Alejandro Baer im Gespräch über Antisemitismus in Spanien

»Es gibt in Spanien kein Tabu«

Alejandro Baer ist Professor für Soziologie und leitet das Center for Holocaust and Genocide Studies an der Universität von Minnesota. Er forscht unter anderem zu gesellschaftspolitischen Folgen von Erinnerungsdiskursen und untersuchte den Antisemitismus in Spanien und anderen Ländern. Mit ihm sprach die Jungle World über Merkmale des spanischen Antisemitismus.

Spanien gilt innerhalb Europas als eines der Länder mit den negativsten Einstellungen ­gegenüber Jüdinnen und Juden, an dritter Stelle hinter Griechenland und Frankreich. Woran liegt das?
Meines Erachtens gibt es verschiedene Gründe dafür. Was die Studien zeigen, ist, dass bestimmte antisemitische Stereotype nicht als problematisch identifiziert werden. Das heißt, sie sind Teil der Alltagssprache, Teil einer akzeptierten Meinung. Es gibt in Spanien kein Tabu, keine öffentliche Sanktionierung des Antisemitismus wie in anderen Ländern. Deutschland zum Beispiel wäre der entgegengesetzte Fall, wo antisemitische Meinungen nicht tragbar sind. Das hat seine Gründe. Das Thema Antisemitismus wurde in Spanien kaum in der Erziehung behandelt, es gibt keine Reflexion auf Ebene der Medien, der Politik, des Bildungswesens darüber und das erklärt, warum in Umfragen negative Meinungen über Juden derart repräsentiert sind.
Aber man muss die historischen Gründe ins Auge fassen. Das negative Bild vom Juden war über Jahrhunderte eine Folge der Verschmelzung von Nation und Religion, was die Bildung der spanischen Identität bestimmte. General Francos Nationalkatholizismus reichte schließlich bis in die siebziger Jahre. Nach dem Ende des Franquismus und dem Übergang zur Demokratie wurde der herrschende Antisemitismus nicht tiefgehend reflektiert. Und auf eine bestimmte Weise hat die Kritik an Israel auf das vorherige kulturelle Erbe des Antisemitismus zurückgegriffen, in einem linken Rahmen. Kritik an Israel gilt quasi unmöglich als antisemitisch, einfach weil sie aus der Linken kommt und ein angeblich rassistisches, autoritäres und ausschließendes Verhalten verurteilt, alles Eigenschaften, mit denen das so dämonisierte Konzept des Zionismus definiert wird.
Was ist das Spezifische am Antisemitismus in Spanien im Vergleich zu anderen Ländern? Ist es dieser starke christliche Antisemitismus?
Ich denke, es gibt eine Struktur, die dieser reli­giösen kulturellen Tradition entstammt, die unterstützt, dass in den Juden das Negative, das Böse gesehen wird. Das hat in Spanien überlebt, selbst in einer säkularisierten Kultur. Es gibt einen Soziologen, Charles Y. Glock, der von verschiedenen Dimensionen der Nachwirkung von Reli­gion spricht. Selbst in einer säkularisierten Kultur nimmt die Religion weiterhin eine strukturierende Rolle ein. Das ist meines Erachtens in Spanien der Fall. Es gibt eine Sicht des Anderen, des Verschiedenen, die weiterhin binär und ausschließend ist. »Wir« in Spanien ist kein Wir, das den Unterschied integriert, sondern es ist ein Wir, das voraussetzt, dass eine Art kultureller Homoge­nität vorherrscht. Es ist also eine säkulare katholische Kultur, die fortbesteht.
In einem Artikel in der Zeitung El País schreiben Sie, ein Grund dafür, dass Antisemitismus in Spanien so ungefiltert zum Ausdruck kommen kann, sei das schwach ausgeprägte Gedenken an die Shoah. Würde eine stärkere Institutionalisierung des Gedenkens oder eine Thematisierung der Shoah dem entgegenwirken?
