Das Problem mit der „Mitte Studie“ und dem Antisemitismus

Kaum messbar

Glaubt man der Leipziger »Mitte-Studie«, ist der Anteil der Antisemiten an der deutschen Bevölkerung unter die Fünf-Prozent-Grenze gefallen. Doch die Untersuchung fragt nicht jede Form des Antisemitismus ab.

In der jüngsten Leipziger »Mitte-Studie« mit dem Titel »Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland« fällt der Antisemitismus unter die Fünf-Prozent-Grenze. »Die Zustimmung zum Antisemitismus ist in der Tendenz insgesamt rückläufig«, schreiben die Autoren mit Blick auf die zurückliegenden Mitte-Studien, die alle zwei Jahre erscheinen.
Es gibt nur ein Problem: Die Studie misst nicht tatsächlich vorkommenden Antisemitismus, sondern nur sogenannten klassischen Antisemitismus. Der Kernteil der Studie besteht seit 2002 aus dem unveränderten »Leipziger Fragebogen zu rechtsextremer Einstellung«. Antisemitismus ist dort eine von sechs »Dimensionen«. Zu jeder Dimension gibt es drei Fragen, die die Befragten auf einer Skala mit fünf Antwortmöglichkeiten von »lehne völlig ab« bis »stimme voll und ganz zu« beantworten. Die Formulierungen in der Dimension Antisemitismus lauten »Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß«, gefolgt von »Die Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen« und schließlich »Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns«. All diese Fragen beschränken sich auf klassischen Antisemitismus, demzufolge die Juden eben mächtig und eigentümlich seien und mit »üblen Tricks« arbeiteten. Andere Formen des Antisemitismus werden außen vor gelassen. Zum modernen Antisemitismus findet sich keine einzige Frage. Dabei ist Antisemitismus – gerade in Deutschland – eine enorm flexible und wandelbare Ideologie. Der moderne Antisemitismus projiziert auf Israel, was er früher auf die Juden projizierte, hetzt gegen Banker, wo er früher nur Juden sah, und verfällt in ein verschwörungstheoretisches Geraune über »die da oben«, anstatt über »die Juden an den Machthebeln« zu schwadronieren. Der klassische Antisemitismus ist weit weniger verbreitet als andere Formen des Antisemitismus. Dadurch, dass die Studie sich auf diesen beschränkt, gelingt es ihr nicht, das reale Ausmaß des Antisemitismus aufzuzeigen. Andere Studien, die mit ihrem Fragenkatalog auch modernen Antisemitismus erfassen, kommen zu deutlich höheren Werten.
Doch selbst der Umgang mit den erhobenen Werten zum klassischen Antisemitismus ist fragwürdig. Der Aussage »Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß« stimmten beispielsweise 2,6 Prozent der Befragten »voll und ganz« und 8,4 Prozent »überwiegend« zu. Als »Zustimmung« zu dieser Dimension werden diese beiden Gruppen zusammengefasst mit knapp elf Prozent angegeben. Doch bei dieser Zahl wird eine weitere Gruppe der Antworten unterschlagen: 21,1 Prozent der Befragten stimmten der Aussage nämlich »teils zu, teils nicht zu«. Ist jemand der teilweise zustimmt, dass der Einfluss der Juden auch heute noch zu groß ist, kein Antisemit? Geht es nach der Leipziger Studie, ist er es nicht. Im Ergebnis führt das zu dem Eindruck, dass Antisemitismus in Deutschland kaum noch ein Problem wäre: 4,8 Prozent klingt nach nichts.
Gegenüber dem Tagesspiegel räumte Oliver Decker, einer der Verfasser der Studie, ein, man könne »in der Bevölkerung von einem antisemitischen Potential zwischen 20 bis 30 Prozent ausgehen«. Man habe sich auf das Abfragen der klassischen Ressentiments beschränkt, da der Schwerpunkt der Arbeit ein anderer gewesen sei. Doch warum man sich in einer regelmäßigen Befragung, mit der man unter anderem versucht, Antisemitismus zu erfassen, auf klassischen Antisemitismus beschränkt, ohne das kenntlich zu machen, bleibt unklar. Die Aussagekraft der Studie über Antisemitismus ist jedenfalls begrenzter, als sie sein müsste. Und Antisemitismus ist nicht so begrenzt, wie die Studie glauben macht.