In ihrem neuen Buch wirft Alice Schwarzer einige wichtige Fragen auf

Verweigerte Aufarbeitung

Das von Alice Schwarzer herausgegebene Buch »Der Schock« über die Ursachen der Übergriffe in der Silvesternacht hat eine ernsthafte Auseinandersetzung verdient. Die pauschale Verunglimpfung der Herausgeberin führt nicht weiter.

Gerade hat die Altfeministin Alice Schwarzer den Sammelband »Der Schock – Die Silvesternacht von Köln« herausgegeben. Darin versammelt sie gute und weniger gute Aufsätze und Reportagen zum Thema, viele Texte stammen von der Herausgeberin, andere von namhaften Islamismuskritikern wie Necla Kelek und Kamel Daoud, außerdem sind Reportagen von Emma-Kolleginnen und ein Bericht des Chefredakteurs des Wiener Magazins Falter aufgenommen worden.
Die Grundthese der Herausgeberin ist, dass die Ereignisse von Köln etwas mit Islamismus zu tun haben. Diese Sicht wird aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit variierenden Interpretationen und Differenzierungen begründet. Man kann über die massenhaften Übergriffe selbstverständlich anders urteilen, die Ermittlungen verlaufen bisher eher schleppend und somit fehlen letzlich auch die Beweise für die Annahmen. Aber niemand, der das Buch gelesen hat, kann ernsthaft behaupten, es gehe in den Texten darum, den Islam anzugreifen und rassistische Vorurteile zu bedienen. Doch genau dieser Vorwurf wird reflexhaft erhoben – wie eh und je, wenn Schwarzer über Islamismus schreibt. So wird die Publizistin von einem Kulturreporter des NDR mit folgender Frage konfrontiert: »Sie schreiben in Ihrem Buch, dass diese von Ihnen so genannten Scharia-Muslime, die einen Gottesstaat in Deutschland befürworten würden, nur eine einstellige Prozentzahl der Muslime in Deutschland darstellen würden. Warum also Ihre Ressentiments gegen den Islam?«
Der Mann hat zumindest Schwarzers Einleitung gelesen und zitiert sie auch richtig. Sie spricht nicht von »den Muslimen«, sie spricht von einer winzigen Minderheit. Ihre Antwort ist knackig: »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas über den Islam gesagt.« Doch der Redakteur ignoriert die Differenzierung und urteilt schließlich: »Diese Sätze kennt man auch aus Richtungen etwa von Pegida oder von der AfD.« Was meint er? Schwarzer hat zuvor ihre These erläutert, dass Fremdenhass und Fremdenliebe zwei Seiten einer Medaille seien, und dazu ausgeführt: »Fremde sind Menschen wie wir, sie werden uns sehr schnell ähnlich. Sie sind mal gut, mal böse – es gibt keinen Grund zu dieser Blauäugigkeit.« Glaubt der NDR-Mann tatsächlich, dass das die Thesen von Pegida seien?
Andere Kritiken urteilen ähnlich pauschal. Im Cicero meint eine Theologin der Ahmaddya-Gemeinde, Khola Maryam Hübsch, die Ereignisse von Köln könnten nichts mit dem Islam zu tun haben, da Alkoholkonsum und das Begrapschen von Frauen im Koran verboten seien. Ähnlich argumentiert auch Annemarie Rösch in der Badischen Zeitung. Dass Schwarzer nicht müde wird zu betonen, dass es ihr nicht um den Islam oder die Muslime geht, übergeht sie kurzerhand: »Demzufolge ist der Islam die Wurzel vielen Übels und der politische Islamismus nur die Zuspitzung dieser aus ihrer Sicht frauenverachtenden Religion.«
Etwas differenzierter urteilt Heide Oestereich über Schwarzer in der Taz: »Sie beantwortet die Frage nicht, wie sie vermeiden will, dass sämtliche Muslime unter den Generalverdacht des ›Scharia-Islam‹, der für sie offenbar Gewalt gegen Frauen beinhaltet, gestellt werden.«
Wenigstens ist Oestereich klar, dass Schwarzer an keiner Stelle einen solchen Generalverdacht ausspricht. Aber auch ihr Vorwurf zielt ins Leere. Denn immer wieder schreibt Schwarzer von Menschenrechtlern in islamischen Ländern und erzählt ausführlich die Geschichte eines Syrers, der eine Frau in Köln vor den grapschenden Horden rettete. Auch betont sie, dass zuallererst Muslime Opfer der Islamisten werden und es gerade deshalb rassistisch sei, deren Not zu ignorieren.
