Der Kampf für Klima­gerechtigkeit ist antinational

Ende Gelände für das Modell Deutschland

Auch für die antinationale und ideologiekritische Linke ist die Bewegung für Klimagerechtigkeit anschlussfähig. Die Kampagne »Ende Gelände« lädt zur Beteiligung ein.

Gitarrenzirkel, Barfußlaufen, Wursthaare – Hippiekacke! Schlimmer noch: Klimaschutz ist doch auch Heimatschutz, und das geht natürlich gar nicht. So oder ähnlich dürften Teile der Linken auf den Aufruf zum Klimacamp voriges Wochenende im Rheinland reagiert haben, der ersten »Ende Gelände«-Aktion seit der erfolgreichen Besetzung des Vattenfall-Tagebaus in Welzow-Süd an der Lausitz mit über 3 500 Menschen im Mai vorigen Jahres.
Unser Konter auf diese Vorwürfe war schon immer: Klimaschutz ist ein linkes Grundanliegen, denn beim Klimaschutz geht es nicht primär um die »Umwelt«, nicht um die mehr oder minder kuschelige Megafauna in der Arktis (sprich: Eisbären) – uns geht es um Menschen. Menschen, die unter die Räder eines maßgeblich dank dem Verbrauch fossiler Brennstoffe funktionierenden Kapitalismus geraten, Menschen, die üblicherweise im »globalen Süden« leben, üblicherweise people of colour sind und zumeist nur sehr wenig zum Klimawandel beigetragen haben. Es geht also um Gerechtigkeit, um Klimagerechtigkeit, und wenn Gerechtigkeit und das gute Leben für alle keine linken Anliegen sind, was dann?

Angesichts der rasant steigenden Faschismusgefahr an verschiedenen Orten der Welt, angesichts von AfD und »America First«, von Putin und »Islamischem Staat«, können wir verstehen, wenn antinationale oder ideologiekritischen Linke andere Prioritäten setzen – statt sich dem Klimawandel oder der Braunkohle zu widmen, könnten wir ja zum Beispiel besser versuchen, Deutschland, das »miese Stück Scheiße«, wie das antinationale Bündnis »Ums Ganze« sich auszudrücken pflegt, ganz und endgültig abzuschalten.

Und da sind wir uns gar nicht so unähnlich. »Ende Gelände« fordert einen sofortigen Ausstieg aus der Braunkohle, aus zwei Gründen: Erstens ist die Braunkohle der dreckigste aller fossilen Brennstoffe, also ein zentraler Treiber des Klimawandels und mithin eine zentrale Ursache für immer mehr Ungerechtigkeit in der Welt. Zugleich aber ist der Kampf gegen die Braunkohle auch ein Kampf gegen die neue deutsche Vormachtstellung in Europa und der Welt.
An dieser Stelle wird die Sache für antinationale oder ideologiekritische Linke vielleicht doch noch interessant: Die Braunkohle hängt von jeher stark mit der Industrialisierung und mithin dem Großmachtprojekt Deutschlands zusammen. Bei der Industrialisierung gehörte die Energieerzeugung durch die Kohle zusammen mit der Stahlherstellung und der Dampfmaschine zum sogenannten industriellen Dreieck: Eine Innovation in einem Bereich machte sprunghafte Fortschritte in den anderen möglich. Als Deutschland begann, seine internationale ökonomische und politische Vormachtstellung auf- und auszubauen, wurde es zu einem der Länder, die den Klimawandel verursachten. Auch heutzutage noch basiert das Bergrecht, auf dessen Grundlage Menschen enteignet werden, um Braunkohle zu fördern, auf einer 1934 beschlossenen Verordnung. Während des Nationalsozialismus sollte dieses Recht die nationale Energieversorgung – insbesondere der energieintensiven Kriegsindustrie – sicherstellen. Die nationale Kohleversorgung war Teil der Grundlage der deutschen Aufrüstung; zum einen im Westen, wo neben der Steinkohle in der Ruhrregion die Braunkohle, die immer noch im Rheinland abgebaggert wird, das Projekt Deutschland vorantrieb; zum anderen im Osten, wo die Flöze in der Lausitz und im Leipziger Revier Strom produzierten.

»So weit, so mäßig interessant«, tönt es regelmäßig aus der antinationalen und ideologiekritischen Ecke. Und was hat das mit dem derzeitigen deutschen Öko-Party-Patriotismus zu tun, der uns von den durchgestylten public relations des Merkelismus immer wieder präsentiert wird? 

