Marco Bras Dos Santos, Sprecher der Gefangenengewerkschaft GG/BO, über schlechte Haftbedingungen und Gegenwehr

»Die Antiknastbewegung ist nicht tot«

Interview Von Simon Duncker

Die GG/BO setzt sich für bessere Arbeitsbedingungen in deutschen Gefängnissen ein, vertritt aber auch andere Interessen und Rechte von Häftlingen. Sie wurde 2014 in der Justizvollzugsanstalt Tegel gegründet und hat die Rechtsform eines nicht eingetragenen Vereins. Marco Bras dos Santos hat mit der »Jungle World« über Haftbedingungen und das Engagement der Gefangenengewerkschaft gesprochen.

In deutschen Gefängnissen herrscht Arbeitspflicht. Wie wird sie durchgesetzt?
Die Arbeitspflicht besteht in mindestens zwölf von 16 Bundesländern. Die Gefangenen sind in der Regel froh, wenn sie aus der Zelle herauskommen und sich im Betrieb bewegen können. Also gibt es oft gar nicht viel zu erzwingen. Sollte dennoch jemand keinen Bock haben, dann gibt es Sanktionen wie den Einschluss. Das bedeutet, dass während des Aufschlusses die Zellentür nicht geöffnet wird, so dass man sich nicht frei auf Station bewegen kann. Es können auch Fernseher oder Telefone entzogen werden.

Insassen gelten nicht als Arbeitnehmer, weil ihre Arbeit als Resozialisierungsmaßnahme eingestuft wird. Was für Auswirkungen hat das auf die Arbeitsbedingungen?
Das führt dazu, dass Arbeitnehmerinnen, wie wir sie definieren, keinen Anspruch auf volle Sozialversicherung, insbesondere Renten- und Krankenversicherung, haben. Auch der gesetzliche Mindestlohn greift nicht. Zudem trifft das uns als Gewerkschaft, weil die Justizministerien deshalb sagen, dass wir gar keine richtige Gewerkschaft seinen.

Das Oberlandesgericht Hamm bestätigte 2015 die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit von Gefangenen nach Artikel 9, Absatz 2 Grundgesetz. Hat sich seitdem etwas getan?
Es hat sich nichts getan. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Organisationsgrad in den Haftanstalten und Bundesländern sehr unterschiedlich ist. In Sachsen sind wir sehr gut organisiert. Wir haben keine Probleme mit der Postkontrolle. Auch das Werben von Mitgliedern wird uns nicht unmöglich gemacht. In Bayern dagegen haben wir das Problem, dass selbst unsere Post nicht in die Gefängnisse gelangt. In der Frauen-JVA in Chemnitz haben wir erreicht, dass die Anstaltsleiterin uns jetzt als Organisation anerkennt. Die Frauen haben auf jeder Station Sprecherinnen gewählt, die alle zwei Wochen eine Gewerkschafterinnenversammlung abhalten, was sehr produktiv ist, weil viele Probleme, von denen wir draußen gar nicht so viel mitkriegen, intern geklärt werden können. Sollte etwas intern nicht zu regeln sein, dann gibt es Öffentlichkeitsarbeit nach draußen.

Sie agieren als Gewerkschaft »drinnen« und »draußen«. Wie funktioniert das?
Wir begreifen uns als solidarisches, anarchosyndikalistisch organisiertes Kollektiv. Das heißt, es gibt keine Weisungsbefugnisse und keinen Chef. Jeder Knast oder jede Station kann sich als autonome Gewerkschaft zusammen- und der GG/BO anschließen, die drei zentrale Ziele verfolgt: volle Gewerkschaftsfreiheit hinter Gittern, damit wir als anerkannte Gewerkschaft arbeiten können, gesetzlicher Mindestlohn und volle Sozialversicherung, das heißt Kranken- und Rentenversicherung. Zudem gibt es noch unser Selbstverständnis, das sich klar gegen Rassismus und Frauenfeindlichkeit ausspricht. Wer diese Voraussetzungen anerkennt, kann Mitglied bei uns werden. Vornehmlich machen das Menschen im Knast, aber auch Menschen draußen, die sich mit den Zielen identifizieren können und Soligruppen bilden. Letztere halten Kontakt zu den Gefangenen und leisten Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie parlamentarische ­Arbeit.

Gibt es eine Zusammenarbeit mit konventionellen Gewerkschaften?
Die Funktionäre klassischer Gewerkschaften interessieren sich nicht sehr für uns. Die Jugendorganisationen der Gewerkschaften sind uns gegenüber hingegen sehr aufgeschlossen und wollen permanent Veranstaltungen mit uns machen. Da besteht schon ein ­lockerer, guter Kontakt, aber eine richtige Zusammenarbeit gibt es nicht. Die einzige kooperierende Gewerkschaft ist die anarchosyndikalistsiche Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU). Wir unterstützen uns gegenseitig bei Aktionen und Demonstrationen, zum Beispiel jetzt zum Frauenkampftag in der JVA Chemnitz.

