»No-Border«, und dann? Eine Bilanz antirassistischer Arbeit der vergangenen zwei Jahrzehnte

More Borders, no nations

Noch im vergangenen Jahr wurde die ­Forderung nach offenen Grenzen an die deutsche und europäische Politik gestellt. Eine kritische Bilanz des No-Border-Antirassismus.

»Die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands durch Zuwanderung ist überschritten.« Ein Satz, so oder so ähnlich in der derzeitigen Debatte über Obergrenzen, Kontingente und Grenzkontrollen quer durch die Parteien geäußert wird. Tatsächlich stammt er vom ehemaligen SPD-Innenminister Otto Schily, der damit 1999 einen heftigen Streit in der rot-grünen Koalition auslöste. Trotz der Empörung setzte sich Schily durch. Mit dem Beginn des neuen Jahrtausends installierte die Europäische Union, insbesondere auf Betreiben der deutschen Bundesregierung, ein weitverzweigtes Grenzregime, deren prominenteste Bausteine die Dublin-Verordnung und die Grenzagentur Frontex sind. Durch bilaterale europäisch-afrikanische Abkommen wie das zwischen Italien und Libyen schuf man sich »postkoloniale Wächter des europäischen Grenzregimes«, wie die Politikwissenschaftlerin Sonja Buckel konstatiert. Infolgedessen gingen die Asylanträge in den traditionellen europäischen Einwanderungsstaaten drastisch nach unten.
Doch das Grenzregime hat nie reibungslos funktioniert. Migrantinnen und Migranten haben ihm zusammen mit der No-Border-Bewegung und vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen immer wieder Risse zugefügt. Durch das No-Border-Camp auf Lesbos im Jahr 2009 und Berichte von NGOs wurden die menschenrechtswidrigen Zustände in den griechischen Abschiebeknästen in ganz Europa öffentlich. Anschließende juristische Klagen führten zur Aussetzung von Abschiebungen nach Griechenland und zur ersten Krise des Dublin-Regimes. Infolge der Aufstände während des »arabischen Frühlings« brach das auf den Kooperationsverträgen fußende Grenzregime zusammen. In Deutschland beförderten die Hungerstreiks und Platzbesetzungen von Flüchtlingen eine öffentliche Debatte über das EU-Grenzregime. Schließlich führte der diesjährige »lange Sommer der Migration« dazu, dass »mit den Flüchtlingen aus Syrien auch die ursprüngliche Kraft und Hoffnung des ›arabischen Frühlings‹ ein zweites Mal nach Europa gekommen ist und die Grenzen herausgefordert hat«, wie Marc Speer und Bernd Kasparek von bordermonitoring.eu feststellen.
Die utopische Forderung nach »offenen Grenzen« und No-Border als politische Praxis haben also Spuren hinterlassen.
Dennoch: Winter is coming. Die Abschottungspolitik wird derzeit revitalisiert. Viele EU-Staaten verschärften das Asylrecht, immer mehr Abschiebungen werden durchgeführt. Durch die Kooperation mit der Türkei und neue Befugnisse für Frontex setzt die EU jedoch auf die alten post­kolonialen Modelle. Hinzu kommt, dass das nationalkonservative Projekt der Grenzabschottung sich in der Krise befindet. Dafür spricht auf europäischer Ebene, dass die EU keine Einigung in der Frage der Flüchtlingsaufnahme findet, da die Mehrzahl der EU-Mitgliedstaaten konservativ, rechtspopulistisch oder sogar völkisch regiert wird und damit in der Doktrin der nationalen Abschottung verfangen ist. Auf nationaler Ebene äußert sich die Krise in der tiefen Zerrissenheit der christdemokratischen Parteien und dem Erstarken von Pegida und AfD.
Die Krise der Abschottung könnte ein emanzipatorisches Projekt begünstigen. Doch die Forderung nach offenen Grenzen steht selbst vor schwierigen Herausforderungen, wie der »Sommer der Migration« gezeigt hat. Die Utopie der offenen Grenzen war für kurze Zeit real. Zumindest diejenigen Flüchtlinge, die es über das tödliche Mittelmeer nach Europa geschafft hatten, konnten aus eigener Kraft nach Deutschland, Schweden und in andere EU-Staaten gelangen, bevor die Zäune erneut hochgezogen wurden. Die Praxis der offenen Grenzen weist jedoch neoliberale Momente auf. Die eigentlich staatlich zu verantwortende Flüchtlingsaufnahme ist weitestgehend privatisiert.
Zur Reflexion über das Konzept der offenen Grenzen gehört, dass linke Staatskritik in der Vergangenheit oft nichtintendierte Effekte hatte. Weil das Kräfteverhältnis für progressive Maßnahmen ungünstig war, konnte emanzipatorische Kritik durch neoliberale Praktiken überformt werden. Stark ist derzeit vor allem die unternehmerische Logik, dass die Flüchtlinge »uns« ökonomisch nutzen könnten. Doch Menschen fliehen nicht aus Aleppo, Kunduz oder Asmara, um den deutschen Fachkräftemangel zu beseitigen. Viele von ihnen sind traumatisiert und kein privates Willkommensbündnis kann ihre spezifische Versorgung alleine übernehmen. Ein gewisses Maß an professionellen Strukturen und sozialer Sicherheit ist hierfür erforderlich.