Zweierlei: Zum einen basiert das deutsche Exportmodell zu erheblichen Teilen weiterhin auf Kohleenergie. Während die Stromproduktion durch erneuerbare Energien immer weiter ansteigt, werden die Kohlemeiler im Rheinland und in der Lausitz nicht etwa abgestellt. Deutschland exportiert den überschüssigen Strom ins Ausland. Während die Stromhandelsbilanz bis zur Jahrtausendwende weitestgehend ausgeglichen war, gab es im Jahr 2015 einen deutschen Exportüberschuss von 2,07 Milliarden Euro. Zwischen 2005 und 2015 wurden aus dem Export von Strom Einnahmen von über 13 Milliarden Euro erzielt. Der Stromexportüberschuss stieg 2016 auf etwa 51 Terawattstunden, ungefähr anderthalb Mal so viel wie Dänemark pro Jahr verbraucht. Die deutsche Stromindustrie wächst auf Kosten des Klimas und der Nachbarländer. In diesen sieht man den exzessiven deutschen Stromexport kritisch, weil er dort Gaskraftwerke vom Netz drängt und die Energiewirtschaft gefährdet. Zudem können dank des subventionierten Billigstroms energieintensive Industrien hierzulande deutlich billiger produzieren als im Ausland und sind deshalb im internationalen Vergleich übermäßig konkurrenzfähig beziehungsweise schlichtweg bevorteilt. Wie auch in anderen Wirtschaftsbereichen vergrößert die deutsche Industrie den heimischen Wohlstand auf Kosten der Nachbarländer und des Klimas auf geradezu imperiale Weise.

Deutschland verbrennt mehr vom schmutzigsten aller fossilen Energie­träger als Indien, Polen und fast jedes andere Land auf der Welt.

Zum anderen trägt der Mythos, Deutschland sei ein Vorreiter in Sachen Umweltpolitik, sei sozusagen »Ökoweltmeister«, erheblich zu seiner internationalen soft power bei. Die im Ausland und hierzulande weit verbreitete Fehlannahme, dass Deutschland beispielsweise schon einen allgemeinen Kohleausstieg beschlossen habe, dass es den Großteil seines Stroms aus erneuerbaren Energien beziehe und in Sachen Energiewende und Klimaschutz ganz vorne sei, stützt maßgeblich Deutschlands Image als gute und aufgeklärte Vorreiternation. Dass über Deutschland auch im Sommer Märchen erzählt werden, das Land sich nach außen als kuscheliges Aufnahmeland für Flüchtlinge und als letztes Bollwerk einer Politik der Aufklärung präsentiert, ermöglicht erst die realen rüstungs-, migrations- und wirtschaftspolitischen Untaten, die hierzulande organisiert werden. Dazu gehört auch Angela Merkels Versuch, jeden internationalen Gipfel, dem sie vorsteht, zu einem Klimagipfel zu machen – um von Deutschlands Handelsüberschuss und seiner verheerenden Währungs- und Finanzpolitik in Europa abzulenken. Dabei ist es in Wahrheit so, dass Deutschland nicht Weltmeister bei den erneuerbaren Energien ist – hierzulande kommt ein knappes Drittel des Stroms aus Wind, Sonne und Biomasse, weniger als aus der Kohle –, sondern ganz vorn beim Abbaggern und Verfeuern von Braunkohle: Deutschland verbrennt mehr vom schmutzigsten aller fossilen Energieträger als Indien, Polen und fast jedes andere Land der Welt.

Die Kampagne »Ende Gelände« lenkt die Aufmerksamkeit auf die skandalöse Politik, für die Deutschland verantwortlich ist, schickt die Bilder der Klimazerstörung um die Welt und zeigt, dass das deutsche Sauberfrauimage mehr Schein als Sein ist. Gelingt die Verbreitung dieser Botschaft, schränken wir den Handlungsspielraum Deutschlands auf internationaler Ebene ein und öffnen die Diskussion für überdeckte Themen wie die Handelsbilanz.

Nach den Klimaaktionstagen Ende August wird sich die nächste Möglichkeit, Deutschland in aller Weltöffentlichkeit bloßzustellen, bei der Klimakonferenz COP23 ergeben, die im November in Bonn stattfinden soll – pikanterweise unter der Präsidentschaft der Fidschi-Inseln, die akut vom klimawandelbedingten Verschwinden bedroht sind. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Ein absaufender Inselstaat sitzt einer Konferenz vor, die wegen Platzmangels auf ebenjenen Inseln  in einem Land stattfindet, das zu den führenden Verursachern des Klimawandels gehört. »Ende Gelände« will am 5. November die Aufmerksamkeit der Medien nutzen, um der Welt zu zeigen: Deutschland ist tatsächlich ein mieses Stück Scheiße. Klingt das nach Hippies? Nein, eher nach einer Strategie für global gerechtere Verhältnisse. Gemeinsam wollen wir Deutschland runterfahren.

Tadzio Müller und Insa Vries gehören zur Pressegruppe der Kampagne »Ende Gelände«, die vom 24. bis 29. August im Rheinischen Braunkohlerevier ein »Klimacamp« organisiert hat. Dort wurde auch zu zivilem Ungehorsam aufgerufen. Am Camp nahmen etwa 4000 Menschen teil.