Die deutsche Ausgabe von "Charlie Hebdo"

Dreh zum Universalismus

Die »Titanic« erhält Konkurrenz: »Charlie Hebdo« startet die deutsche Ausgabe mit Merkel auf dem Titel.

Es ist soweit. »Charlie Hebdo provoziert jetzt auch auf Deutsch«, titelte die Nachrichtenseite von T-Online vorige Woche. Spaß muss sein, aber muss man denn gleich provozieren? Beim lokalen Charlie-Dealer, einem Eckladen für Kippen, Alkohol und Zeitschriften in Kreuzberg, den ein Pärchen mit türkischem Migrationshintergrund betreibt, liegt ein ganzer Stapel der ersten deutschen Aus­gabe des weltweit umstrittensten Satiremagazins mit dem Garantiestempel: »Ohne Hakenkreuz, ohne Pickelhaube«. Mit 200 000 Exemplaren ist die anfängliche Auflage enorm hoch.
Es war also nichts mit dem Triumph der jihadistischen Killer nach dem Gemetzel in der Pariser Redaktion, wo sie zwölf Personen erschossen und anschließend behauptet hatten: »Wir haben Charlie Hebdo getötet.« Das Magazin lebt und es expandiert – und die deutschsprachige Ausgabe sei »ein Grund mehr, nach Deutschland zu kommen«, heißt es unter einer Zeichnung von lachenden Flüchtlingen, die sich in das Blatt vertiefen.
Wie funktioniert Charlie Hebdo auf Deutsch? Etwa drei Viertel der ersten Ausgabe bestehen aus Comic-Strips, Zeichnungen, Karikaturen und ­Artikeln, die aus der französischen Nummer übersetzt wurden. Das Editorial über Fidel Castro und François Fillon von Riss stellt die Frage: Wer übernimmt die Fackel der Revolution in Zeiten, in ­denen »nicht mehr die goldene Zukunft« die Massen begeistert, »sondern die glorreiche Vergan­genheit oder was man dafür hält«? Yann Dieners wöchentliche Kolumne »Väterchen Sigmunds ­Geschichten« – erraten, Psychoanalyse! – dreht sich diesmal um das Kamel und das neurotische Symptom.
Die Kolumne Jacuzzi schreibt Philippe Lançon, ein französischer Journalist mit dem Spezialgebiet lateinamerikanische Literatur, dem bei dem Attentat auf Charlie Hebdo ins Gesicht geschossen wurde. Er erzählt darin über seine Operationen, seinen Alltag im Krankenhaus, die Menschen, die sich um ihn kümmern und ihn pflegen, seine Reha, die Fortschritte und Rückfälle bei seiner ­Genesung und die Gedanken, die sein Leben seit jenem 7. Januar 2015 bestimmen. Es sind Einblicke in die Welt der modernen Chirurgie, angereichert mit politischen und persönlichen Reflexionen und Ausflügen in die Literaturgeschichte.
Dann geht es um alles, was Sie noch nie über Sex wissen wollten. In Catherines Strip »Szenen aus dem Hormonhaushalt« etwa um das Single-Leben mit all seinen Irrungen und Wirrungen; diesmal findet sich unter dem Titel »Furz« eine unerschrockene Darstellung des Knäuels aus Körperfunk­tionen, bescheuerten Gedanken und aufblitzenden Triebregungen, die niemandem fremd sind – mit sozusagen kathartischem Fremdschämeffekt. Der Strip »Lili et Lala« behandelt die Abenteuer zweier lebenslustiger Teenie-Mädchen (diesmal: »Liebe auf den ersten Blick.« – »Auf nach Syrien! Das Land der geilen Typen«), die nicht immer erwartungsgemäß verlaufen. Etwa weil der schwarzvermummte geile Typ auf einem Bild in der Zeitung, dem die Liebe auf den ersten Blick galt, sich nicht als syrischer Jihadi, sondern als französischer ­Antiterrorpolizist entpuppt.
Eine besondere Spezialität von Charlie Hebdo sind die Reportagen, die nicht mit Fotos, sondern mit Zeichnungen illustriert sind. Manchmal sind es klassische Reportagen aus der Arbeitswelt, beispielsweise über die Maloche in den Abwasser­kanälen von Paris, diesmal – die deutsche Ausgabe verpflichtet – geht es um die Frage »Wer lebt glücklich in Deutschland?«. Porträts mit symptomatischen Statements von Schauspielerinnen, Angestellten, einem tunesischen Straßenverkäufer, einem Reeder, Ökobauern, einem Antifa und so weiter. Bildtechnisch ähnlich funktioniert die wöchentliche Gerichtsreportage, eine Art Kurzkrimi in Schwarzweiß: Tat, Täter, Urteil, fertig.
Ein Highlight ist oftmals das Interview, in dem Säkulare aus aller Welt oder Typen mit bizarren Lebensläufen wie der ehemalige Psychoanalytiker, der sich in den USA zum Sniper ausbilden ließ, zu Wort kommen. In der ersten deutschen Ausgabe äußert sich Bo Frank, seit 25 Jahren konservativer Bürgermeister der schwedischen Stadt Växjö, der »grünsten Stadt Europas«, über die von ihm ein­geleiteten Maßnahmen gegen den Klimawandel, die ein wenig ins Autoritäre abgleiten. Mit »Gulag in Grün: Växjö macht’s vor« wird das Interview auf der Titelseite angekündigt.
Damit ist zugleich die Programmatik des Blatts umrissen: gegen autoritäre und regressive Tendenzen aller Art, sei es der Notstand in Frankreich, die Faschisierung bei Rechten und die Stalinisierung bei Linken, die Rückkehr des religiösen Obskurantismus, die Ausbreitung des Jihadismus und die Versuche, diesen kaltlächelnd zu ignorieren, die misogynen Bewegungen in aller Welt. Und immer ein Dreh zum Universalismus. Das ist angesichts der Verhältnisse, zu denen diese unsere Welt tendiert, provokativ genug, um zur Emanzipation beizutragen. Ob die Deutschen reif für den uni­versalistischen Humor von Charlie Hebdo sind, wird sich anhand der Käuferzahlen zeigen.