Proteste gegen Korruption und Machtmissbrauch in Marokko

Hogra macht noch keinen Aufstand

In Marokko gab es nach dem Tod eines Fischverkäufers landesweit Proteste gegen Polizeiwillkür und Machtmissbrauch. Sie erinnern an die Aufstände des »arabischen Frühlings« vor mehr als fünf Jahren, doch vom Umsturz der Verhältnisse ist kaum die Rede.

Es ist ein milder Herbstabend im Badeort Essaouira an der marokkanischen Atlantikküste, der sonst stetig wehende Wind hat sich gelegt, graue Wellen schwappen an die Festungsmauern, die die Altstadt umgeben. Familien mit Kindern, Rucksacktouristen und Pärchen schlendern vom Strand zurück. Auf dem Hauptplatz vor dem Eingang zum Hafen bleiben manche einen Moment stehen. Etwa 200 Menschen haben sich dort versammelt, Männer, viele Frauen, einige Kinder, man hört sie rhythmisch rufen. Einige Touristen kommen neugierig näher – eine Tanzvorführung? Dann sehen sie die wenigen, eilig gemalten Schilder, wenden sich desinteressiert ab und gehen weiter. Dabei ist das Ereignis vor dem Hafen durchaus eine kleine Sensation: Im ganzen Land demonstrieren an diesem Sonntag Menschen wegen des Todes eines Fischverkäufers im Norden des Landes – Kundgebungen gibt es in der Hauptstadt Rabat, in Casablanca, Marrakesch und selbst im weit entfernten Essaouira. Die Medien sprechen von den größten Demonstrationen seit 2011, als auch Marokko vom »arabischen Frühling« angesteckt wurde und die Jugend des Landes auf die Straße ging.
Damals waren zunächst in Tunesien Proteste ausgebrochen, nachdem sich der Straßenhändler Mohammed Bouazizi aus Protest gegen die Beschlagnahmung seiner Ware selbst verbrannt hatte. Die Proteste weiteten sich zu ­einem Aufstand in der ganzen Region aus: Tunesiens Diktator Zine al-Abi­dine Ben Ali musste gehen; Mitte Februar 2011 wurde in Ägypten Präsident Hosni Mubarak gestürzt. Auch in Marokko wurde daraufhin zu Demonstrationen aufgerufen, in mehr als 50 Städten gingen die Menschen am 20. Februar 2011 auf die Straße – der Beginn der »Bewegung 20. Februar«, die eher sanfte marokkanische Variante der Aufstände in der arabischen Welt.
Fünf Jahre später ähnelt der Auslöser für die Proteste denen in Tunesien: In der nordmarokkanischen Stadt Al Hoceima kam der Fischverkäufer Mouhcine Fikri, Anfang 30, in einem Müllauto grausam zu Tode. Medienberichten zufolge war er am Abend des 30. Oktober in eine Kontrolle geraten. Die Beamten fanden Schwertfisch bei ihm, eine geschützte Art, die zu dieser Zeit nicht gefangen werden durfte. Als sie den Fisch in ein Müllauto warfen, um ihn zu vernichten, sprang Fikri hinterher und wurde von der Presse zerquetscht. Ein Video des Vorfalls sowie ein Foto der entstellten Leiche verbrei­teten sich in sozialen Netzwerken, die »Bewegung 20. Februar« und weitere Gruppen riefen zu Demonstrationen auf. Tausende Menschen folgten am Sonntag dem Beerdigungszug des »Märtyrers« Fikri und versammelten sich am Abend erneut zu einer Demonstration.