Die abwehrenden Reaktionen gegen eine Islamismusdebatte sind weder für Schwarzer noch für die Autorinnen und Autoren des Buches neu, schließlich kämpfen viele von ihnen seit Jahrzehnten gegen Beschwichtigungen an. Mit dieser Strategie des Abwiegelns beschäftigt sich das Buch ebenfalls. Die zweite Grundthese von »Der Schock« lautet: Islamwissenschaftler, linke Feministinnen, Medienleute und Kirchenvertreter verweigerten die Auseinandersetzung mit dem Islamismus. Wer den Islamismus angreift, läuft Gefahr, der Islamfeindlichkeit und des Rassismus bezichtigt zu werden.
Das Muster ist bekannt. Und doch überrascht es, dass in den Rezensionen abermals jene Klischees gegen Schwarzer aufgeboten werden, die die Publizistin gerade zu entkräften versucht. Es scheint recht dummdreist, eben jene Argumente gegen das Buch vorzubringen, die im Buch aufgegriffen und widerlegt werden. Man möchte den Rezensenten zurufen: Denkt euch mal was anderes aus! Schreibt doch zum Beispiel mal eine Betrachtung darüber, warum solche Begriffe wie »Horrornacht« oder »Scharia-Islam« nichts zur Analyse beitragen. Vielleicht käme dabei ja etwas raus.
Wenn gebetsmühlenhaft falsche Anschuldigungen wiederholt werden, geht es nicht um eine echte Auseinandersetzung, sondern um etwas anderes. Man kann es Ideologie nennen.
Seit 1979 gehe das so, schreibt Schwarzer. In einem Aufsatz aus dem Jahr 2002 schildert sie, welche Reaktionen sie auf ihren kritischen Bericht zur iranischen Revolution erlebte: Sie habe sich »damit eine der härtesten und längsten Diffamationskampagnen« ihrer Karriere eingehandelt und sei als »Schahfreundin« und »Rassistin« beschimpft worden. »Maskierte Frauen stürmten die Redaktionsräume, zerstörten die Computer und hinterließen einen Haufen realen Mistes.«
Schwarzer beschreibt auch, dass man im Ausland darüber den Kopf schüttele, warum »ausgerechnet die Deutschen das Problem nicht wahrhaben« wollten. Sie spekuliert, dass diese Weigerung mit der deutschen Vergangenheit zusammenhänge: »Wir haben es vor gar nicht so langer Zeit so schrecklich falsch gemacht mit den ›Fremden‹ – dass wir es jetzt unbedingt ganz richtig machen wollen.« Und sie ahnt, dass noch mehr dahinterstecken könnte. Einen Kollegen vom Figaro zitiert Schwarzer mit der Frage: »Glauben Sie nicht, dass diese auffallende Leugnung beziehungsweise Verharmlosung der sexuellen Gewalt durch die Polizei und die Medien am Silvesterabend ausgerechnet in Deutschland auch etwas mit den traumatischen Erfahrungen der deutschen Mütter und Großmütter zu tun hat?« Sie antwortet: »Ja, das ist eine gute Frage. Über die Antwort muss ich noch nachdenken.«
Der einzige Vorwurf, den man dem Buch machen kann, ist der, dass es die Chance vergibt, genau über diese Fragen nachzudenken: Warum errichteten »Linke und viele Feministinnen einen präventiven Schutzschild, um die vermeintlich ›muslimischen‹ Ausländer als potentielle Opfer von Rassismus zu schützen«, wie die Algerierin Mariem Heli-Lukas schreibt? Warum darf man über Sexismus nicht reden, wenn er von Muslimen ausgeht? Warum darf man das selbst dann nicht, wenn man den Tätern eine islamistische Geisteshaltung unterstellt und die Masse der Muslime verteidigt? Warum kommt reflexhaft die Reaktion: Das hat nichts mit dem Islam zu tun – auch wenn von dem gar nicht die Rede war?
Insgesamt ist das Buch eine Sammlung von erhellenden Texten, die allerdings oft schon an anderer Stelle erschienen sind. Vor allem kommt es dem feministischen Anspruch nach, die Opfer zu Wort kommen zu lassen, ob in Deutschland, Algerien oder Frankreich – ein Anspruch, der von den feministischen Kritikerinnen Alice Schwarzers zwar lauthals erhoben, aber nie eingelöst wurde. Wer die Berichte der Opfer liest, kommt zumindest um eine Erkenntnis nicht herum: Was sich in Köln ereignet hat, war kein »alltäglicher« Sexismus. Die Verknüpfung mit dem Islamismus ist plausibel. Der Hinweis, es seien zu kurz gekommene Taschendiebe gewesen, wie jemand Schwarzer entgegenhielt, ist es nicht.
Alice Schwarzer (Hg.): Der Schock. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016, 144 Seiten, 7,99 Euro