Schwere Auseinandersetzungen zwischen Migrantengruppen in Calais

Schüsse in Calais

Bei heftigen Auseinandersetzungen zwischen Migrantengruppen wurden 22 Personen verletzt. Möglicherweise waren Territorial­konflikte von Schleppern der Auslöser.

Die Grenze hält, doch Spannungen ­aller Art eskalieren: So lassen sich die französische Grenzsicherungspolitik in Calais – und anderswo am Ärmelkanal – sowie ihre Auswirkungen zusammenfassen. Zu Wochenbeginn schwebten in Calais vier junge eritreische Staatsangehörige nach Angaben aus dem Krankenhaus noch immer »zwischen Leben und Tod«. Am Donnerstag voriger Woche hatten sie bei heftigen Zusammenstößen, an denen vor allem afrikanische Migranten überwiegend aus Eritrea auf der einen Seite und afghanische Staatsbürger auf der anderen beteiligt waren, lebensgefährliche Schussverletzungen erlitten. Am selben Tag fanden Auseinandersetzungen zwischen Migrantengruppen an insgesamt drei Orten entlang des Ärmelkanals, in Calais und im Umland, statt. Dabei wurden 22 Personen verletzt. Ferner erlitten zwei Migranten am Freitagabend Stichverletzungen bei einer Auseinandersetzung in Grande-Synthe, wo sich vor allem Kurden und andere Menschen aus dem Irak aufhalten.

 

Bei der Auseinandersetzung gehe es vermutlich um Territorialkonflikte zwischen sogenannten Schlepperbanden, vermutet die Polizei.

 

Die zuständige Staatsanwaltschaft in der Küstenstadt Boulogne-sur-Mer vernahm bis zum Wochenende bereits ein Dutzend Zeugen zu dem gefährlichsten der Vorfälle. Der Kampf, in dessen Verlauf mindestens eine Schusswaffe benutzt wurde, fand auf einem Parkplatz in der Nähe eines Krankenhauses in Calais statt. Dort sind normalerweise eher afghanische Flüchtlinge präsent, während die afrikanischen Migrantengruppen sich vor allem in einem Industriegebiet in der Dünenzone von Calais aufhalten. Am Donnerstag fand auf dem Parkplatz jedoch eine Essensausgabe an eritreische Geflüchtete statt.

Die Ermittlungsbehörde vermutet, dass der Schütze sich gezielt an Ort und Stelle begeben hatte, um seine Schusswaffe zu benutzen, denn ihrem Einsatz scheint keine Schlägerei vorausgegangen zu sein. Im Nachhinein gingen rund 150 Menschen aus Nordostafrika auf etwa 20 afghanische Staatsangehörige los. Nach dem mutmaßlichen Schützen, einem unterschiedlichen Angaben zufolge 27- oder 37jährigen Afghanen, wird derzeit ­gefahndet.

Die Onlinezeitung Mediapart zitierte am Freitag voriger Woche eine nicht näher bezeichnete polizeiliche Quelle mit den Worten, bei der Auseinandersetzung gehe es vermutlich um Territorialkonflikte zwischen sogenannten Schlepperbanden. Der zitierte Polizist zog einen Vergleich mit den oft bewaffnet ausgetragenen Konflikten, mittels derer Dealerbanden in Marseille ihre Claims abstecken. Die Mittelmeerstadt ist berüchtigt für solche Kämpfe im Drogenmilieu, da sie auf den Import­routen – über Italien und über Spa­nien – konkurrierender Mafiagruppen liegt. In Calais fassen ebenfalls mafiöse Gruppen Fuß, ihr Betätigungsgebiet liegt jedoch fast ausschließlich darin, Möglichkeiten zur Überfahrt auf die britischen Inseln anzubieten – oder das zumindest vorzugeben. Im einen wie im anderen Fall ist es letztlich die Prohibitionspolitik, die einen Markt für mafiaähnlich agierende Gruppen schafft: Können Bedürfnisse von Menschen mit legalen Mitteln nicht be­friedigt werden, nehmen sich kriminielle Gruppen der Sache an.

In das sogenannte Schlepperwesen sind am Ärmelkanal oft Personen verwickelt, die selbst frühere Geflüchtete sind. Von Frankreich ins Vereinigte Königreich zu gelangen, sei es im Bauch von Fährschiffen oder in LKW, die im Hafen von Calais auf Schiffe verladen werden oder auf Zügen den Eurotunnel durchqueren, ist das Ziel von Migrantengruppen vom Horn von Afrika, aus dem Sudan, dem Irak, Afghanistan und anderen Ländern. Etwa, weil Familienangehörige bereits im Vereinigten Königreich leben, oder auch, weil sie über englische Sprachkenntnisse verfügen. Es spielt auch die Vermutung eine Rolle, in England oder Schottland sei der Arbeitsmarkt für Illegalisierte offener.