Es verwundert nicht, dass sowohl in der internationalen Presse als auch in Marokko selbst sofort Bezug auf den Beginn der Proteste von 2011 genommen wurde. »Mouhcine Fikri ist jetzt der Mohammed Bouazizi Marokkos«, hieß es auf Twitter. »Wie 2011 in Tunesien zeigen die Menschen ihre Wut.« Beide Männer hatten vom illegalen Verkauf von Waren gelebt, auch wenn sich die Lebensumstände beider wohl unterschieden haben: Bouazizi hatte mangels anderer Erwerbsmöglichkeiten versucht, mit einem Handwagen Gemüse auf der Straße zu verkaufen. Die 500 Kilogramm Schwertfisch, die die Polizei bei Fikri und seinen Begleitern fand, waren an die 10 000 Euro wert. Was beide eint und zum Symbol werden ließ, ist die willkürliche und entwür­digende Behandlung durch die Staatsvertreter, insbesondere die Polizei. Diese Erfahrung, die unzählige Menschen der Region teilen, wird hogra ­genannt, der Begriff steht für Willkür und den Machtmissbrauch der Polizei, aber auch für die Lage weiter Teile der vor allem jüngeren Bevölkerung, die wegen hoher Arbeitslosigkeit und grassierender Korruption keine Zukunftsperspektive hat und häufig die Erfahrung macht, als überflüssig und wertlos betrachtet zu werden und gegenüber der Staatsmacht weitgehend rechtlos zu sein. Bouazizi wurde vor seiner Selbstverbrennung öffentlich von einer Polizistin geohrfeigt. Der Hashtag, unter dem nach Fikris Tod zum Protest aufgerufen wurden, war »Zerquetscht seine Mutter«. Das soll einer der Polizisten dem Fahrer des Müllautos zuge­rufen haben, als Fikri in den Wagen sprang, um seine Ware zu retten.
Dass nun, fünf Jahre nach dem »arabischen Frühling«, erneut Proteste aus ähnlichem Anlass ausbrechen, zeigt, dass viele der Probleme keineswegs ­gelöst sind: Die Arbeitslosigkeit, gerade unter Jugendlichen, ist weiterhin hoch. Die Kluft zwischen einer kleinen Schicht, die von Privatisierungen und wirtschaftsliberalen Umstrukturierungen der vergangenen Jahre profitiert hat, und vielen anderen, die dadurch noch mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden, ist auch in Marokko größer geworden. Aus den ländlichen Gegenden strömen die Armen in die Städte. Dort hat die Gentrifizierung eingesetzt, Investoren aus den Golfstaaten und Europa bauen Luxusresorts und Eigentumswohnungen für zahlungskräftige Kunden. Dass für die sozialen Probleme weiterhin eine Lösung aussteht, zeigt sich auch daran, dass es seit 2011 immer wieder zu Selbstverbrennungen kam, zuletzt zündete sich im April eine Straßenverkäuferin an, nachdem die Polizei ihren Kuchen beschlagnahmt hatte.
Dass es deshalb zu einem »marokkanischen Frühling« oder auch nur einer Ausweitung der Proteste kommt, ist dennoch höchst unwahrscheinlich. Die »Bewegung 20. Februar« existiert nur noch in Form einzelner Zusammenschlüsse und in den sozialen Netzwerken. Sie hatte schon während ihres ersten Jahres an Mobilisierungskraft verloren. Der Schulterschluss zwischen gebildeten Prostestierenden und den städtischen und ländlichen Armen gestaltete sich schwierig, im Dezember 2011 zog sich zudem die in ärmeren Schichten einflussreiche islamistische Gruppe »Gerechtigkeit und Wohlfahrt« aus der Bewegung zurück. Auch in den vergangenen Jahren protestierten immer wieder einzelne Gruppen, Hochschulabgänger, Arbeitslose, Lehrkräfte oder Ärzte – aber sie forderten Arbeitsplätze oder neue gesetzliche Regelungen, keine Änderung der politischen Verhältnisse. Das herrschende Königshaus hat sich als strategisch klüger erwiesen als andere Regierende der Region, es setzte weniger auf Repression denn auf Dialog mit den Protestierenden. Selbst zu Hochzeiten der Proteste richteten sich diese nicht gegen das Königshaus, das weiterhin die wirtschaftliche und politische Macht im Land besitzt. König Mohammed VI., der seit 1999 an der Macht ist, gilt als Reformer, er reagierte rasch: Schon im März 2011 kündigte er Neuwahlen an, bereits im Juli wurde in einem Referendum eine neue Verfassung beschlossen. Sie gestand der Regierung und dem Parlament mehr Rechte zu, ohne die zentrale Rolle des Königshauses anzutasten.
