Die EU hat ihre Chance bei vielen Briten verspielt

Drinnen und draußen

Warum Großbritannien am 23. Juni nicht aus der Europäischen Union ausgetreten ist, sondern es sich genau umgekehrt verhält.

Drei Tage waren seit Bekanntgabe der Entscheidung über das Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur EU vergangen, als die englische Mannschaft bei der Fußball-Europameisterschaft von Repräsentanten eines vorurbanen, vegetationslosen, trollgläubigen und verlässlich antizionistischen Inselkleinstaats besiegt wurde, in dem ein wollpullibewehrter, auf seine genetische Homogenität stolzer Volksstamm siedelt. Deutschland, autochthonen Bergvölkern- schon immer eher als transatlantischen Handelsvölkern zugetan, tobte vor Begeisterung. Von Jungunionisten bis zu Antideutschen herrschte helle Freude darüber, dass die Schnösel, Egoisten und Sonderlinge, die in der EU schon immer ihren Vorteil gesucht, die Union europäischer Staaten also unter der Maßgabe instrumenteller Vernunft statt als Schicksalsgemeinschaft angesehen haben, endlich nicht nur politisch, sondern auch sportlich ausgeschieden waren.
Man hatte sie ohnehin nie gemocht, die spinnerten Individualisten, die noch im abgelegensten Hochmoordorf weltgewandter wirken als jeder Berliner Hausbesetzer, die Fremde nicht zuerst nach ihrem Beruf oder ihrer ethnischen Herkunft, sondern nach ihrer Wanderroute oder ihrem Lieblingskrimiautor fragen, die Freundlichkeit nicht mit kommunikativer Gewalt und Distanz nicht mit Missachtung verwechseln. Geschieht etwas Unvorhergesehenes, kultivieren sie, statt die Apokalypse auszurufen, ihre Gärten; tritt eine Krise ein, bilden sie keine Banden, sondern sorgen ohne jede Panik dafür, dass die schlimmste Gefahr gebannt wird. Solche geozentrische Rosinenpicker, transusige Teetrinker und hinterwäldlerische Rosenzüchter, darin sind sich an­tinationale Linke mit der Kanzlerin einig, sollen lieber heute als morgen von der Bildfläche verschwinden, als dem Projekt Europa weiter Scherereien zu machen.
Dass sich nach dem Fußballsieg des genetisch homogenen Wollpullibergvolks auch der von griesgrämigen Karo­röcken binnen Jahrhunderten nicht mal halbwegs urbar gemachte Nordteil der britischen Insel, der seine einzigen Zivilisationsspuren englischer Industrie verdankt, von Großbritannien in Richtung EU bewegt, wird hierzulande mit entsprechend hämischer Zustimmung wahrgenommen. Denn auch dieser Landstrich, in dem Pflanzen so selten wie Gedanken gedeihen, ist eine europäische Region nach deutschem Geschmack: kein Panorama, dessen stille Betrachtung nicht durch Windradparks gestört würde; Ökologie, Genderfeminismus und Volksheilkunde als regionale Staatsräson; Multikulturalismus in jedem hundertprozentig kaledonischen Küstenkaff; und jeder, von der Steinkreise schützenden Kommunalpolitikerin bis zum patriotischen Grubenarbeiter, ist stolz auf seine lokale Beschränktheit.
Zentrum der Zustimmung zur EU innerhalb Großbritanniens aber war gerade nicht die Provinz, sondern die Hauptstadt. Nicht deshalb allerdings, weil sie Finanzzentrum ist, sondern weil in ihr mittlerweile die gleiche Klientel antikosmopolitischer Weltstädter die Mehrheit innehat, die das Leben in Berlin oder Paris so unerquicklich macht: freihandelskritische Geistesarbeiter, die jeden Vorschein von Weltbürgertum schon deshalb verachten, weil ein solches die Kulturen zu zerstören drohte, von deren Beackerung die postbürgerliche Mittelschicht lebt. Dazu passt der Protest der Jugend gegen die britische Abwendung von der EU, handelt es sich dabei doch nicht einfach um junge Leute, sondern um Angehörige der Kulturangestellten- und Freelancer-Generation, die von der supranationalen Entsorgung des britischen Liberalismus leben. Die Bremainers versammelten all diejenigen hinter sich, die von der durch Deutschland initiierten und durch die EU betriebenen Zerstörung politischer und ökonomischer Liberalität, parlamentarischer Repräsentation und individueller Freiheit profitieren, wie sie in Großbritannien im Unterschied zur EU nicht nur formell, sondern stets auch lebensweltlich Geltung besaßen.
