Bei DGB und SPD wird über das Hartz-IV-Sanktionsregime diskutiert

Ein Jein zu Sanktionen

Ob die bisherige ALG-II-Sanktionspraxis gegen das Grundgesetz verstößt, wollte das Bundesverfassungsgericht nicht vor der Bundestagswahl entscheiden. Im DGB gibt es widersprüchliche Positionen zum staatlichen Sanktionsregime.

Die Zahlen sind stattlich: Die Jobcenter sprachen im vergangenen Jahr fast eine Million Sanktionen gegen Bezieher von ALG II aus und verweigerten diesen deshalb 175 Millionen Euro an Leistungen. Eine ebenfalls stattliche Summe gab die Bundesregierung im Juni auf Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sabine Zimmermann (»Die Linke«) an: In den vergangenen zehn Jahren zahlten die Jobcenter demnach sanktionsbedingt 1,9 Milliarden Euro nicht an die Leistungsberechtigten aus. Schon lange kritisieren Erwerbsloseninitiativen und Sozialverbände die Sanktionierung als Verstoß gegen die Menschenwürde und damit als verfassungswidrig. Diese Einschätzung teilt das Sozialgericht Gotha. Es folgte 2015 der Argumentation eines Klägers, den das Jobcenter Erfurt zweimal für jeweils drei Monate mit dem Entzug von Leistungen belegt hatte.

Dem Urteil zufolge hat der Gesetzgeber mit Hartz IV das physische und soziokulturelle Existenzminimum festgelegt. Die Grundrechte auf Menschenwürde, Leben und körperliche Unversehrtheit verlangten, dass diese Grundsicherung nach Bedürftigkeit zu gewähren sei und die Gewährleistung nicht vom Wohlverhalten der Bezieher abhängig gemacht werden dürfe.

In den vergangenen zehn Jahren zahlten die Jobcenter sanktionsbedingt knapp zwei Milliarden Euro nicht an die Leistungsberechtigten aus.

Die Gothaer Richter wendeten sich deshalb mit einer Eingabe an das Bundesverfassungsgericht, welchem damit zum ersten Mal die Frage der Verfassungskonformität der Sanktionen von einem Sozialgericht vorgelegt wurde.

Das Bundesverfassungsgericht lehnte es jedoch wegen eines Formfehlers zunächst ab, sich mit der Eingabe zu beschäftigen, und verwies den Fall zurück ans Sozialgericht Gotha. Dieses verabschiedete prompt einen erneuten Vorlagebeschluss an das Bundesverfassungsgericht, das daraufhin entschied, sich mit dem Fall zu beschäftigen. Es will Ende des Jahres die Arbeit aufnehmen.

Für Kontroversen sorgt das Verfahren trotzdem schon. Denn das Verfassungsgericht hat wie üblich Stellungnahmen von sachkundigen Organisationen eingeholt. Neben Darstellungen der Bundesregierung, der Agentur für Arbeit und des Städte- und Landkreistags, die die bisherige Sanktionspraxis verteidigen, liegen dem Gericht 13 andere Gutachten vor, deren Verfasser schwere verfassungsrechtliche Bedenken äußern. Neben dem Deutschen Sozialgerichtstag und dem Deutschen Anwaltsverein gehören vor allem Sozialverbände zu den Verfassern kritischer Stellungnahmen, darunter auch der Sozialhilfeverein Tacheles.

Dieser veröffentlichte im Juni sowohl sein eigenes Gutachten als auch die Stellungsnahmen anderer befragter Organisationen auf seiner Internetseite. Wenig begeistert von diesem Schritt zeigte sich der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), der ebenfalls von den Verfassungsrichtern befragt worden war. Er verlangte, seine Stellungnahme aus dem Netz zu nehmen. In dieser rügt der DGB die Sanktionen als Verstoß gegen die Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot. Er spricht von einem »Sanktionsregime« und fordert ein sofortiges Moratorium sowie ein Ende der bisherigen Sanktionspraxis.

Dass der DGB diese Ansicht vor der Bundestagswahl nicht allzu laut vertreten wollte, dürfte den unterschiedlichen Einschätzungen zu dieser Frage im DGB ebenso geschuldet sein wie der Rücksichtnahme auf die SPD. Während die Stellungnahme für das Bundesverfassungsgericht von der DGB-Rechtsabteilung stammt, äußerte sich der Bundesvorstand des DGB 2015 noch ganz anders. Die damalige Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) sprach sich damals für eine Entschärfung der Sanktionen für Menschen unter 25 Jahren aus. Die Linkspartei brachte hingegen einen Antrag zur Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen in den Bundestag ein. Zur Antragsberatung im Sozialausschuss des Bundestages wurde auch der DGB gehört. Er sprach sich ausdrücklich gegen die Abschaffung der Sanktionen sowie gegen ein Sanktionsmoratorium aus und unterstützte den Vorschlag der Arbeitsministerin.

Der DGB war selbst mit zwei Vertretern an der Hartz-Kommission und der Ausgestaltung des Sanktionsregimes beteiligt. Dass er dieses nun erstmals gänzlich ablehnt, kommt einer Kehrtwende gleich. Das bringt die SPD in Bedrängnis, die unbeirrt an der Agenda-Politik festhält und auf das enge Verhältnis zu den Gewerkschaften angewiesen ist. Nicht nur bei der Hartz-IV-Sanktionspraxis, sondern auch bei der umstrittenen Neuregelung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und beim Freihandelsabkommen Ceta unterstützte der DGB in den vergangenen vier Jahren die Sozialdemokraten – trotz Protesten der Basis. Es bleibt abzuwarten, ob sich daran mit einer SPD in der Opposition etwas ändern wird.