Auch im Fall der jüngsten Proteste reagierte der König schnell. Gerade auf Staatsbesuch in Tansania, schickte er einen Gesandten nach Al Hoceima, um der Familie zu kondolieren, und versprach eine rasche Aufklärung des Vorfalls. Elf Männer wurden festgenommen. Ob tatsächlich geklärt wird, wer den Befehl gab, die Müllpresse anzuschalten, ob es tatsächlich zu Verurteilungen kommen wird? Die Proteste ­jedenfalls sind bereits nach zwei Tagen abgeflaut. Nur in Al Hoceima erinnerte eine Woche später noch eine Demons­tration an den Getöteten.
Die meisten derer, die nun protestiert haben, sei es in Al Hoceima oder in anderen Städten, haben auch mit Nachdruck betont, dass sie nur Gerechtigkeit für den Getöteten wollen – nicht mehr. Zwar skandierten die Demonstrierenden bei den Protesten in Al Hoceima Parolen gegen die Polizei, ja sogar gegen den Königshof, den Makhzen. Doch die Demonstrationen dort waren stark von Lokalpatriotismus geprägt. »Makhzen, hör zu, das Rif erniedrigt man nicht«, riefen die Demonstrierenden. Al Hoceima liegt im Rif, einer unzugänglichen Bergregion im Norden Marokkos. Die ansässige Berberbevölkerung hat eine lange Geschichte des Widerstands, sie kämpfte in den zwanziger Jahren gegen die Kolonialmacht Spanien und gründete eine eigenen Republik. Nach der Unabhängigkeit schlug König Hassan II., der ­Vater des derzeitigen Königs, Aufstände im Rif blutig nieder. Das Misstrauen gegenüber der Staatsmacht ist in der Region tief verwurzelt, auch 2011 war die Region um Al Hoceima ein Zentrum der Proteste.
Aber gerade die Berber gehören zu den Gewinnern der jüngsten Reformen. Denn auch wenn die Machtverhältnisse nicht grundlegend verändert wurden, ist immerhin die Berbersprache Tamazight offiziell zur Amtssprache gemacht worden, die Kultur der Berber wurde als nationales Erbe anerkannt, das es zu schützen gilt. Auf jedem öffentlichen Gebäude, an jeder Straßenbahnhaltestelle ist nun die Bezeichnung auch in Tamazight zu lesen, ­offizielle Dokumente werden übersetzt. Das mag ein symbolischer Akt sein – aber für eine Bevölkerungsgruppe, die jahrzehntelang unter Diskriminierung und brutaler Unterdrückung gelitten hat, sind solche Symbole durchaus von Bedeutung.
Und schließlich ist 2016 nicht 2011. Damals herrschte Aufbruchstimmung in der Region, die Entwicklungen in Tunesien und Ägypten schürten die Hoffnung, dass die Aufstände mehr Demokratie und Freiheit nach Nordafrika und in den Nahen Osten bringen würden. Diese Hoffnung ist verflogen. In Syrien herrscht ein blutiger Bürgerkrieg, in Ägypten sind die Repression und die Wirtschaftskrise schlimmer als vor dem Aufstand. Libyen droht zu zerfallen, islamistische Gruppen und Terrormilizen haben sich in der ganzen Region ausgebreitet. Marokko ist eines der wenigen Länder der Region, in dem noch weitgehend sichere Verhältnisse herrschen, und das wissen die Marokkaner. Mit seinem Weg der vorsichtigen Reformen ist das Land bisher besser gefahren als jene Länder, in denen ein rascher Sturz der Staatsführung zu einem Machtvakuum geführt hat. Stabilität, ein wenig mehr Freiheit und die Hoffnung auf einen leichten wirtschaftlichen Aufschwung sind angesichts dessen, was in den Nachbarstaaten herrscht, bereits ein zu hohes Gut, als dass die meisten Marokkanerinnen und Marokkaner es aufs Spiel setzen würden.