Wenn »No-Border« sich vom neoliberalen Paradigma unterscheiden will, besteht die erste Herausforderung in der Frage, welche nicht nationalstaatlich organisierte Entität eine entsprechende Sozialpolitik und Flüchtlingsaufnahme organisieren könnte. Einen fruchtbaren Vorschlag liefert der Philosoph Daniel Loick. In seinem Beitrag für das Eutopia Magazine spricht er sich für die Schaffung von »ortsunabhängigen Teilhabemöglichkeiten«, »transnationalen Öffentlichkeiten« und »flexiblen Staatsangehörigkeiten« aus. Zentral seien hierfür die europäischen Städte – gerade nicht die Nationalstaaten – die somit »zugleich an ihre antike Berufung als Welt-Städte erinnert« werden würden. Loicks Vorschlag ist keine Utopie. In Spanien ist auf Initiative von Ada Colau, der neuen Bürgermeisterin von Barcelona, das Netzwerk »Städte der Zuflucht« entstanden. Da die konservative Regierung unter Mariano Rajoy sich der Aufnahme von Flüchtlingen verweigert, stimmen einige spanische Städte nun unter sich ihre Sozialpolitik und den Schutz von Flüchtlingen aufeinander ab. Ließe sich dieses Netzwerk europäisieren, könnte durch ein Europa von unten eine transnationale Solidarität als Widerpart zum nationalstaatlichen Ressentiment entstehen.

Die zweite Herausforderung betrifft den aktuellen flüchtlingspolitischen Diskurs. Derzeit sind zwei Topoi der No-Border-Bewegung öffentlich wirksam, teilweise sogar mehrheitsfähig: der Slogan »Refugees Welcome« und die Debatte über die Bekämpfung von Fluchtursachen. Sicherlich ist die radikale Aufklärung über die ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen von Flucht im Rahmen des Nord-Süd-Verhältnisses wesentlich. Doch die Debatte über die Bekämpfung von Fluchtursachen ist vorrangig konservativ besetzt. Politische Akteure nutzen das Schlagwort, um den Flüchtlingsschutz an außereuropäische Staaten auszulagern. Zusätzlich zeichnet sich die Analyse von Fluchtursachen in Teilen der Linken durch einen gewissen ökonomischen Reduktionismus aus. Der Fokus auf kapitalistische Ausbeutung oder die Interessenpolitik der westlichen Staaten durch Militärinterventionen unterschätzt den eigenständigen Charakter und die Ideologie des Jihadismus, der Millionen von Menschen zur Flucht zwingt. Vor diesem Hintergrund ist die Debatte über die Bekämpfung von Fluchtursachen derzeit kaum emanzipatorisch zu besetzen. Ganz zu schweigen von den fehlenden Einflussmöglichkeiten linker Bewegungen auf die Außenpolitik.

Mehr Erfolg verspricht das Anknüpfen an den Slogan »Refugees Welcome«. Mit ihm geht einher, dass sich Kräfteverhältnisse zugunsten der Aufnahme von Flüchtlingen verschieben. Schloss die ursprüngliche linke Lesart auch Armutsmigration und Klimaflüchtlinge mit ein, benutzen mediale Akteure wie Bild den Slogan dazu, Hilfe für »gute Flüchtlinge« einzufordern und dafür einzutreten, dass »schlechte Flüchtlinge« schneller abgeschoben werden. Dennoch sind die Ausgangsbedingungen für eine emanzipatorische Wendung durchaus gegeben. Zunächst gibt es bereits bestehende Strukturen, die Migrantinnen und Migranten – unabhängig vom Grund ihrer Flucht – praktisch unterstützen und ihnen die Aufnahme in Europa ermöglichen, wie das Alarmtelefon der Organisation Watch the Med oder die Homepage »Welcome to Europe«. Weiterhin gibt es in der No-Border-Bewegung umfassendes Wissen um die Funktionen des EU-Grenzregimes. Beides könnte nutzbar gemacht werden und Eingang finden in die Willkommensbündnisse, damit die humanitäre Aufnahme einen stärkeren politischen Charakter erhält. Hieraus könnte zusätzlicher Widerstand gegen den gegenwärtigen Angriff auf das Asylrecht entstehen. Die Verteidigung des Asylrechts bei gleichzeitiger Zurückweisung der ideologischen Aufteilung in »gute« und »schlechte« Flüchtlinge ist zentral, um noch mehr Menschen zu ermöglichen, Schutz und Zukunftsperspektiven zu finden. Die Voraussetzung für diese Auseinandersetzung ist eine Zusammenarbeit mit den Schutzsuchenden und bereits hier lebenden Migrantinnen und Migranten. Die No-Border-Konferenz 2010 in Frankfurt/Main hatte die Konturen dieses Projekts bereits umrissen: »Es ist die Gemeinschaft der nach Europa Kommenden, der schon lange Angekommenen. Es wäre die Gemeinschaft derer, die einen Kampf führen – an den Grenzen Europas und in den Vorstädten. Dieser Herausforderung wollen wir uns stellen – by any means necessary.«