 

Hoffnung auf eine Zukunft in England

 

In den Augen mancher Migranten wird die Hoffnung auf eine Zukunft in England wohl auch zur fixen Idee jenseits dort real bestehender Chancen. Nicht ­zuletzt wollen viele einer drohenden Überstellung aus Frankreich in eines der drei Mittelmeerländer ­Spanien, Italien und Griechenland entgehen, das sie bei der Einreise in die EU ­zuerst betreten haben. Allerdings ist auch das Vereinigte Königreich Mitgliedsstaat des Dublin-III-Abkommens von 2013; diesem zufolge ist grundsätzlich derjenige Mitgliedstaat, in dem eine geflüchtete Person erstmals EU-Territorium betritt, für das Asylverfahren zuständig – eine Regelung, die die Zahl der Asylverfahren in den Kernländern ohne Außengrenze reduziert.

 

Anonym berichtete ein Bereitschaftspolizist Mitte Januar in der Zeitschrift L’Ebdo, er sei wiederholt dazu eingesetzt worden, Schlafsäcke mit CS-Gas zu besprühen oder anders unbrauchbar zu machen.

 

Anlässlich der Räumung des großen, als »Jungle« bezeichneten Flüchtlings­camps in Calais im Oktober 2016, nach der etwa 10 000 Menschen über das übrige Frankreich verteilt wurden, hatte die französische Regierung den Betroffenen versprochen, sie könnten zwischen einem Asylantrag in Frankreich und einer freiwilligen Ausreise wählen. Von der Dublin-Verordnung betroffene Migranten wurden jedoch schnell ins Rückführungssystem, vor allem zwischen Frankreich und Italien, überstellt. Dies betraf zunächst vor allem sudanesische Staatsangehörige.

Derzeit stockt die sogenannte Rücküberstellung aus Frankreich nach Ita­lien jedoch. 38 Migranten, vor allem Sudanesen sowie ein Eritreer, stellten am 11. Januar im südwestfranzösischen Pau eine Strafanzeige gegen unbekannt wegen von Folter- und Misshandlung; die Vorwürfe richten sich gegen italienische Polizeibedienstete und -behörden. Ein Ermittlungsverfahren wurde eingeleitet. Am 26. Januar verbot daraufhin ein Verwaltungsgericht in derselben Stadt die Rücküberstellung eines Sudanesen nach Italien gemäß der Dublin-Verordnung aufgrund einer drohenden Grundrechtsverletzung des an der Sammelklage Beteiligten.

Einige Monate nach der Evakuierung aus Calais kehrten einige Flüchtlinge dorthin zurück. Derzeit ­leben dort nach Angaben der Präfektur, der Vertretung des Zentralstaats auf Bezirksebene, zwischen 550 und 600, NGOs zufolge rund 800 Geflüchtete; sie alle wollen nach Großbritannien gelangen. Nachdem das fast zwei Jahre bestehende Großcamp zerstört wurde, übernachten sie nun in kleinen Gruppen im Freien, im Unterholz umliegender Wälder.

Am 16. Januar kam Staatspräsident Emmanuel Macron nach Calais, um sowohl eine NGO, die Geflüchtete unterstützt, als auch dort stationierte Polizisten zu besuchen. Zunächst lobte er die Beamten, kündigte jedoch auch an, im Falle illegaler Übergriffe auf Migranten werde es keine Toleranz geben.

Von solchen Übergriffe wurde in jüngster Vergangenheit immer wieder berichtet: Am Tag vor Macrons Besuch stellten mehrere Hilfsorganisationen, unter ihnen Secours catholique und L’Auberge des migrants, Strafanzeige wegen der systematischen Zerstörung lebensnotwendiger Gegenstände wie Schlafsäcken und Decken. Im Dezember hatten die Vereinigungen 700 Schlaf­säcke verteilt, auf die ihr jeweiliges Symbol aufgenäht war, und die Migranten Leihverträge unterzeichnen lassen. Dadurch können sie sich nun auf ihr Besitzrecht berufen und als Kläger auftreten. Die Polizei lässt solche Gegenstände oft beschlagnahmen oder zerstören. Anonym berichtete ein Bereitschaftspolizist Mitte Januar in der neu gegründeten Zeitschrift L’Ebdo, er sei wiederholt dazu eingesetzt worden, Schlafsäcke mit CS-Gas zu besprühen oder anders unbrauchbar zu machen. Der Fehler liege nicht bei der Polizei, sondern »im System«, fügte er hinzu. In 15 Jahren vor Ort habe er nicht einmal Gelegenheit gehabt, mit einem Geflüchteten zu sprechen.

Einigen NGOs warf Macron vor, sie handelten »unverantwortlich« und »begünstigten dadurch die illegale Migration«. Bislang hatten französische Regierungen humanitäre Hilfsorganisationen nicht derart offen kritisiert, sondern sie zumeist ignoriert und de facto gewähren lassen. 48 Stunden nach seinem Auftritt in Calais hielt Macron sich in London auf und unterzeichnete dort mit der britischen ­Premierministerin Theresa May ein Abkommen, das die »Vereinbarungen von Le Touquet« von 2004 fortschreibt. Demnach werden die auf die südliche Seite des Ärmelkanals vorgelagerten Grenzkontrollen für das Vereinigte Königreich beibehalten, die britische ­Regierung zahlt jedoch 50,5 Millionen Euro zusätzlich dafür.