französische Debatte nach der Burkini-Verbotskampagne im Sommer

An der Realität vorbei

Ist die Burkini-Verbotskampagne Teil einer politischen Offensive
der französischen Rechten? Feministische Stimmen, die die Verbote öffentlich begrüßen, gibt es in Frankreich jedenfalls kaum.

Zwei Männer und eine grimmig dreinblickende Dame schreiten einher. Einer der Männer dreht sich um und bemerkt, dass niemand hinter ihnen geht. Dazu kommentiert er: »Sieh mal an, immer weniger Feministinnen folgen uns. Vielleicht fängt man an, es zu merken.« »Was denn?«, fragt der andere. »Dass wir die Laizität und die Frauenrechte für wahlpolitische Zwecke instrumentalisieren«, lautet die Antwort.
So sieht es der Zeichner Aurel, dessen Karikatur in Le Monde am 9. September erschien. Seine kritischen Zeichnungen sind vielleicht nicht besonders witzig, treffen aber meist den Nagel auf den Kopf. Allerdings dürfte er in diesem Fall in einem Punkt unrecht haben.
Von der innenpolitischen Kampagne der vergangenen Wochen, die sich auf das Symbol des Burkini konzentrierte, war der längst begonnene Vorwahlkampf – die nächste französische Präsidentschaftswahl findet im April und Mai 2017 statt, die Parlamentswahl dann im Juni – zwar zeitlich nicht weit entfernt. Aber es verhielt sich ähnlich wie bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern, bei der die Phantomdebatte über die Burka eine Rolle spielte, während ARD-Journalisten zwischen Ostsee und Neu­strelitz vergeblich nach Trägerinnen dieses Kleidungsstücks Ausschau hielten. Auch dort ging es inhaltlich um mehr: um das Einschlagen ideologischer Pflöcke. Die Stichworte lauten »Kulturkampf«, »Überfremdung« und »Identität«. Dabei berufen sich die Protagonisten auf ein so fremd oder so befremdlich wie möglich erscheinendes Symbol, das jedoch nur als pars pro toto dienen soll, um die sogenannte Überfremdungsgefahr in grellen Farben anzuprangern.
Der Artikel in Le Monde, den die beschriebene Karikatur illustriert, resümiert die Dinge auf ähnliche Weise wie Aurel: Frankreichs Feministinnen kritisieren fast geschlossen die Verbotskampagne, die einen Großteil der diesjährigen Sommerdebatte in ganz Frankreich füllte. Unter den von insgesamt rund 30 rechtsregierten französischen Kommunen verhängten Verbotsverfügungen fiel insbesondere das als Burkini bezeichnete Kleidungsstück. In der Stadt Villeneuve-Loubet hob das Oberste Verwaltungsgericht die Anordnung Ende August auf. Berichte über kommunale Polizeibeamte, die auch gegen andere ihnen »zu muslimisch« erscheinenden Textilien vorgingen, etwa einfache Kopftücher und sogar das Pareo einer nichtmuslimischen Frau in einem Schwimmbad in Vence, sorgten in den vergangenen Wochen für Aufsehen.
Ob es sich um profilierte Frauenrechtsvereinigungen wie Osez le féminisme (Den Feminismus wagen) oder Les Effrontées (Die die Stirn bieten) handelte, ob um den französischen Ableger der Femen-Bewegung, um prominente Aktivistinnen wie Caroline de Haas oder die Journalistin Caroline Fourest – nirgendwo haben französche Feministinnen Partei für die Verbote ergriffen. Ebenso wenig, wie sie sich für den Burkini als solchen begeistern mochten.
Melanie Götz führt Frankreich in ihrem Beitrag (Jungle World 36/16) dennoch als positiven Bezugspunkt an. Das Land, das ihr zufolge international Schmähkritik ernte, halte das Leuchtfeuer der Aufklärung hoch: »Wenn noch irgendwo Hoffnung auf gesellschaftliche Emanzipation und Aufklärung besteht, dann wohl doch gerade in Frankreich.« Das von ihr zitierte Titelbild von Charlie Hebdo zeigt nicht »die Justizministerin (vom) Parti Socialiste«, sondern den Journalisten Edwy Plenel, die Bildungsministerin und Regierungssprecherin Najat Vallaud-Belkacem sowie die grüne ehemalige Ministerin und mögliche Präsidentschaftskandidatin Cécile Duflot. Ähnlich wie die meisten feministischen Organisationen halten die drei genannten Prominenten wenig vom Burkini, sprechen sich jedoch gegen Verbote aus. Götz Darstellung spiegelt eine reichlich idealistische Wahrnehmung der derzeitigen französischen Gesamtsituation wider, die dem Realitätstest kaum standhält.
