Islamismus auf den Philippinen

Geschäftsmodell Enthauptung

Die islamistische Terrorgruppe Abu Sayyaf ist seit Jahrzehnten
auf den Philippinen aktiv. Mittlerweile hat sie sich dazu bekannt,
den »Islamischen Staat« zu unterstützen.

Die Entführung liegt schon einige Monate zurück. Am 21. September 2015 entführte die islamistische Terrorgruppe Abu Sayyaf zwei Kanadier, einen Norweger und eine Filipina aus einem Urlaubsressort auf Samal. Die Insel liegt in Sichtweite der philippinischen Millionenstadt Davao und ist beliebt bei ausländischen und einheimischen Touristinnen und Touristen. Samal galt bis dahin als sicher. Es war ungewöhnlich, dass die Gruppe Abu Sayyaf (ASG) so weit entfernt von der Sulusee operierte, dem Grenzgebiet zwischen Indonesien, Malaysia und den Philippinen. Zwar macht die ASG seit zwei Jahrzehnten immer wieder mit spektakulären Entführungen – erinnert sei an die Entführung einer Touristengruppe mitsamt der deutschen Familie Wallert im Jahr 2000 – auf sich aufmerksam, doch hatte sich ihr Einzugsgebiet vor allem auf die Sulusee und das westliche Min­danao konzentriert. Allein in den vergangenen fünf Jahren hat sie 184 Geiseln genommen und im Jahr 2015 über drei Millionen Euro an Lösegeld eingenommen. Für die Freilassung der beiden kanadischen Geiseln soll die ASG 300 Millionen Peso (umgerechnet sechs Millionen Euro) gefordert haben.
Am 25. April wurde der abgetrennte Kopf einer Geisel auf einem Basketballfeld der Insel Jolo gefunden, nachdem die kanadische Regierung sich geweigert hatte, Lösegeld zu bezahlen. Am 13. Juni wurde die zweite kanadische Geisel enthauptet. Sie hatte kurz zuvor noch in einer Videobotschaft in orangefarbener Kleidung, die an die Gefangenen des »Islamischen Staats« (IS) erinnert, die beiden Regierungen um Unterstützung gebeten. Mitte Juni konnten Journalisten des Philippine Daily Inquirer mit der norwegischen Geisel telefonieren, für deren Freilassung die ASG nun 600 Millionen Peso fordert. Ob die Summe bezahlt wird, ist noch offen und somit auch das Schicksal der Geisel unklar.
Seitdem die US-amerikanischen Kolonialherren Anfang der 20. Jahrhunderts christliche Siedlerinnen und Siedler aus dem Norden des Landes nach Mindanao umsiedelten, erlebte die ansässige muslimische Bevölkerung viele Ungerechtigkeiten. Fehlende Landrechte führten zu Vertreibung und Ausbeutung der lokalen Ressourcen. Zusammen mit dem Mangel an politischer Teilhabe führte dies zur Gründung unterschiedlicher Unabhängigkeitsbewegungen im Westen Mindanaos, wie der Moro National Liberation Front (MNLF) und später der Moro Islamic Liberation Front (MILF).
Historisch gesehen ist Abu Sayyaf eine Abspaltung der MNLF. Als diese sich nach dem Ende der Diktatur Ferdinand Edralin Marcos’ 1986 von der Idee eines unabhängigen muslimischen Staates verabschiedete und sich mit einer stärkeren Selbstverwaltung in der neugegründeten Autonomen Region Muslimisches Mindanao (ARMM) zufriedengab, spaltete sich die ASG 1991 ab. Während MNLF und MILF politisch vom libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi geprägt wurden, der diese Gruppen auch logistisch sowie mit Training und Waffen unterstützte, radikalisierte sich Abu Sayyaf und forderte einen islamischen Staat. Ihr damaliger Anführer, Abdurajak Abubakar Janjalani, kämpfte unter anderem mit Ussama bin Laden im sowjetisch-afghanischen Krieg und wurde von diesem inspiriert. Die spätere ideologische Annäherung an al-Qaida war daher nur konsequent. Durch das militärische Vorgehen der philippinischen Regierung – auch aufgrund des politischen Drucks nach dem Scheitern einer schnellen Lösung im Fall der Entführung der Touristengruppe im Jahr 2000 – geriet die ASG in Schwierigkeiten.