Die Brexiteers dagegen gaben nicht einfach dem abgehängten, vorurteilsbefangenen Kleinbürgertum eine Stimme, sondern riefen in Erinnerung, was an Großbritannien gegenüber Kontinentaleuropa fortschrittlich ist und daher zwar nicht dem europäischen Geist, aber dem Ungeist der EU entgegensteht: den Wunsch, staatliche Souveränität, da ihre glückliche Aufhebung in weite Ferne gerückt scheint, zumindest nach Maßgabe von Nachvollziehbarkeit und Rationalität zu gestalten; die Weigerung, sich einem ­supranationalen Durchregieren zu beugen, das in Großbritannienverläßlicher noch als in Frankreich als Erbe deutscher Weltinnenpolitik erkannt wird; schließlich die Selbstverständlichkeit, dass die EU keine Schicksals-, sondern eine Vertragsgemeinschaft ist und Verträge kündbar sind. Mag die EU sich den Worten der Kanz­lerin folgend als Familie verstehen, der man nur um den Preis lebenslänglicher Ächtung den Rücken kehrt, was ein Vertrag ist, weiß jeder britische Kleinbürger besser als jeder Deutsche.
Selbst die Ressentiments britischer EU-Gegner gegen osteuropäische Binnenmigranten, die als Alibi dienen, um gegen die Inselbewohner zu agitieren, verweisen auf gesamtgesellschaftlich durchgesetzte Liberalität: Nur wegen seiner liberalen Passgesetze und seiner großzügigen Arbeitsrechts- und Einwohnermeldepolitik konnte Großbritannien zum bevorzugten Ziel europäischer Binnenmigranten werden. Vor allem polnische Einwanderer, die in ihren Berufen, oft als Handwerker oder Ingenieure, aufgestiegen sind, machen ihren britischen Kollegen längst nicht nur imaginäre, sondern reale Konkurrenz. Dass Briten auf ihre osteuropäischen Konkurrenten überhaupt neidisch sein können, verdankt sich keiner EU-Politik, die den Insulanern mühsam aufgezwungen worden wäre, sondern der Tatsache, dass Großbritannien bis heute ist, was Deutschland nie sein wollte – ein erfolgreiches Einwanderungsland.
Wenn die Briten angesichts der Migration nun anders als die Deutschen weder massenhaft Flüchtlingsheime in Brand setzen noch in begeisterter Präventivunterwerfung Gebetsteppiche ausrollen, so gilt diese Abwesenheit wahnhafter Affektausbrüche den Deutschen als Symptom von Kälte. Der Humanität ist solche Kälte aber näher als die deutsche Wärme, die sei es als Hass, sei es als Euphorie stets das Vorspiel zum Pogrom war.
Großbritannien ist nicht aus der EU ausgetreten, sondern umgekehrt: Die EU ist vom Vereinigten Königreich aus der beiderseitigen Partnerschaft entlassen worden, weil sie sich trotz wiederholt eingeräumter Bewährungsmöglichkeiten als unfähig erwiesen hat, den Maßstäben der Partnerschaft gerecht zu werden. Nicht Großbritannien ist draußen, sondern die EU, und das heißt zuvorderst: Deutschland. Da die europäischen Staaten nationale Souveränität genießen, kann aber auch jeder Staat, der sich mit den Briten einig weiß, die Partnerschaft mit dem Vereinigten Königreich wiederaufnehmen, indem er verteidigt, was in seiner Geschichte von Deutschland weg in Richtung Westen weist. Es entspräche durchaus britischem Humor, wenn den Anfang dazu Polen machen würde. Die Aufregung darf sich jedenfalls in Grenzen halten, solange nicht provin­zialistisches Ressentiment, sondern Verteidigung des Besseren der leitende Impuls ist. Schon G. K. Chesterton schrieb gegen die Deutschen gerichtet: »The true soldier fights not because he hates what is in front of him, but because he loves what is behind him.«