif und die Patriotische Partei (PP) von Pérez Molina ein Amnestiegesetz durchsetzen, um einen Schlussstrich unter den von 1960 bis 1996 währenden Bürgerkrieg zu ziehen. Davon hätte Pérez Molina profitiert, denn auf den seit Freitag voriger Woche in Untersuchungshaft sitzenden ehemaligen General und Geheimdienstchef kommen nicht nur Klagen wegen Korruption, sondern auch wegen Verbrechen gegen die Menschheit zu. Pérez Molina war in den achtziger und neunziger Jahren im Norden des Landes an Orten stationiert, wo die Armee zahlreiche Massaker beging. Das belegen auch Aufnahmen, die der Dokumentarfilmer Uli Stelzner in einem Archiv in Skandinavien fand.
Mit den Ermittlungen gegen Pérez Molina, der das Land mit harter Hand im Interesse der Oligarchie regiert hatte, nahm auch die Kritik der Guatemaltekinnen und Guatemalteken an anderen Kandidaten zu. Das zeigen nicht nur die kreativen Proteste vor den Wahlen, sondern auch deren Ergebnisse.

Die erste Runde der Präsidentschaftswahl gewann Jimmy Morales, der Kandidat der 2008 gegründeten konservativen Partei FCN-Nación, mit 23,89 Prozent der Stimmen. Am 25. Oktober findet der zweite Wahlgang statt. Der FCN-Nación ist im Parteiensystem und auf dem Land kaum etabliert. Morales, bekannt geworden als erfolgreicher Komiker und Schauspieler, war mit dem Slogan »nicht korrupt und kein Dieb« angetreten und sagte am Wahlsonntag: »Wenn ich Präsident werde, das verspreche ich, werde ich euch nicht zum Weinen bringen.« Zudem beteuerte er, die Korruption zu beenden. Allerdings wird seiner Partei Nähe zur Armee nachgesagt, weshalb der Taxifahrer Reyes seine Stimme lieber dem Kandidaten einer anderen konservativen Partei gab, dem ehemaligen Direktor des guatemaltekischen Strafvollzugssystems, Alejandro Giammattei, von der 2013 gegründeten Partei Fuerza. »Mein Kandidat von Fuerza landete abgeschlagen auf dem vierten Platz. Das ist für mich etwas traurig, aber ich weiß, weshalb ich konservativ wähle«, sagt Reyes. Denn Stimmen für linke Parteien könnten wie in der Vergangenheit eine Intervention der USA provozieren, so die Befürchtung des Familienvaters. »Und was hat es uns gebracht? Blutvergießen und Tränen. Wir könnten viel weiter sein, wenn auch die Friedensverträge von 1996 umgesetzt worden wären«, so Reyes.
Diese Einschätzung teilt die Philosophin und Menschenrechtlerin Claudia Samayoa. Sie fordert, dass die in den Verträgen enthaltenen Vorschläge zur Reform des Wahlrechts und der Justiz endlich umgesetzt werden. Es geht darum, die Wahlgesetzgebung transparenter zu gestalten, das Hin- und Herwechseln von einer Partei zur anderen zu unterbinden und kleinere Parteien nicht zu benachteiligen, was durch das guatemaltekische Mehrheitswahlrecht der Fall ist. Das sind Reformen, die in den kommenden Wochen und Monaten auf den Weg gebracht werden könnten, denn derzeit ist die neuerwachte Zivilgesellschaft in Guatemala so aktiv, dass der Wunsch nach der Übernahme der Kontrolle über die Politik, den viele bei der Wahl geäußert haben, wahr werden könnte. Viele haben keine Lust auf ein »Weiter so«, ihr Erfolg hängt davon ab, ob es die oppositionellen Gruppen, die sich seit April gegründet haben, schaffen, aktiv zu bleiben.

Das wird nötig sein, denn auch die derzeit knapp vor Líder liegende sozialdemokratische Partei UNE gilt als alles andere als sauber. Ihre Präsidentschaftskandidatin ist Sandra Torres, die Exfrau des ehemaligen Präsidenten Álvaro Colom (2008–2012). Zudem sind 78 der 158 Abgeordneten des Parlaments wiedergewählt worden. Das ist nicht unbedingt positiv, denn in der Vergangenheit haben viele von ihnen vor allem in die eigene Tasche gewirtschaftet. Auch das Kabinett, das unter Übergangspräsident Alejandro Baltazar Maldonado Aguirre zusammentreten wird, steht für viele für das alte, von Korruption dominierte Politikverständnis. Der 79jährige Jurist und Parteipolitiker gehörte zu den drei Verfassungsrichtern, die am 20. Mai 2013 das Urteil im Prozess gegen den ehemaligen Diktator Efraín Ríos Montt wegen Formfehlern annullierten. »Das war«, so der Menschenrechtsanwalt Edgar Pérez, der die Opfer in dem Prozess vertrat, »ein Akt der Rechtsbeugung.« Dieser erfolgte im Interesse der Eliten und Militärangehörigen. Doch das Bündnis zwischen den großen konservativen Parteien, ­Líder und PP, und dem Cacif ist Geschichte. Wer nun die Macht übernehmen wird, ist unklar.
»Wir befinden uns in einer Systemkrise«, meint Enrique Naveda, der Leiter der Online-Zeitung Plaza Pública. Diese hatte ein besonderes Augenmerk auf die Wahlberechtigten, die ungültig oder gar nicht gewählt hatten: Ungültig stimmten 4,18 Prozent, einen leeren Wahlschein gaben 5,03 Prozent ab und rund 22 Prozent gingen gar nicht zur Wahl. Eine Wahlbeteiligung von 78 Prozent hatte kaum jemand erwartet und auch die befürch­teten Blockaden, Besetzungen von Wahllokalen und den Raub von Urnen hat es nur ausnahmsweise gegeben – im Großen und Ganzen ist die Wahl fair und friedlich abgelaufen. Für Guatemala und angesichts dieser Vorzeichen war das nicht zu erwarten.

Auch die Tatsache, dass die Proteste gegen Pérez Molina bis zu seinem Rücktritt – der erst erfolgte, nachdem das Parlament am 1. September seine Immunität aufgehoben hatte – friedlich blieben, ist keine Selbstverständlichkeit. Schließlich hat Guatemala den 36 Jahre währenden Bürgerkrieg nie aufgearbeitet und die rund 5 000 Morde, die jedes Jahr registriert werden, zeigen, wie weit Gewalt weiterhin verbreitet ist. Umso positiver wird in Guatemala der Generationswechsel bewertet, der sich nun bemerkbar macht. Vor allem die jüngere Generation trug die Proteste der vergangenen 20 Wochen und es bildeten sich neue Konstellati­onen. So hätten sich Studierende der privaten Universitäten mit denen der staatlichen verständigt und seien gemeinsam auf die Straße gegangen; plötzlich seien viele neue Gruppen entstanden, die neue Perspektive aufzeigen, sagt der Filmemacher Sergio Ramírez. Er kann sich vorstellen, sich hier und da zu engagieren, Clips zu drehen und sie bei Demonstrationen zu projizieren. Dass die Proteste weitergehen könnten, bezweifelt er nicht.