Der letzte größere Terrorakt gegen die philippinische Zivilbevölkerung fand im Jahr 2004 statt, als die ASG eine Fähre in der Bucht von Manila in die Luft sprengte und 116 Personen tötete. Von 2003 bis 2006 intensivierten die philippinischen Streitkräfte zusammen mit US-Einheiten die Bekämpfung der Gruppe. Immer wieder verlor die ASG Führungskader. Noch heute sollen mehrere Tausend Soldaten in der Region stationiert sein, einige von ihnen sollen aber selber am Geiselnahme-Geschäft beteiligt sein. Lokale Politikerinnen und Politiker sowie die lokalen Gemeinden profitieren ebenfalls. Die ASG hat schätzungsweise 400 Mitglieder, deren Rückhalt in der Region sehr groß ist. Die Geiseln werden in der Regel auf einer der unzähligen Inseln der Sulusee versteckt. Die Hauptinseln Jolo, Basilan und Tawi-Tawi gehören zu den ärmsten Gegenden der Philippinen. Insgesamt knapp 1,5 Millionen Menschen leben dort, Einkommensquelle ist vor allem der Fischfang. Nach offiziellen Angaben liegt das Einkommen der Region 75 Prozent unter dem landesweiten Durchschnitt. Die Millionensummen aus Lösegeld, die in die Region fließen, bedeuten einen wichtigen, wenn nicht gar den wichtigsten Beitrag für die lokale Ökonomie, gleichzeitig fördern sie den Machterhalt der lokalen Warlords.
Im Juli 2014 veröffentlichte Abu Sayyaf erstmalig ein Video mit einem Bekenntnis zum IS. Darin war der ASG Anführer Isnilon Hapilon zu sehen, der seine Unterstützung für den IS und dessen Anführer, Abu Bakr al-Baghdadi, erklärte. Doch trotz dieser Botschaft haben sich die Aktivitäten beziehungsweise das Geschäftsmodell der Gruppe bisher nicht verändert. Auch einer zweiten Videobotschaft im Januar 2016 folgten keine Attentate im Stil des IS. Im Gegenteil, es scheint, als dienten die in der martialischen Durchführung und Dokumentation vom IS beeinflussten Enthauptungen von Geiseln, für die kein Lösegeld bezahlt wurde, einzig und allein der Schockwirkung. Für das Geschäftsmodell ist dies förderlich, da dies die bestmögliche Drohung darstellt, um die notwendige Aufmerksamkeit zu bekommen und die Lösegeldbeträge hochzutreiben.
Dennoch spekulieren philippinische Medien, ob der IS in der Sulusee ein Kalifat ausrufen könnte. Ein Grund dafür ist die gutdokumentierte Verbindung zur indonesischen Terrorgruppe Jemaah Islamiya (IL), die dem IS nähersteht und unter anderem für die Anschläge in Jakarta verantwortlich war. Sowohl eine finanzielle Kooperation als auch eine Zusammenarbeit beim Training von Kämpfern und im Bombenbau wurden nachgewiesen. Darüber hinaus wird vermutet, dass sich immer wieder Terroristen aus Nachbarländern im Gebiet der Sulusee verstecken.
Gleichzeitig zeigt die Geiselnahme von zehn indonesischen Fischern im März und weiteren vier Fischern im April, dass es der ASG nicht hauptsächlich um Ideologie und die gegenseitige Aufhetzung von Muslimen und Christen geht, sondern vor allem um Einnahmen aus den Geiselnahmen. Dies wiederum beunruhigt die Nachbarländer. Die indonesische Regierung hat auf die Geiselnahme der Fischer reagiert und als politisches Zeichen seine Kohleexporte ins Nachbarland ausgesetzt. 70 Prozent der verstromten Kohle auf den Philippinen kommen aus Indonesien, die Strompreise könnten ansteigen. Zudem kündigte Indonesien an, militärisch einzugreifen, sollten die Philippinen nicht die Sicherheit in ihren Gewässern garantieren können.
Bisher haben die philippinischen Regierungen vor allem auf militärische Mittel gesetzt, obwohl sich eine Lösung nicht abzeichnet. Die lokalen politischen Strukturen, die Mitgliedern einflussreicher Familien ermöglichen, als Warlords zu agieren, werden nicht angegangen. Die philippinische Geisel, die Ehefrau eines enthaupteten Kanadiers, wurde nicht zufällig vor dem Haus der Gouverneurs freigelassen, dem schon lange Zeit enge Kontakte zur ASG nachgesagt werden. Die Freilassung der Geisel soll dem neuen philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte zeigen, dass es einen Willen zur Zusammenarbeit gibt. Gleichzeitig aber auch, dass es blutig wird, wenn er sich in die Angelegenheiten einmischt. Während die Menschenrechte unter Duterte bereits durch die Ermordung von Kleinkriminellen und Drogendealern verletzt werden, ist andererseits bekannt, dass der Präsident und seine Berater gute Kontakte zu einigen Rebellengruppen halten.
»Mit Rodrigo Duterte als neuem Staatsoberhaupt aus Mindanao ist die Hoffnung groß, dass nun auch der Friedensprozess mit den verschiedenen muslimischen Gruppen voranschreitet«, bestätigt Lilli Breininger, Geschäftsführerin des Philippinen-Büros, das seit 30 Jahren die menschenrechtliche und sozioökonomische Entwicklung des Landes begleitet. Ein Gesetz, das der Region im westlichen Mindanao weitere Unabhängigkeit zugesteht und das ein Teil der Friedensabkommen mit der MILF ist, wird derzeit wieder im Parlament diskutiert. Fraglich sei allerdings, so Breininger, »ob die ASG überhaupt an Friedensgesprächen interessiert ist«.