Spanien nimmt, nicht nur was die Geschichte der Shoah betrifft, sondern auch in Hinsicht auf das Gedenken eine marginale Rolle ein. Es ist mit Zentraleuropa nicht vergleichbar, wo in Institutionen, Medien und Gesellschaft dieses Thema reflektiert wird. In Spanien gab es durchaus Bildungsinitiativen und wachsendes Interesse der Medien und Kultur am Thema, aber dennoch hat die Bevölkerung kaum Wissen über den Holocaust und auch nicht über Antisemitismus. Der Begriff Antisemitismus selbst ist vielen Spaniern unbekannt. Ein Beispiel: Ich habe von 2008 bis 2012 Seminare in Madrid gehalten. 2011 gab es eine internationale Konferenz zum Thema Antisemitismus. Am zweiten Tag der Konferenz fanden sich im Eingangsbereich des Gebäudes antisemitische Schmierereien, die über Nacht angebracht worden waren. Um die Konferenz zu schützen, wurde dann am zweiten Tag ein Polizeiauto geschickt. Als alle Referenten und das Publikum am Ende gehen, höre ich, wie ein Polizist zu einem Kollegen sagt: »Die Antisemiten kommen raus.« Wie Biologen bei einem Biologiekongress waren die Antisemitismusforscher für sie »die Antisemiten«. Sie wussten wirklich nicht, was dieser Begriff bedeutet. Das ist in Spanien geschehen, ich glaube in einem anderen europäischen Land, in Frankreich, in Deutschland, würde das nicht passieren.
Gibt es Unterschiede zwischen dem Antisemitismus von links und von rechts?
Es gibt weiterhin einen traditionellen Antisemitismus in der Rechten, das kann man nicht leugnen. Der Antisemitismus der Linken fokussiert auf den Fall Israel und wird deshalb nicht als solcher erkannt. Von links wird Kritik an Antisemitismus oft als zionistische Propaganda verurteilt. Das Thema Antisemitismus aufzuwerfen, ruft sogar manchmal antisemitische Reaktion hervor, wie im Fall der Schmierereien bei der Konferenz. Auch in der Linken kommen eine Reihe traditioneller antijüdischer Vorurteile hinzu. Und diese werden in Meinungskolumnen und Diskussionsforen der wichtigsten spanischen Zeitungen verbreitet. Die Berichterstattung über Israel ist oft durch antijüdische Vorurteile geprägt. Die Mehrheit hat meines Erachtens keinen religiösen Charakter, sondern entspricht dem modernen Antisemitismus, der Juden Kontrolle, Macht, Einfluss und Verschwörungen zuschreibt.
Was manchmal zu beobachtet werden kann, ist vielleicht, dass die Rechte sich dahingehend weiterentwickelt hat, dass sie »negative« Stereotype zugunsten »positiver« aufgegeben hat. Aber oft ist der Proisraelismus der Rechten genauso von antisemitischen Denkmustern geprägt, etwa dass die Juden sehr intelligent, mächtig, einflussreich seien. Und auch bezüglich des Nahostkonflikts herrscht oft eine stereotype Sichtweise vor. Israel scheint für die Rechte fast eine Art Projektionsfläche zu sein dafür, was die Europäer tun sollten: Mit harter Hand gegen »den Mauren«, gegen den Islam vorzugehen und die Werte der christlichen Kultur, in diesem Fall der Kultur des Okzidents, zu verteidigen. Sie denken, Israel sei ein homogener Staat, was aber nicht stimmt. Die Rechte stellt sich Israel oft als ein Ideal vor, wie man sich der Unterschiede entledigen kann – und das ist auch stereotyp. Manchmal erscheint dies als Philosemitismus oder als proisraelische Haltung, aber das ist es nicht notwendigerweise, weil es auf mangelhaften Kenntnissen und tief sitzenden Vorurteilen beruht.
Welche Rolle spielt der Antiamerikanismus, der in Spanien ja sehr verbreitet ist?
Eine wichtige. Antisemitismus und Antiamerikanismus verbinden sich. Heutzutage ist die spanische Rechte nicht mehr so antiamerikanisch, aber sie hat eine starke antiamerikanische Tra­dition. Auf bestimmte Weise haben die Linke und die Rechte hier einen gemeinsamen Stamm.
Wie verhalten sich linke Parteien wie Podemos oder die Vereinigte Linke (Izquierda Unida, IU) gegenüber dem Antisemitismus?
Ich glaube, es gab eine wichtige Entwicklung in der demokratischen Linken. Der Fall Matisyahu (Jungle World 35/15), zum Beispiel, hat zwar auf ein in der linken weiterhin existierendes Problem aufmerksam gemacht, zeigte gleichzeitig aber etwas Positives. Denn heutzutage ist der Fall Matisyahu in Spanien ein Skandal, vor zehn Jahren wäre das noch nicht der Fall gewesen. Es ist ein Fortschritt auf diesem Gebiet.