Wofür setzt ihr euch noch ein?
Das ist ganz vielfältig, weil alles, was im Betrieb oder in der Organisation anfällt, grundsätzlich thematisiert werden kann. Das sollte im Hinblick auf die drei Ziele erfolgen. Aber es kommen auch ganz andere Dinge hinzu, zum Beispiel medizinische Versorgung und Aufschlusszeiten. Teilweise haben wir auch das Paradoxon, dass sich Gefangene für die Rechte von Bediensteten einsetzen. Da sagen wir als Soligruppe manchmal: »Das geht jetzt ein bisschen zu weit.«

Außerdem haben wir noch ein weiteres Argument für die Entlohnung von Gefangenen entdeckt: die entgangene Lohnsteuer. Bis auf vier Bundesländer haben wir Fraktionen aller Landesparlamente instruiert, kleine Anfragen darüber zu stellen, wie viele Arbeitsstunden tatsächlich geleistet wurden und wie sich das unter Berücksichtigung des Mindestlohns auf die Lohnsteuereinnahmen ausgewirkt hätte. 42,5 Prozent geht an die Länder, 42,5 Prozent an den Bund und 15 Prozent an die Gemeinden. Für die JVA in Zeithain haben wir ausgerechnet, dass der Gemeinde im Jahr über 900 000 Euro Lohnsteuereinnahmen entgehen. In Sachsen und Hamburg wurden kleine Anfragen eingereicht. Andere Bundesländer könnten folgen. Denn das sind Unsummen, um die der Staat gebracht wird.

Knäste sind durch sogenannte Kurzzeithäftlinge oft überbelegt, die eine Freiheitsstrafe verbüßen, weil sie Bußgelder nicht zahlen können oder wollen. Das sind vor allem illegal eingereiste Flüchtlinge und Schwarzfahrer. Unterstützt ihr Bestrebungen, diese Ersatzfreiheitsstrafe abzuschaffen?
Wir hatten vor gut einem Jahr wegen des Personalmangels in den Gefängnissen viele Presseanfragen. Wir haben uns damals dazu hinreißen lassen, mehr Personal für nachhaltigen Vollzug zu fordern, was intern stark kritisiert wurde. Im Laufe der Diskussion sind wir zu der Meinung gelangt, dass es einfach weniger Inhaftierte geben sollte. Eine unserer diesbezüglichen Forderungen ist tatsächlich auch der Erlass von Kurz- und Ersatzfreiheitsstrafen. Die zweite Forderung ist die nach Auslastung und Ausbau des offenen Vollzugs. Denn wenn Gefangene tagsüber arbeiten, einem ganz normalen Leben nachgehen und abends in die JVA kommen, hat das Personal auch weniger zu tun. Die dritte Forderung ist eine interne Umstrukturierung, damit tatsächlich mehr Personal für die Gefangenen da ist. Zurück zu der Frage: Die Forderung ist ganz klar sinnvoll. Wir sind froh, dass sie inzwischen breiteren Anklang gefunden hat.

Die Suizidraten in Gefängnissen sind sehr hoch. Längere Zeit sanken sie zwar, sind seit 2013 aber wieder angestiegen. Was ist der Grund?
Gerade in der Untersuchungshaft sind das sehr hohe Zahlen, weil da natürlich dieser Knastschock kommt. Wenn man ins Gefängnis muss und nicht genau weiß, wie es weitergeht, und ob man da länger drinbleiben muss, kann das ­einem schon den Boden unter den Füßen wegreißen. Die Strafe ist eigentlich das Weggeschlossensein. Deshalb ist es gesetzlich vorgeschrieben, dass das Leben drinnen dem Leben draußen so weit wie möglich anzugleichen ist. Dazu gehört auch ein angenehmes Umfeld. Das heißt die Leute sollen telefonieren können, Besuche empfangen können, sich bilden können, Tageszeitungen, Bibliotheken und Freizeitangebote nutzen können. Das ist machbar und kostet nicht sehr viel.

Die Antiknastbewegung ist tot. Aber müssten Knäste nicht grundlegend reformiert werden, um dem Resozialisierungsideal zu genügen?
Die Antiknastbewegung ist nicht tot. Wir nutzen das Gewerkschaftsmodell, um konkrete Ziele zu verfolgen, aber sind im Kern größtenteils Antiknast­aktivistinnen. Das klingt wie ein Paradox. Der Verfassungsschutz würde uns wahrscheinlich als »radikale Reformisten« bezeichnen. Wir versuchen durchaus, die Frage nach Alternativen zu stellen. Mit dem ehemaligen Anstaltsleiter und Juristen Thomas Galli haben wir einen prominenten Vertreter, der diese Frage auf ein bürgerliches Tableau hebt. Dass wir eine Diskussion angestoßen haben, zeigt der Vorschlag, Kurz- und Ersatzfreiheitsstrafen zu erlassen. Es bedarf jedoch einer breiteren und grundsätzlicheren Debatte. Was gibt es für Alternativen? Ich persönlich weiß es auch nicht. Aber uns allen ist klar, dass der Knast keine besseren Menschen macht.