Merkel als System. Europäische Stimmen zum deutschen Wahlkampf

Das große Nichts

Die Bundeskanzlerin steht für viele Beobachter aus dem Ausland für politischen Stillstand. Das »System Merkel « gefällt vielen nicht, gilt aber als alternativlos.

Ausländische Korrespondenten haben es nicht leicht, wenn in Deutschland Wahlen anstehen. Die Reaktionen nach der Debatte zwischen Angela Merkel und Martin Schulz am 3. September zeigten das wieder einmal deutlich. Gelangweilt, fast resigniert klangen viele Stimmen aus dem europäischen Ausland. Es war »eines der deprimierendsten politischen Erlebnisse meiner Laufbahn. Und ich habe den Brexit gecovert«, twitterte etwa der Korrespondent des Economist in Berlin, Jeremy Cliffe. »In Deutschland ist die politische Debatte von einer Ruhe gekennzeichnet, die einen fast zum Verzweifeln bringt«, schrieb Nils Minkmar in Le Monde, bei der Libération nannte seine Kollegin Nathalie Versieux die »konsensuellen Debatten« im deutschen Wahlkampf, »trostlos, wie ein Tag ohne Brot«.

Dankbar wurde in den vergangenen Wochen jede Entgleisung aufgenommen, die einen Bericht über den deutschen Wahlkampf rechtfertigte, ob es nun die Nazi-Rede von Björn Höcke in Dresden war, die schwarz ­beschäftigte Haushaltshilfe von Alice Weidel oder Alexander Gaulands Stolz »auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen«.

Entsprechend dankbar wurde in den vergangenen Wochen jede Entgleisung aufgenommen, die einen Bericht über den deutschen Wahlkampf rechtfertigte, ob es nun die Nazi-Rede von Björn Höcke in Dresden war, die schwarz ­beschäftigte Haushaltshilfe von Alice Weidel oder Alexander Gaulands Stolz »auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen«. Am Ende mussten aber viele ausländische Beobachterinnen und Beobachter wie Ana Carbajosa, die Korrespondentin des spanischen El País, feststellen, dass nicht einmal die AfD mit ihrer mittlerweile durchschaubaren Strategie des kalkulierten Tabubruchs ein wenig Bewegung in den deutschen Wahlkampf bringen konnte: »Es ist Merkel, die den pragmatischen Ton dieser Kampagne vorgibt«, so Carbajosa. Sie stellt fest: Die deutschen Parteien sind kaum voneinander zu unterscheiden.

Die gähnende Leere in der deutschen politischen Debatte, darin sind sich viele ausländische Kommentatorinnen und Kommentatoren einig, hat einen Grund, und dieser Grund heißt Angela Merkel. Über deren Herausforderer wird nicht sehr viel geschrieben, und wenn, dann allenfalls um zu erklären, warum er von Anfang an so chancenlos erschien. Im italienischen Corriere ­della Sera heißt es zum Beispiel: »Die Kanzlerin reagiert nicht auf seine ­direkten Angriffe (…). Martin Schulz attackiert sie frontal, sie antwortet nicht einmal darauf, zitiert ihn nie, und wenn sie das tut, dann um zu sagen, dass sie ihn schätzt.

Jeder Angriff versandet so und Frau Merkel bleibt un­beirrt im Vorteil.« Für diese Strategie, deutliche Stellungnahmen zu kontroversen Themen zu vermeiden, um die potentiellen Wähler des politischen Gegners nicht zu mobilisieren, nutzen Politologen bereits seit der Bundestagswahl 2009 den Begriff der »asymmetrischen Demobilisierung« – Machterhaltung durch Stillstand. Die Politikerin Merkel wird zwar für ihre Nüchternheit allgemein bewundert, besonders in Ländern, die eine ganz andere politische Streitkultur kennen. Aber »wie gesund ist ein Wahlkampf, der einen einzigen Kandidaten hat?«, fragt sich der italienische Korrespondent, der nicht der Einzige ist, der die Bundestagswahlen als eine bloße administrative Angelegenheit sieht.

Anders als 2013, als viele Europäer glaubten, die Bundestagswahl werde auch die Geschicke der EU bestimmen, suchen internationale Medien einen Europabezug im deutschen Bundestagswahlkampf diesmal vergeblich. Damals, mitten in der Euro-Krise, wurde Deutschlands dominante Rolle in der europäischen Krisenverwaltung noch kontrovers diskutiert, oft heftig kritisiert. Nicht nur der Euro, sondern ­Europa scheint aus der deutschen politischen Debatte verschwunden zu sein. Noch im November, nach dem Wahlsieg Donald Trumps, war Angela Merkel vor allem von britischen und US-amerikanischen Medien als »Anführerin der freien Welt« bezeichnet worden. Dem widerspricht Natalie Nougayrède im britischen Guardian. »Im deutschen Wahlkampf gibt es ­wenig Aufmerksamkeit für Europa, ganz zu schweigen vom Rest der Welt«, schreibt sie und sieht an diesem Punkt Ähnlichkeiten ausgerechnet mit Großbritannien: »Die Deutschen betreiben Nabelschau, weil es ihnen gut geht. Deutschland ist das größte, wohlhabendste und mächtigste Land in ­Europa und auch das politisch stabilste unter den Big Players auf dem Kontinent. Wie die Briten, aber aus völlig anderen Gründen, haben die Deutschen Urlaub vom Rest der Welt genommen.«