Als unmittelbaren »politischen Hintermann« der Serie von Verbotsbeschlüssen, die zwischen dem 28. Juli und Mitte August dieses Jahres gefasst wurden, bezeichnet die Website Memorial98 – die auf die Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus spezialisiert ist – Nicolas Sarkozy. Die Mehrheit der betreffenden Bürgermeister zählen zu dessen unmittelbarem Umfeld. Am 22. August, mitten in der heißen Phase der Burkini-Debatte, verkündete Sarkozy seine Bewerbung um die Präsidentschaftskandidatur seiner Partei. Die seinem Lager nahestehende Zeitung Le Figaro präsentierte ihn daraufhin als »Nicolas Sarkozy, Kandidat im Zeichen der französischen Identität«. Als Erstes forderte er das Ende des Familien- und Ehegattennachzugs und eine »drastische Reduzierung der Zahl der Ausländer in Frankreich«. Verbal übertrumpfte er in den vergangenen Wochen die Neofaschistin Marine Le Pen. Mit Laizismus hat das Ganze allerdings wenig zu tun, denn Sarkozy beschwört in seinen Reden etwa auch Frankreich als einen mystischen Leib, der »in einen langen Mantel aus Kirchen gekleidet« sei.
Auch der Bezirkspräsident des Départements Alpes-Maritimes (Hauptstadt Nizza), Eric Ciotti, unterstüzt die Verbotspolitik, ein Mann, der nach den jüngsten Terroranschlägen über die Frage eines Journalisten nach Rechtsstaatlichkeit höhnte: »Sie würden mir eine solche Frage nicht stellen, hätten Sie wie ich die Leichen am Strand von Nizza gesehen. Die reden nicht mehr vom Rechtsstaat.«
Die Verbotskampagne ist Teil einer politischen Offensive der französischen Rechten. Aus guten Gründen wollen Feministinnen und Menschen, die individuelle Freiheitsrechte verteidigen, sich nicht in solche Abgründe hinunterziehen lassen. Und aus ebenso gutem Grund gehen sie davon aus, dass Verbote und Stigmatisierung – wie auch in sonstigen Situationen – die menschliche Emanzipation nicht fördern. Man kann sich über die von manchen Musliminnen und Muslimen praktizierten Verhüllungsgebote kritische Gedanken machen, wie überhaupt alle religiösen Regeln für die Nichtgläubigen keine rationale Begründung finden können – ob nun Katholiken am Freitag kein Fleisch essen oder orthodoxe jüdische Frauen ihr Haar unter Perücken verstecken. Aber Religion, die in manchen Varianten politisiert ist und als autoritäres gesellschaftliches Programm dient, in anderen Versionen aber eher eine individuelle Jenseitshoffnung und die Suche nach Trost widerspiegelt, wird wohl kaum in naher Zukunft von der Erde verschwinden. In Europa ist die Mehrzahl der Menschen, man mag es bedauern oder nicht, auch 200 Jahre nach Aufklärung und industrieller Revolution nicht atheistisch geworden.
Im Fall der muslimischen Religion ist ebenso wenig damit zu rechnen, dass eine Mehrheit der Menschen in kurzer Zeit – und auf herrische Anordnungen hin, mögen sie von Manuel Valls oder Paulette Gensler (Jungle World 34/16) kommen – ihre Glaubensvorstellungen ablegt. Erst recht nicht, seit gerade diese Religion in den Augen manchen ihrer Anhänger zu einer Art Widerstands­ideologie geworden ist, was nur unmittelbar aus dem historischen Kontext der Kolonialisierung heraus erklärbar wird. Verbote und Zwang werden daran schlichtweg nichts ändern.