Liberale und Islamisten gewinnen bei den Wahlen in Marokko

Ölfunzel versus Authentizität

Bei den Regionalwahlen in Marokko schnitt die islamistische PJD am besten ab, bei den Kommunalwahlen lag die liberale PAM vorne.

Nicht alle waren in den vergangenen Tagen in Marokko so mit den Wahlen beschäftigt, dass sie sich für nichts anderes mehr interessiert hätten. Wie die Zeitung L’Economiste am Montag bekanntgab, hatten wütende Arbeiter in den Tagen zuvor die Druckerei Med Paper im nordmarokkanischen Tanger auseinandergenommen und teilweise die Produktion zerstört. Vorausgegangen war ein Streit mit der Betriebsleitung über Schichten an ursprünglich arbeitsfreien Tagen und über die Kündigung von Lohnabhängigen, die zuvor an der Gründung einer Sektion der Gewerkschaft UMT teilgenommen hatten.
Zu Handgreiflichkeiten kam es Mitte voriger Woche auch in der Stadt Fes. Hier handelte es sich allerdings um Gewalttaten, denen drei Menschen zum Opfer fielen, und sie standen im Zusammenhang mit den am 4. September landesweit stattfindenden Regional- und Kommunalwahlen. In diesem Falle gingen zwei Clans aufeinander los, die derselben Partei zugerechnet werden, der als »thronnah« – also als Unterstützerin der Monarchie – geltenden Parti Authen­ticité et Modernité (PAM). Bei den Streitigkeiten ging es allerdings weniger um politische Inhalte, sondern der marokkanischen Internetzeitung 360 zufolge um die Verteilung von Geldern, die an willige Wahlhelfer und auch an potentielle Wähler zwecks Stimmenkaufs ausgeschüttet werden. Es ging demnach auch um die Kontrolle des Drogenmarkts und des Schwarzmarkts für Alkohol.

Dies vermittelt einen Eindruck davon, wie die etablierte Politik in Marokko funktioniert. Unterdessen scheint sich die Bevölkerung als ausgesprochen wahlmüde zu erweisen. Die Wahlbeteiligung lag offiziell zwar bei 53,6 Prozent, doch zweifeln dies Beobachter unter Verweis auf den geringen Zulauf zu Wahllokalen an. Der marokkanische Marxist Ali Fkir, der bei der Menschenrechtsvereinigung AMDH aktiv ist, spricht nach Kalkulationen mit den Ergebnissen einzelner Parteien in einzelnen Wahlbezirken von einer realen Beteiligung unter 28 Prozent. Es ist vor allem die Wahlbeteiligung, auf die es gegenüber den internationalen Partnern Marokkos und den Investoren ankommt, um den Eindruck der Stabi­lität des monarchisch-mafiösen Regimes zu erwecken.
Unter den bei der Wahl antretenden Kräften teilen sich die Stimmen vor allem die seit 2008 mit tatkräftiger Unterstützung des Regimes gebildete Partei PAM und die islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD). Letztere trägt denselben Namen wie die türkische AKP, die historisch ihr Vorbild darstellte, und benutzt auch ein ähnliches Symbol – eine Glühbirne im Falle der AKP, eine Ölfunzel in jenem der marokkanischen Islamistenpartei. Deren Vorsitzender Abdelillah Benkirane, der seit dreieinhalb Jahren als Premierminister an der Spitze einer Drei-Parteien-Koalition amtiert.
Allerdings besitzen er und seine Partei keinen entscheidenden Anteil an der Macht. Die wirklichen Entscheidungsbefugnisse bleiben bei den monarchischen Institutionen, die zusammen ein als »Makhzen« bezeichnetes formelles und informelles Geflecht bilden. Die parlamentarischen Institutionen haben nur so viel zu sagen, wie die Monarchie gerade zulässt.
1997/98 wurde die marokkanische sozialistische Partei USFP mit der Regierung betraut, 2011 dann der PJD. Beide enttäuschten einen beträcht­lichen Teil ihrer Wählerschaft, da sie keinen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung im Land nehmen konnten. Beide verzichteten vor ihrer Machtbeteiligung auf jegliche ernstzunehmende Kritik an der Monarchie, eine fundamentale strategische Entscheidung.
Für die USFP trug dies längerfristig zur Erosion ihres Stimmenanteils und zum Einflussverlust bei, bislang jedoch nicht beim PJD. Die islamistische Partei gewann nun 25,6 Prozent der Sitze in den insgesamt neun Regionalparlamenten und wird künftig wohl drei der vier mit Abstand bevölkerungsreichsten und urban geprägten ­Regionen allein oder in Koalitionen regieren. Bei den Regionalwahlen ist sie die mit Abstand stärkste Partei. Auf der kommunalen Ebene liegt der PAM mit 21,1 Prozent der Sitze in Führung, während der PJD 19,4 Prozent der Mandate holen konnte.
Mit diesem Abschneiden der Islamistenpartei bei den Regional- und Kommunalwahlen, die als erster Wahltest seit der Regierungsbildung im Winter 2011/12 gelten, verläuft die Entwicklung in Marokko gegenläufig zu jener etwa in Tunesien und Ägypten. Dort waren die im selben Jahr an die Regierung gekommenen Islamistenparteien jeweils vor Ablauf einer Legislaturperiode gescheitert.

Der Einfluss der Linken in Marokko ist zurückgegangen, vor allem infolge des weitgehenden Scheiterns der Protestbewegung, die im Jahr 2011 unter dem Namen »Bewegung des 20. Februar« – nach dem Datum ihrer ersten Demonstration, anknüpfend an die Umbrüche in Tunesien und Ägypten – entstand. Die Protestierenden setzten sich für Veränderungen von unten ein. Doch die Leute vom »20. Februar« sprachen zu viel von institutionellen Fragen und zu wenig von sozialen Belangen, so dass sie auf die Dauer überwiegend Intellektuelle, jedoch wenige Angehörige der Unterschicht erreichten. Um diese Kluft zu überbrücken, verbündeten die Linken in der Protest­bewegung sich zeitweilig mit der außerinstitutionellen und allenfalls halblegalen islamistischen Vereinigung al-Adl wal-Ihsane (Gerechtigkeit und Wohltätigkeit) unter Nadia Yassine, die dann jedoch das Bündnis platzen ließ. Derzeit bestehen zwar noch Reste der anfänglich breiten Protestbewegung, sie haben jedoch die meisten ihrer früheren Sympathien eingebüßt.