Der Konflikt um das besetzte Haus in der Rigaer Straße in Berlin-Friedrichshain

Ein Haus macht Politik

Berliner Parteien und Politiker nutzen das Spektakel um das besetzte Haus Rigaer Straße 94, um sich im beginnenden Wahlkampf zu profilieren. Dem Urteil eines Berliner Gerichts zufolge war die Teilräumung des Gebäudes rechtswidrig.

Noch bevor der Wahlkampf in Berlin richtig anfängt, steht ein Dauerbrenner schon fest: das Thema Rigaer Straße. Vor drei Wochen räumte die Polizei Teile des besetzten Hauses Rigaer Straße 94. In der vergangenen Woche entschied die Zivilkammer des Berliner Landgerichts, dass die Teilräumung des Gebäudes rechtswidrig war, da weder ein Räumungstitel existiert hatte noch ein Gerichtsvollzieher während der Vollstreckung zugegen war. Innensenator Frank Henkel (CDU) kommentierte das Urteil nicht öffentlich. Er bekräftigte aber seine Ansicht, dass der Polizeieinsatz im Haus Rigaer Straße 94 Ende Juni aus Gründen der Gefahrenabwehr notwendig gewesen sei. Christoph Lauer, der innenpolitische Sprecher der Piratenfraktion, empfahl, Henkel solle »persönliche Konsequenzen ziehen«. Die Berliner Jusos forderten den Innensenator zum sofortigen Rücktritt auf. Das Landgericht ordnete an, die Räume bis zur endgültigen Klärung der Besitzverhältnisse wieder freizugeben.
Allerdings begannen Bauarbeiter gleich nach der Räumung damit, unter der Aufsicht eines privaten Sicherheitsdienstes und der Polizei die früheren Veranstaltungsräume zu Wohnungen umzubauen, die nach Angaben des Hauseigentümers, der britischen Firma Lafone Investment Ltd., an Geflüchtete vermietet werden sollten. Dieser zwischen dem Geschäftsführer John Dew­hurst und dem Berliner Innensenator Frank Henkel abgestimmte Coup verschärfte seit Ende Juni die ohnehin angespannte Lage im Nordkiez des Stadtteils Friedrichshain (Jungle World 26/16). Anwohner zeigten ihre Unterstützung mit täglichen Solidaritätsgesten, autonome Kleingruppen machten des Nachts in den umliegenden Stadtteilen Jagd auf teure Autos.
Das militante Vorgehen gehört zum Konzept »Tag X«, dessen Verfasser für den Fall der Räumung der Rigaer Straße 94, des Neuköllner Projektraums Friedel 54 oder des Kreuzberger Kiezladens M99 »Sachschäden in Millionenhöhe« angekündigt haben. Am Samstag der vergangenen Woche nahmen etwa 3 000 Menschen an einer Solidaritätsdemonstration in Friedrichshain teil, die von einem großen Polizeiaufgebot begleitet wurde. Im Verlauf der Demonstration kam es zu mehreren Zusammenstößen, etliche Demonstrierende wurden verletzt. Die Polizei ihrerseits sprach von 123 verletzten Beamten.
In dieser aufgeladenen Atmosphäre ist jeder neue Brandanschlag oder Polizeieinsatz ein mediales Ereignis. Die Frage des angemessenen Umgangs mit der Rigaer Straße 94 wurde deshalb schnell zu einem zentralen Streitpunkt der Berliner Innenpolitik. Die Regierungskoalition aus SPD und CDU ist in diesem Punkt uneinig. Innensenator Henkel verteidigt seine harte Linie in Hinblick auf das »Gefahrengebiet« im Friedrichshainer Nordkiez und die Teilräumung der Rigaer 94 vehement und fordert ein entschlossenes Vorgehen gegen »Extremisten aller Art«. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) wollte hingegen zunächst ausloten, »ob und wie man im Rahmen eines Deeskalationskonzeptes Gespräche suchen kann«. Nach den Ausschreitungen im Zuge der Solidaritätsdemonstration sah aber auch Müller von Gesprächen ab.
Christopher Lauer hatte zuvor Verhandlungen mit den Bewohnern der Rigaer Straße94 vorgeschlagen und einen Verzicht auf die Räumung sowie eine Entschädigung des Hauseigentümers und Investors angeregt. Sebastian Czaja, Spitzenkandidat der FDP für die Wahl zum Abgeordnetenhaus, hat den Runden Tisch »Rigaer Konsens« gegründet. Auch der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Benedikt Lux, hält Gespräche mit den Bewohnern der Rigaer Straße 94 für sinnvoll. Offenkundig ist, dass Berliner Parteien den Konflikt angesichts der bevorstehenden Wahlen im September zur Profilierung nutzen wollen.
Dabei ist die Lage manchmal unübersichtlich. So erschienen am Tag nach der Teilräumung Daten von Bewohnern der Rigaer Straße 94 auf dem Naziblog »Halle Leaks«. Unterstützer des Hauses vermuteten umgehend, dass »personelle Verknüpfungen der Einsatzkräfte mit organisierten Nazis« bestünden. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Abgeordnetenhaus, Ramona Pop, forderte Innensenator Henkel auf, sich angesichts dieses schwerwiegenden Vorwurfs »nicht wegzuducken«. Mittlerweile hat sich jedoch herausgestellt, dass die Daten nicht von den Polizeieinsätzen im Juni, sondern bereits aus dem Januar stammen. Damals war eine Auseinandersetzung zwischen angereisten Nazis und Bewohnern der Rigaer Straße 94 bei der Berliner Polizei angezeigt worden, die Anwälte der Nazis nahmen später diesbezüglich Akteneinsicht. Deshalb laufen zurzeit Ermittlungen wegen der unerlaubten Weitergabe der Daten. Nachdem diese Version der Geschichte bekanntgeworden war, verbat sich Henkel die »Kons­tru­ktion eines Polizeiskandals«. Die Diskussion über die exzessive Datensammlung der Polizei im sogenannten Gefahrengebiet rund um die Rigaer Straße ging im parteipolitischen Geplänkel unter.
Als eine Posse von groteskem Ausmaß erwies sich vor zwei Wochen zudem die Festnahme des vermeintlichen Autonomen Marcel G. Dieser war in Berlin-Lichtenberg bei dem Versuch gefasst worden, drei ältere Autos anzuzünden. Das Baujahr der Fahrzeuge und der Stadtbezirk waren jedoch eher untypisch für militante autonome Einzeltäter. Nachdem Henkel dem Landeskriminalamt reflexartig zum Fahndungserfolg gratuliert hatte, wurde der Festgenommene auf dem linken Medienportal Indymedia bezichtigt, ein Informant der Behörden zu sein. Bereits 2012 hatte G. gegenüber dem Hamburger Landeskriminalamt umfassende Angaben zur Rigaer Straße 94 gemacht, wobei er sich dem veröffentlichten Vernehmungsprotokoll zufolge auf Spekulationen und Zeitungswissen stützte. Dass sich G. zwischenzeitlich beim Pegida-Ableger Bärgida engagierte, überrascht da kaum noch. Die Berliner Polizei bestreitet, G. als V-Mann zu führen. Tatsächlich wäre es angesichts seines widersprüchlichen Werdegangs auch vorstellbar, dass G. vor der schillernden Kulisse des Berliner Wahlkampfs als Agent Provocateur in Eigenregie unterwegs war.