Was hier hervorsticht, ist, wie sich die verschiedenen Parteien positionieren. Der PSOE (Sozialistische Arbeiterpartei, Anm. d. Red.) hat den Fall klar verurteilt und wollte ihn nicht beschönigen. Für Podemos und die Vereinigte Linke war die Aktion legitim, denn sie empfanden sie nur als antizionistisch und Antizionismus gilt als legitim. Sie werten derartige Aktionen weiterhin als politisch und weisen entschieden zurück, dass es sich um eine antisemitische Tat gehandelt habe. Denn sie sagen, Matisyahu habe offen den Zionismus und den Staat Israel unterstützt. Hier sieht man deutlich die Unfähigkeit der links vom PSOE stehenden Parteien, einen Schritt weiter zu denken.
Es ist ein Denkprozess, der in der ganzen Linken initiiert werden müsste. Aber ich weiss nicht, ob das geschehen wird. Es ist möglich, dass diese Phase vorbeigeht, denn es gibt einige sehr gebildete Leute bei Podemos und ich kann mir vorstellen, dass es in einem bestimmten Moment auch zu Selbstkritik und Reflexion kommen wird. Antisemitismus in der Linken ist ein Problem, das ich nicht beschö­nigen will. Es fehlt eine Linke, die mit den traditionellen antiamerikanischen und antiisraelischen Klischees bricht. In Spanien warten wir noch darauf, dass jemand diesen Schritt geht und den Denkprozess in der Linken mit Macht anregt.
Im Nachbarland Frankreich gab es tödliche Anschläge auf Jüdinnen und Juden, etwa den Mord an Ilan Halimi, das Attentat auf die ­jüdische Schule in Toulouse oder jüngst die Anschläge auf die Redaktion von Charlie Hebdo und den koscheren Supermarkt in Paris. Gab es vergleichbare Übergriffe in Spanien?
Angriffe schließe ich nicht aus und ich denke, man muss vorsichtig sein. Es gibt Hinweise, dass islamistische Anschläge geplant waren, die jedoch vereitelt wurden. Islamistische Anschläge gegen jüdische Institutionen sind in jedem europäischen Land möglich. Niemand ist heute davor gefeit. Aber ich denke, im Unterschied zu anderen Ländern ist die jüdische Gemeinde sehr klein und kaum sichtbar.
Des Weiteren gibt es keine migrantische muslimische Bevölkerung der zweiten Generation wie in Frankreich. Generell gibt es eine erste muslimische Generation, eine große Bevölkerungsgruppe, aber es gibt keine Sektoren, die so radikalisiert sind wie in Frankreich und wahrscheinlich auch nicht wie in Deutschland. Es ist eine andere Realität.
Der muslimische Antisemitismus spielt in Spanien keine große Rolle?
Das würde ich nicht sagen, weil es nur eine kleine Gruppe braucht, um etwa Anschläge auszuführen. Aber was es in Spanien nicht gibt, wie in den Vororten von Paris, in den Schulen in Frankreich, ist dieses Niveau an Spannung zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Das Ausmaß an ­islamischer Radikalisierung ist in Spanien nicht so hoch.
Gibt es außerhalb der jüdischen Gemeinden Gruppen oder Organisationen, die sich mit ­Israel solidarisieren?
Ja. Da gab es in den letzten zehn Jahren einen Fortschritt. Seit der zweiten Intifada gab es auch in Spanien einen Wandel in verschiedenen Teilen der Bevölkerung: Es entstanden Organisationen für Unterstützung und Solidarität mit Israel, nicht nur aus der Rechten. Und es gab Menschen, die Israel besser kennen, die dorthin gereist sind und sich in der Bildung, der Politik, den Medien engagieren – auch das hat man gemerkt.
Verglichen mit den achtziger und neunziger Jahren ist Antisemitismus in Spanien heute ein Diskussionsthema. Früher hat sich niemand über antisemitische Cartoons, Kommentare etc. aufgeregt. Ein Beispiel: In den Achtzigern, als die US-Serie »Holocaust« in Spanien gesendet wurde, veranstaltete das spanische Fernsehen eine Talk-runde über die Serie und lud dazu einen Neonazi ein – aber es wurde überhaupt kein Vertreter der jüdischen Gemeinde eingeladen. Heute wäre das ein großer Skandal, völlig unmöglich. Auch zwischen 2000 und 2004, während der zweiten Intifada, gab es beispielsweise eine enorme Anzahl an antiisraelischen Cartoons mit antisemitischen Motiven. Das war alltäglich. Heute überlegen es sich die Redakteure und Zeitungen zumindest zweimal.